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Karl Liebknecht 19151205 Denkschrift über Bruch der Immunität

Karl Liebknecht: Denkschrift über Bruch der Immunität

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/33. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 419-424]

Dokumente über militärgerichtliche Verfolgungen Karl Liebknechts

5. Dezember 1915

An die Herren Mitglieder des Reichstags! Folgendes unterbreite ich Ihrer Kenntnis:

1. Im April d. J. wurde Unterzeichneter von dem Gericht einer bayrischen Landwehrdivision, der der Unterzeichnete damals als Armierungssoldat (49. Armierungsbataillon) angehörte, wegen angeblicher Abfassung einer politischen Schrift belangt, und zwar ohne vorherige Genehmigung des Reichstags und des damals gleichfalls tagenden preußischen Abgeordnetenhauses, obwohl der Unterzeichnete dem Antrag auf Genehmigung seine Unterstützung zugesagt hatte.

Mitte Mai d. J. anerkannte der Herr Reichskanzler in der Budgetkommission des Reichstags ausdrücklich die rechtliche Selbstverständlichkeit, dass das obenerwähnte Verfahren gegen den Unterzeichneten trotz des Militärverhältnisses wegen der Immunität unzulässig sei.

Die Präsidien des Reichstags und des Abgeordnetenhauses erwiderten auf eine Vorstellung des Militärgerichts, dass sie die Angelegenheit durch die Bemerkung des Herrn Reichskanzlers für erledigt erachteten.

Ein Widerspruch gegen diese Behandlung der militärgerichtlichen Vorstellungen und die Bemerkung des Herrn Reichskanzlers wurde in keinem der beiden Häuser laut.

Das Verfahren ist jedoch entgegen der deutlichen Verfassungsbestimmung und trotz der geschilderten Vorgänge unter Nichtachtung der Immunität, d. h. ohne Einholung der parlamentarischen Genehmigung, fortgesetzt und vor dem Gericht der Njemen-Armee, unter dessen Zuständigkeit der Unterzeichnete inzwischen als Angehöriger des 102. Armierungsbataillons gelangt war, durch förmlichen Beschluss vom 26. September d. J. beendet, den ich nebst meinem dem Militärgericht zugegangenen Schriftsatz vom 16. Oktober d. J. kopiert beifüge.

Ob dieser Beschluss für den Unterzeichneten materiell günstig ist oder nicht, entbehrt der rechtlichen und politischen Erheblichkeit.

2. Im Oktober d. J. ist ferner von dem letztgenannten Militärgericht wegen Abfassung einer politischen Schrift ein neues Verfahren gegen den Unterzeichneten, wiederum ohne Genehmigung des Reichstags (das Abgeordnetenhaus ist seit Juni geschlossen), eingeleitet worden.

Der Unterzeichnete hat sich bei der angeordneten Vernehmung nach Verwahrung wegen des erneuten Bruchs der Immunität aus politischen Gründen zur Sache geäußert und wiederum seine Unterstützung für ein Genehmigungsgesuch ausdrücklich zugesagt. Abschrift eines Teiles meines an den Gerichtsherrn gerichteten Schriftsatzes vom 12. Oktober gleichfalls anbei.

Die Militärgerichte haben hiernach wiederholt und mit Überlegung gegen ein noch im Mai vom Reichskanzler für beachtlich erklärtes Grundrecht der Verfassung verstoßen; ein besonders prägnanter Fall jener Überheblichkeit der deutschen Militärinstanzen über Gesetz und Recht.

3. Dem Reichstag sei durch diese Mitteilung Gelegenheit gegeben, zu einer grundlegenden Frage des Parlamentsrechts Stellung zu nehmen. Die Unterlassung einer Stellungnahme im jetzigen Tagungsabschnitt wird als nachträgliche Billigung des militärischen Standpunkts zu deuten sein.

Dass dem Unterzeichneten die Fortführung des militärischen Verfahrens (die Wahrung der parlamentarischen Immunität vorausgesetzt!) nur erwünscht wäre, bedarf keiner Betonung.

Illustrativ erwähne ich, dass die Zensur alle Mitteilungen, auch die kürzesten, rein tatsächlichen, über die geschilderten Vorgänge der Presse verboten hat, ein Vorgehen, das heute wohl in Russland, aber nicht in Deutschland Verwunderung erregen könnte.

Dieses Schreiben ist sämtlichen Mitgliedern des Reichstags am 7. Dezember überreicht.

Berlin, den 5. Dezember 1915

Ergebenst

Karl Liebknecht

Anlage 1

O. U. Nowo Alexandrowsk

26. September 1915

Stabsoffizier der Pioniere

beim Oberkommando der Njemen-Armee

Br. Nr. IIa 4960

Das Ermittlungsverfahren gegen den Armierungssoldaten Karl Liebknecht des Armierungs-Bat. 102 wegen Ungehorsams gegen einen Befehl in Dienstsachen (Akt. Bl. 3), durch den die Gefahr eines erheblichen Nachteils herbeigeführt ist (§§ 92, 93 MStG), wird hiermit mangels ausreichenden Beweises eingestellt und p. Liebknecht außer Verfolgung gesetzt.

Der Gerichtsherr

gez.: Kahns, Oberst und Stabsoffizier

gez.: Schimpf, Oberleutnant und der Pioniere beim Oberkommando

Gerichtsoffizier der Njemen-Armee,

mit Wahrnehmung der niederen Gerichtsbarkeit beauftragt

Für die Richtigkeit der Abschrift:

gez.: Schimpf Oberleutnant und Gerichtsoffizier

Mir am 11. Oktober 1915 dienstlich übergeben.

Anlage 2

16. Oktober 1915

In dem Ermittlungsverfahren gegen mich wegen Vergehens gegen §§ 92, 93 MStG (Br. Nr. IIa 4960), in dem laut Verfügung vom 26. v. M. das Verfahren mangels Beweises eingestellt ist, erhebe ich Widerspruch dagegen, dass Einleitung, Durchführung und Abschluss der Untersuchung ohne Genehmigung des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses erfolgt sind. Diese Genehmigung, deren Erteilung ich mit zu erwirken bereit war, hätte nach den eindeutigen Bestimmungen der Reichs- wie der preußischen Staatsverfassung vorerst eingeholt werden müssen. In diesem Sinne haben sich auch der Reichskanzler und die beiden Parlamente ausgesprochen (im Mai und Juni d. J.).

Ich versage danach dem gesamten Verfahren und allen in ihm vollzogenen Akten wegen offenkundiger Gesetzwidrigkeit jegliche Anerkennung.

Armierungssoldat K. Liebknecht

Anlage 3

Osten, den 12. Oktober 1915 In der Angelegenheit betreffend den Protest vom 9. Juni d. J.

usw. bemerke ich zu meiner gestrigen Erklärung noch folgendes: Was ich getan habe, war meine politische Pflicht im höchsten Sinne. Den Versuch, mich darum behördlich zur Verantwortung zu ziehen, weise ich zurück.

Eine irgendwie strafbare Handlung liegt nicht vor. Ich gebe jedoch anheim, beim Reichstag die Genehmigung zur Strafverfolgung in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise nachzusuchen. Ich werde mich diesem Antrag anschließen, so dass die Genehmigung nach dem Gebrauch des Reichstags voraussichtlich erteilt werden wird …

Karl Liebknecht

Armierungssoldat

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