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Karl Liebknecht 19151221 An die Neunzehn

Karl Liebknecht: An die Neunzehn!

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/33. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 456 f.]

Zur Erklärung der neunzehn Kreditverweigerer im Reichstag1

21. Dezember 1915

I

Werter Genosse!

Die heute von Geyer vorgetragene Erklärung entbehrt der aggressiven Schärfe und der prinzipiellen Klarheit; sie begründet die Abstimmung in erster Linie aus der zufälligen gegenwärtigen Kriegslage und den Vorgängen vom 9. Dezember; sie grenzt an eine Anerkennung der Politik des 4. August 1914; sie enthält Wendungen, die z. B. der französischen Fraktionsmehrheit ein Argument zur Fortsetzung ihrer bisherigen Kriegspolitik bieten, der französischen Minderheit Schwierigkeiten machen und – bei Umschwung der Kriegslage – den Umfall der deutschen Fraktionsminderheit vorbereiten können; sie ist nur schwer mit dem Zimmerwalder Beschluss2 in Einklang zu bringen.

Ich möchte diesen Vorbehalt noch einmal aussprechen und weiter hervorheben:

So erfreulich und wertvoll die heutige Abstimmung der Zwanzig und die Tatsache der Abgabe einer Erklärung im Plenum ist, sie wird – zumal bei dem Inhalt der Erklärung – ihre Bedeutung erst durch die weitere Politik dieser Genossen erhalten. Nur wenn sie durch diese Politik als Kundgebung des entschlossenen Willens zur Aufnahme des Klassenkampfs, zur grundsätzlichen Zerstörung des parlamentarischen Burgfriedens gekennzeichnet wird, wird sie mehr sein als eine „schöne Geste". Eine konsequente, unerbittliche Opposition im Reichstag, u. zw. gegen den Willen der Fraktionsmehrheit, ist das „Gebot der Stunde", dieser Stunde.

Versagen hier die Zwanzig, so verdammen sie sich selbst zur Ohnmacht, ihre Ohnmacht wird offenbar, ihr aufkeimender Einfluss auf die Massen geht zum Teufel, und Fraktionsmehrheit wie Regierung werden in Zukunft parlamentarisch stärker sein als vor dem 21. Dezember 1915.

Mit Parteigruß

Ihr Karl Liebknecht

1 Geyer gab die Erklärung der Fraktionsminderheit auch im Namen Karl Liebknechts ab, obwohl dieser von deren letzten Fassung keine Kenntnis erhalten hatte. Karl Liebknecht schrieb in „Betrachtungen und Erinnerungen aus ,großer Zeit'": „Eine öffentliche Verwahrung dagegen einzulegen, schien mir nicht am Platze. Ich meinte den Eindruck einer beabsichtigten Einspännerei vermeiden zu müssen. Ich richtete jedoch sofort am 21. Dezember an die übrigen Neunzehn ein Schreiben, in dem ich meine Stellung zu der Erklärung präzisierte." (Karl Liebknecht: Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, S. 437.)

2 Vom 5. bis 8. September 1915 fand in Zimmerwald (Schweiz) die erste internationale sozialistische Konferenz der oppositionellen Antikriegskräfte der zusammengebrochenen II. Internationale statt. Von 38 Delegierten aus 12 Ländern (Bulgarien, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Norwegen, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz) kamen zehn Teilnehmer aus Deutschland. Die Gruppe Internationale wurde durch Berta Thalheimer und Ernst Meyer vertreten; für die Internationalen Sozialisten Deutschlands mit ihrem Organ „Lichtstrahlen" war Julian Borchardt erschienen, der auch die Bremer Linken vertrat; und die zentristischen Kräfte der Opposition wurden durch Georg Ledebour, Adolph Hoffmann und fünf weitere Delegierte repräsentiert. Die Zentristen hatten die Mehrheit. Deshalb wurde der von Lenin verfasste und von den Zimmerwalder Linken vorgelegte Entwurf einer Prinzipienerklärung, in der die vollständige Abgrenzung von den Opportunisten gefordert und den Sozialisten die Aufgabe gestellt wurde, „die Umwandlung des imperialistischen Krieges zwischen den Völkern in den Bürgerkrieg anzustreben" (W. I. Lenin: Werke, Bd. 21, S. 350/351), mit 19 gegen 12 Stimmen abgelehnt. Einstimmig angenommen wurde ein Manifest gegen den Krieg. Die Konferenz wählte die Internationale Sozialistische Kommission (ISK) als ihr ausführendes Organ. (Die Dokumente der Zimmerwalder Konferenz siehe Dokumente und Materialien, Reihe II, Bd. 1, S. 215-240.)

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