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Karl Liebknecht 19151204 Brief an Julian Borchardt

Karl Liebknecht: Brief an Julian Borchardt

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/33. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 402 f.]

Berlin-Schöneberg, 4. Dezember 1915

Reservehilfslazarett, Hauptstr. 30/31

Werte Genossen!

Das uns übermittelte Schriftstück einiger Genossen, die sich „Internationale Sozialisten Deutschlands"1 nennen, stellt es so dar, als gäbe es in Deutschland nur eine Opposition, die sich auf die parlamentarische Tätigkeit beschränkt und dabei vollständig versagt hat. Die Unvollständigkeit und falsche Zuspitzung dieser Darstellung, die die ernsthafte deutsche Opposition auf das Niveau (in die Niederungen) jener bei uns am meisten berüchtigten, hilf- und haltlosen Scheinopposition herabdrückt, ist für Sie und jeden Kundigen offenbar.

Da wir in der Übermittlung des Schriftstückes den Ausdruck Ihres Wunsches zu einer (der archivalischen Vollständigkeit dienenden) Gegenäußerung erblicken, so sei neben der vortrefflichen Haltung eines großen Teils unserer Frauen (der Name unserer schwerkranken Clara Zetkin) und unserer Jugend beispielsweise einiges erwähnt.

1. Die deutsche Opposition begann sich alsbald nach Ausbruch des Krieges systematisch in Versammlungen zu betätigen.

2. Seit September 1914 wurde, da die Opposition in der Parteipresse nicht zu Worte kommen konnte, gegen die Haltung der Mehrheit zur Klärung der sozialdemokratischen Prinzipien und Taktik „Referenten- und Informationsmaterial" versandt. Dieses Material erscheint seither etwa alle drei Wochen und geht laufend an ein paar hundert Vertrauensleute der Opposition.

3. Im März wurde der Versuch gemacht, ein Organ zu schaffen, um das sich die Opposition scharen konnte. „Die Internationale", deren bisheriges Schicksal Sie kennen.

4. Der bekannte Protest der Opposition vom 9. Juni wurde in über 100.000 Exemplaren verbreitet.

5. Eine ganze Anzahl Flugblätter und Flugschriften gegen den Krieg und andere zur Kritik der Haltung der Parteiinstanzen wurden verbreitet, und zwar in großen Auflagen, so dass die Zahl der verbreiteten Exemplare wohl eine Million erreichen dürfte.

6. Auch Broschüren, die der grundsätzlichen Klärung der Ansichten über Prinzip und Taktik dienen, wurden systematisch verbreitet.

7. Straßendemonstrationen wurden veranstaltet, obwohl auch hier der überkommene technische Apparat völlig versagte.

8. Soweit es bei den offiziellen Parteihemmnissen möglich war, haben die journalistisch tätigen Mitglieder der Opposition systematisch in der Parteipresse die Stellung der Parteiinstanzen bekämpft und die sozialistischen Grundsätze verfochten.

Die ISD mögen diese Tätigkeit gering einschätzen. Wir selbst sind, wie nie verhehlt, keineswegs von ihr befriedigt. Jedenfalls nicht entfernt so, wie die ISD von ihren Leistungen, an denen Kritik zu üben wir heute nicht für angezeigt halten. Wie wenig erhebend es ist, dass die ISD es unternehmen, die Tätigkeit der entschlossenen deutschen Opposition zu negieren oder sie gar schlechtweg mit der leider versagenden Opposition in den Parlamenten identifizieren, bedarf keines Worts. Dass dieses Verfahren nicht geeignet ist, uns in Ihren oder der sonst Kundigen Augen herabzusetzen, wissen wir freilich.

Wir hoffen, mit den obigen Zeilen Ihren Wünschen genügt zu haben, und begrüßen Sie.

1 Während des Krieges bildete der Berliner linke Sozialdemokrat Julian Borchardt, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und Herausgeber der von 1913 bis 1921 erscheinenden Monatsschrift „Lichtstrahlen", die Gruppe Internationale Sozialisten Deutschlands. Er schloss sich auf der ersten Zimmerwalder Konferenz der von Lenin geführten Zimmerwalder Linken an. Am 11. Februar 1916 wurde Borchardt in „militärische Sicherheitshaft" genommen. Die Gruppe der ISD trat für die Abgrenzung von den Sozialchauvinisten und Zentristen ein, besaß jedoch wenig Verbindung zu den revolutionären Massen und zerfiel bald wieder.

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