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Karl Liebknecht 19150500 Worte des Wahns

Karl Liebknecht: Worte des Wahns

Artikel (Mai 1915)

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/23. (Nach dem Manuskript). Zuerst veröffentlicht in: Jugend-Internationale (Zürich) Nr. 3 vom 1. März 1916. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 233-239]

Eine kleine Streife sei unternommen – gegen allerhand Phrasengezücht, das uns seit August 1914 belästigt. Wir fangen heut einiges auf und zergliedern es. Hier ein paar rasche Beobachtungen.

Jetzt aber, nachdem der Krieg einmal da ist", bewilligen wir die Kredite usw. (vergleiche Erklärung der deutschen Reichstagsfraktion vom 4. August 1914).

Ja, um alles in der Welt: Der Krieg ist immer „einmal da"; der Krieg, ob gerecht oder verbrecherisch.

Wenn das ein zureichender oder gar zwingender Grund für die Unterstützung des Krieges ist, so sind alle Kriege zu unterstützen – denn sie sind „da"! – Alle Redereien von „Schuld" und „Ursache" und „Verantwortung", von denen auch die deutsche Fraktionserklärung trieft, sind dann impotentes Gezeter ohne politischen Sinn.

Hängt aber die Stellung zum Krieg von der „Schuldfrage" ab oder von seinem geschichtlichen Wesen, so ist die Folgerung klar. Für Deutschland und für alle imperialistischen Länder.

Nur für die „Verteidigung des Vaterlands"?

Weshalb treten jene für die „Verteidigung des Vaterlands" ein? „Weil eine Niederlage des Vaterlands dem Proletariat schweren Schaden brächte." Setzen wir das als richtig – weshalb brächte sie diesen schweren Schaden? Weil sie eine Niederlage in einem Krieg zur Verteidigung des Vaterlands wäre? Doch gewiss nicht. Sondern eben schlechthin, weil sie eine Niederlage wäre. Und zwar: gleichviel in welcher Art Krieg. Auch im plumpsten Raubkrieg. Ja, in ihm, da Vergeltung, Züchtigung, Unschädlichmachung doppelt droht, in gedoppeltem Grade. Je ruchloser ein Krieg, umso gefährlicher die Niederlage! Kurz: Nach Kriegspaternität und -ursache und -ziel darf – wenn jene recht haben – nicht gefragt werden; es kommt – wenn jene recht haben – auf „Gerechtigkeit" des Krieges und ähnlichen Tand für die Haltung des Proletariats zu ihm nicht an. Noch mehr: Die größere Unheiligkeit des Krieges heiligt die proletarische Kriegsbegeisterung erst recht, und der Grad seiner „Gerechtigkeit" steht im umgekehrten Verhältnis zum Grad der sozialistischen Beteiligungspflicht.

Die italienischen Sozialisten hätten danach – nach der Legende von der besonderen „Niedertracht" des italienischen „Treubruches" – mit gedoppeltem Eifer Salandras, Cadornas, d'Annunzios Spuren folgen müssen, nachdem der Krieg „einmal da" war.

Und nicht nur das. Wie sofort zu zeigen, heißt dieses Eintreten gegen die „schädliche" Niederlage ohne weiteres: Eintreten für den „nützlichen" Sieg, das heißt aber im imperialistischen Krieg: für Eroberungen!

Natürlich ist die vorausgesetzte „Nützlichkeit" des Sieges für das Proletariat ebenso wie die vorausgesetzte Schädlichkeit der Niederlage nicht nur unabhängig von der „Gerechtigkeit" oder „Ungerechtigkeit" des Krieges, von „Schuld" oder „Unschuld" – sofern man geschmackvoll genug ist, im imperialistischen Zeitalter dergleichen Worte in den Mund zu nehmen! Im Gegenteil: Der brutalste Überfall über ein wehrloses Land ist die „nützlichste" Methode. Also würde sich – von diesem „Nützlichkeits"-Standpunkt – in letzter Konsequenz – das Eintreten auch für den Sieg um so mehr rechtfertigen, je räuberischer der Überfall, je blutiger die „Schuld", je imperialistischer Krieg und Kriegsziel.

Jedenfalls: Das Proletariat wird nach der Politik jener anderen dem Imperialismus, gerade da er seine gefährlichste Funktion übt, mit Haut und Haaren verschrieben; und wir sehen: Ist das Steuer der internationalen Betrachtung zerbrochen, ist der Kompass der internationalen proletarischen Interessensolidarität verloren, so treibt das sozialdemokratische Schiff haltlos in Sturm und Wellen, so muss es rettungslos zerschellen im Strudel der Völkerzerfleischung.

Gegen Niederlage" oder „für Sieg"?

Dem Proletariat wäre eine Niederlage schädlich." Setzen wir dies als richtig, so liegt die Folgerung sehr nahe: Ist die Niederlage schädlich, so ist der Sieg nützlich und umso nützlicher, je vollkommener, vernichtender er ist. Muss der Zweck, die Schädlichkeit einer Niederlage abzuwenden, dem Gott Mars die Hilfe der Proletarier herbeirufen, so darf der Zweck, die Vorteile eines Sieges zu pflücken, prinzipiell als Rechtfertigungsgrund für diese Hilfe gelten. Und wenn man gar meint: Es gibt, wenn „der Krieg einmal da ist", an sich und für die Politik des Proletariats nur die Alternative: „Niederlage oder Sieg", so folgt das Eintreten für den Sieg aus dem Eintreten gegen die Niederlage, ja, es ist nur seine Kehrseite, nur ein anderer Ausdruck für das gleiche. Und in der Tat ist das der Standpunkt unserer Davids und Salomos von der Majorität.

Also: „Eintreten für den Sieg ist Pflicht des Proletariats." Für den Sieg in einem imperialistischen Krieg, dessen Führung in den Händen der Imperialisten liegt. Für einen imperialistischen Sieg, als die einzig mögliche Frucht vom Baum des imperialistischen Krieges – wenigstens unter dem Zeichen des Burgfriedens; wenigstens bei einer Politik des Verzichts auf den Kampf zur revolutionären Eroberung der politischen Macht und damit auf den Kampf um die Dispositionsgewalt über Wesen und Ziel des Krieges.

Für den Sieg aber etwa eintreten mit dem inneren Vorbehalt, das für eine andere Art Sieg zu meinen, als tatsächlich allein in Frage kommt, ist ein unbewusster Nonsens oder eine bewusste Doppelzüngigkeit.

Sieg oder Niederlage für das Proletariat nützlich oder schädlich?

Weshalb wäre die Niederlage schädlich? Man antwortet: Wegen der imperialistischen Wirkungen der Niederlage, mit denen man sich als mit einer unabwendbaren Schickung abfindet. Man betrachtet dabei die Fortdauer der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftsordnung auch für den etwaigen Unterlieger als unvermeidlich.

Wie aber mit dem Sieg? Soll das kein imperialistischer sein? Soll der Imperialismus etwa, wo er siegreich ist, ein Ergebnis gegen seine Natur produzieren, während als schlechthin selbstverständlich gilt, dass er, auch wo geschlagen, seine gesellschaftliche Herrschaft weiterführt? Die entgegengesetzte Möglichkeit läge näher.

Wer die Schädlichkeit der Niederlage aus dem kapitalistisch-imperialistischen Charakter des Krieges und des jetzigen Gesellschaftszustandes folgert, kann auch die Nützlichkeit des Sieges nicht anders konstruieren. Das Eintreten für den Sieg ist trotz aller fadenscheinigen Bemäntelung ein glattes Eintreten für einen glatten Sieg nach imperialistischer Art und Wirkung, das heißt für das imperialistische Kriegsziel, zu dem sich denn auch die Herzensergüsse der Lensch und Konsorten schon ganz rücksichtslos bekennen.

Nur einen Ausweg gibt's aus dem Dilemma: Aufsage des Burgfriedens; Erkämpfung der Herrschaft des Proletariats über den Krieg, über den Sieg – und die Niederlage!

Gerade diesen Ausweg aber lehnen die Umlerner hohnlachend ab und trommeln siegreich den Dessauer Marsch der Durchhalterei.

Die internationale Interesseneinheit des Proletariats aller Länder – kein Wort des Wahns!

Mit dem Buchstabieren der sozialistischen Grundlehren muss heute, in der Zeit burgfriedlichen Wahns, neu begonnen werden. Noch flattern die hohen Worte der proletarischen Heilswahrheit durch die Hirne – aus ihren Wurzeln sind sie gerissen. Dem erblindeten Faust gleich hören viel zu viele nur noch den Klang ohne Sinn.

Das Proletariat muss Deutschlands Sieg erkämpfen, weil ihm seine Niederlage schweren Schaden brächte."

Dass diese neue Lehre mit dem tönernen Geschwätz von der bloßen Verteidigung des Vaterlandes in heillosen Konflikt gerät und es mit Kolbenhieben in Scherben schlägt, ist gezeigt. Aber das tönerne Geschwätz hat schon ohnedies unheilbare, weit klaffende Sprünge, durch die die ganze neue Prophetenweisheit ausfloss, fast ehe sie eingeschüttet war.

Ich will hier nicht sprechen von der objektiven und im Gesamtkapitalinteresse wurzelnden internationalen Bedingtheit des Wirtschaftslebens, nicht von den weltwirtschaftlichen Gegentendenzen (internationale Arbeitsteilung!), nicht von der internationalen Versippung des Kapitals und nicht davon, dass Niederlage noch längst nicht Vernichtung der Produktionsmittel, auch längst nicht ihre Stilllegung bedeuten würde, sondern schwerlich mehr als einen Anstoß zu teilweisem Wechsel der Kapitaleigner, zur teilweisen Verschiebung des Kapitalbesitzes aus den Händen von Kapitalisten des unterlegenen Landes in die Hände von Kapitalisten des siegreichen Landes. Ich lasse auch die zahlreichen anderen Gegenanzeichen außer acht. Gesetzt aber den Fall, Niederlage bedeute wirklich Vernichtung oder schwere Schädigung des Wirtschaftslebens, Arbeitslosigkeit und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Was wird weiter geschehen ?

Die Kapitalisten des siegreichen Landes werden gewiss nach Friedensschluss mit Leibeskräften die im Krieg durch den Ausfall der Produktion entstandenen Lücken durch möglichst profitable Anwendung des eigenen Kapitals auszufüllen suchen. Sei es durch Anlage im eigenen Land, sei es durch Anlage im besiegten Land oder in anderen Ländern. Gewiss werden dazu Arbeitskräfte gebraucht. Heißt das aber, dass zum Beispiel bei einem deutschen Sieg bisher überschüssige deutsche Arbeiter beschäftigt werden? Mitnichten! Deutschland hatte schon vor dem Krieg keinen Überschuss, sondern einen Mangel an deutschen Arbeitskräften und sog dauernd eine Millionenmasse von ausländischen Arbeitskräften an sich. Gewiss mag sich der Profit der Kapitalisten des siegreichen Landes steigern. Wird der erhöhte Profit aber zum Beispiel die deutschen Kapitalisten bestimmen, freiwillig, aus Vaterlandsliebe, den deutschen Arbeitern bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu gewähren? Wer darauf baut, ist mit Blindheit geschlagen und vergisst alle Erfahrung einer bitteren Vergangenheit. Die Arbeitsbedingungen werden auch in Zukunft und auch bei einem Sieg das Ergebnis des Klassenkampfes sein und den dabei eingesetzten Kräften entsprechen. Eines der stärksten Machtmittel des Kapitals gegen das Proletariat aber ist die Heranziehung von Lohndrückern aus der Reservearmee. Und diese Reservearmee ist längst eine internationale. Auch der Arbeitsmarkt ist längst Weltmarkt. Und die Lage der Proletarier in allen, auch den auswärtigen Ländern bestimmt den Grad, in dem sie ausgebeutet werden können, bestimmt die Bedingungen, zu denen sie arbeiten werden – auch als Lohndrücker im Ausland –, wohin immer die proletarische Wanderung flutet. Wer zweifelt, dass die Kapitalisten des siegreichen Deutschlands, statt den Forderungen der deutschen Arbeiter nachzugeben, mit allen Mitteln Lohndrücker aus dem Ausland einschleppen und in ihren ausländischen Anlagen die billigsten Arbeitskräfte nehmen werden, wo sie zu kriegen sind? Das ausgepowerte Proletariat der voraussetzungsgemäß durch Niederlage wirtschaftlich zerschlagenen feindlichen Länder wird eine unübertreffliche, widerstandslose, unerschöpfliche Reservearmee von Lohndrückern abgeben. Wer zweifelt, dass das deutsche Kapital sie gegen das begehrliche deutsche Proletariat rücksichts- und gewissenlos nach allen Regeln der Kunst aufbieten wird?

Schon während des Kriegs zeigen sich die Symptome dieser Erscheinung. Arbeiter aus dem durch die deutsche Invasion zerrütteten Belgien wurden von französischen Kapitalisten zum Schaden des französischen Proletariats so angewendet, dass es schon im Herbst 1914 lebhafte Konflikte setzte; ähnliches ereignete sich in England. Und die deutsche Regierung hat – sie ist ja der Matador des „ Organisierens" – nicht nur den deutschen Arbeitern durch die Drohung mit dem Schützengraben nach Kräften das Rückgrat gebrochen, nicht nur wehrlose Kriegsgefangene gegen das deutsche Proletariat ausgespielt, sondern auch die Einschleppung von Arbeitern aus dem zerstörten Russisch-Polen nach Deutschland amtlich zentralisiert, systematisiert. Ein Vorgeschmack, eine Vorfreude!

In der Tat, dieser Krieg würde – wenn alles nach dem Gusto der herrschenden Klassen ginge – das famoseste großkapitalistische Geschäft werden: Zerstörung oder doch Schwächung der Konkurrenz des ausländischen Kapitals, das heißt gesteigerte goldene Profitmöglichkeit; Wegfegung des einheimischen Mittelstandes und auch damit Erweiterung der Profitgelegenheit; und schließlich: Schaffung einer unvergleichlichen Lohndrückerarmee im Auslande zur Dämpfung des Übermuts der Arbeiter im eigenen Lande. Ein ganzes Bukett patriotischer Wirkungen! Herz, was begehrst du mehr? Und dafür lässt sich das Proletariat der kriegführenden Staaten unermüdlich totschießen und totschlagen, als hänge seine ewige Seligkeit davon ab! Und dazu werden die arbeitenden Massen begeistert. Von ihren eigenen „Führern" begeistert! Als zu einem Ziele ihres höchsten Glücks! Ihrer Lebensnotwendigkeit!

Welcher Aristophanes, welcher Rabelais, welcher Swift, welche Feder voll Gift und Blut wäre dieser ungeheuren Satire tiefster Tragik gewachsen?

Implacabilis

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