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Karl Liebknecht 19160922 Brief an Friedrich Notz

Karl Liebknecht: Brief an Friedrich Notz1

[Die Rote Front, Nr. 5 vom 1. März 1926. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 316 f.]

22. September 1915

Lieber Genosse Notz!

Wir sitzen hier scheußlich im Drecke; man verwendet uns unausgebildete Schlachthammelherde, um einen heftigen Russenvorstoß aus Riga aufzuhalten und zurückwerfen zu helfen. Man wirft uns in Schützengräben! Natürlich hab ich bisher noch keine Heimatpost bekommen und werde noch einige Zeit ohne sie bleiben. So tappe ich ganz im Dunkeln.

Die Stimmung unter den Soldaten ist gut. Man kann ganz offen mit ihnen reden. Noch niemals fand ich mir feindliche oder nur ablehnende Stimmung; bei allen Truppengattungen und Formationen, die ich traf und von denen sich Angehörige bei mir meldeten. Am 16. und 17. traten bei mir einige Offiziere an – darunter ein Prinz Reuß, ein Prinz von Sachsen-Weimar, ein Rittmeister von Brockhusen, ein Herr von Moltsohn – Pasewalker Kavallerie – und ein etwas monomanischer Hauptmann, um mit mir zu diskutieren! Beim Kanonengedröhn ganz romantisch – ich diente den Herren so ungeniert wie möglich – sie machten aus dem „Präventiv"-Charakter und der Anzettelung des Krieges durch Berlin-Wien kein Hehl, einer verstieg sich zu einer begeisterten Lobpreisung des „Segens" des Sarajewoer Mords. Allen waren Eroberungen großen Stils selbstverständlich.

23. September 1915

Ich habe infolge einer kleinen Augenverletzung eine Fahrt zum Bataillonsarzt antreten müssen. Von unterwegs fahre ich fort:

Eben sind mir in unserem Hauptquartier neuere Zeitungen in die Hände gefallen. Daraus erfahre ich das erste über Bern2, aber vorläufig nur eine Ankündigung des „Manifests" – meine Spannung ist nicht gering. Die Einmütigkeit heißt hoffentlich nicht Verwässerung. Verwerflich ist das Stuttgarter Schreiben, von dem ich Abschrift erhielt.

Ich meine, wir müssten überlegen, ob und evtl. wie Propaganda für einen Munitionsarbeiterstreik nach englisch-amerikanischem, russischem Muster und darüber hinaus für einen Antikriegs-Massenstreik zu machen wäre. Die Frauen wären dazu besonders zu bearbeiten, nur die technische Durchführung der Propaganda ist ein schweres Problem, die Bedingungen mindestens für einen bereits beunruhigend wirkenden Teilerfolg dürften im Übrigen nicht so übel sein und täglich besser werden, um so rascher, je mehr der Winterfeldzug kommt, der ein Grauen für alle Soldaten hier draußen wird. Eine solche Bewegung, die trotz aller Zensur auch in weiten Kreisen der Armee bekannt würde, könnte auch da die Stimmung natürlich beeinflussen.

Ich bitte Sie, den Gedanken mit unseren Stuttgarter Freunden zu besprechen und evtl. an unsere übrigen Freunde heranzutreten. Bern muss dafür den Boden bereitet haben. Es muss jetzt gepfiffen werden.

Hoffentlich kommt bald ein Brief von Ihnen. Ich bestellte im Reichstag und Abgeordnetenhaus die fraglichen stenographischen Berichte für Sie, sie dürften schon da sein. Alles Gute – herzliche Grüße überall

Ihr

K. Liebknecht

1 Friedrich Notz – nahm als Delegierter der Stuttgarter „Freien Jugendorganisation" an der Berner Internationalen Jugendkonferenz vom 4. bis 6. April 1915 teil. Dort wurde er beauftragt, zur Unterstützung der von dieser Konferenz beschlossenen neuen Zeitung „Jugend-Internationale" mit führenden deutschen Sozialdemokraten in Verbindung zu treten. Notz schrieb dazu: „Die begeistertste Aufnahme fand ich bei unserem Genossen Karl Liebknecht. Er hielt die ganze Angelegenheit für so wichtig, dass er mich sowie den Gen. Georg Schumann zu einer Besprechung nach Saalfeld einlud, wo wir den Inhalt der ersten Nummer . . . besprachen. In der Folge stand Liebknecht in ständiger Verbindung mit uns und durch mich mit der neu entstandenen ,Jugend-Internationale'." (Mit Luxemburg und Liebknecht. 10 Jahre kommunistische Jugendbewegung, Berlin o. J., S. 16/17.)

2 Zimmerwalder Konferenz (Liebknecht bezeichnet sie anfänglich auch als Konferenz von Bern) – Vom 5. bis 8. September 1915 fand in Zimmerwald (Schweiz) die erste internationale sozialistische Konferenz der oppositionellen Antikriegskräfte der zusammengebrochenen II. Internationale statt. Von 38 Delegierten aus 12 Ländern (Bulgarien, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Norwegen, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz) kamen zehn Teilnehmer aus Deutschland. Die Gruppe Internationale wurde durch Berta Thalheimer und Ernst Meyer vertreten; für die Internationalen Sozialisten Deutschlands mit ihrem Organ „Lichtstrahlen" war Julian Borchardt erschienen, der auch die Bremer Linken vertrat; und die zentristischen Kräfte der Opposition wurden durch Georg Ledebour, Adolph Hoffmann und fünf weitere Delegierte repräsentiert. Die Zentristen hatten die Mehrheit. Deshalb wurde der von Lenin verfasste und von den Zimmerwalder Linken vorgelegte Entwurf einer Prinzipienerklärung, in der die vollständige Abgrenzung von den Opportunisten gefordert und den Sozialisten die Aufgabe gestellt wurde, „die Umwandlung des imperialistischen Krieges zwischen den Völkern in den Bürgerkrieg anzustreben" (W. I. Lenin: Werke, Bd. 21, S. 350/351), mit 19 gegen 12 Stimmen abgelehnt. Einstimmig angenommen wurde ein Manifest gegen den Krieg. Die Konferenz wählte die Internationale Sozialistische Kommission (ISK) als ihr ausführendes Organ. (Die Dokumente der Zimmerwalder Konferenz siehe Dokumente und Materialien, Reihe II, Bd. 1, S. 215-240.)

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