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Karl Liebknecht 19150609 Zum Protest der Opposition vom 9. Juni 1915

Karl Liebknecht: Zum Protest der Opposition vom 9. Juni 1915

(Juni 1915)

[I: + IV + V: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/33., II: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK. der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/8., III: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL-1/51. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 240-251]

I

An Unbekannt

Berlin, 9. Juni 1915

Werter Genosse!

Anliegender Brief soll an den Fraktions- und Parteivorstand gehen; und zwar aus zwingenden Gründen, politischen, die Sie kennen, und anderen, die hier nicht näher auseinandergesetzt werden können, spätestens am Freitag, d. h. übermorgen. Die Publikation des Briefes ist selbstverständlich.

Leider ist infolge der Dringlichkeit eine Auseinandersetzung über die Einzelheiten des Schreibens nicht mehr möglich; das hieße die ganze Sache scheitern lassen. Wir hoffen, Sie werden ein Auge zudrücken.

Es kommt auf den politischen Hauptzweck an, der keiner Erläuterung bedarf und in dem wir hoffentlich übereinstimmen. Wir rechnen noch auf die Unterschriften der Genossen aus der Fraktionsminderheit und weiter auf Berten, Block, Breitscheid, Brühl, Dißmann, Fleißner, Herz, Hofer, Adolph und Paul Hoffmann, Paul Lange, Menke, Notter, Prager, Süßheim, Thalheimer, Zetkin u. a.

Wir bitten um postwendende telegraphische Antwort – Formular adressiert und mit Porto anbei. Ja oder nein und Name genügt.

Mit den Unterschriften, die bis Freitagabend eingegangen sind, wird das Schreiben am Freitagabend an den Fraktions- und Parteivorstand zur Post gegeben, Sie müssen sich also sofort entscheiden.

Mit Parteigruß

Duncker, Herzfeld, Laufenberg, Ledebour, Mehring, Meyer, Ströbel, Liebknecht Freundlichen Gruß auch für die anderen

Duncker

II

Protestschreiben1

An den

Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

An den

Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Berlin

Berlin, den 9. Juni 1915

Werte Genossen!

Die Ereignisse der letzten Wochen zwingen uns zu diesem Schreiben.

Mit dem 4. August 1914 hat die parlamentarische und außerparlamentarische Leitung der deutschen Sozialdemokratie eine Politik begonnen, die nicht nur das Versagen der Partei in einem unvergleichlichen geschichtlichen Augenblick, sondern eine immer schroffere Abkehr von ihren bisherigen Grundsätzen bedeutet.

Die verhängnisvollen Wirkungen dieser Abkehr ergriffen unerbittlich von der äußeren Politik aus die gesamte innere Politik der Partei, die damit auf beiden Gebieten aufhörte, als selbständiger Faktor zu existieren. Die Anerkennung des Burgfriedens war das Kreuz auf dem Grabe des Klassenkampfes, der nicht in behördlichen und parlamentarischen Geheimkonventikeln, noch durch eine Hintertreppenpolitik nach dem Muster kapitalistischer Klüngel geführt werden kann.

Die Mehrheit der Reichstagsfraktion wich jedem ernsthaften Kampf aus, selbst dem für die Koalitionsfreiheit, für die Wahlreform. Sie lehnte es ab, auch nur die Aufhebung des Belagerungszustandes zu beantragen, und verwandelte damit die aufgezwungene Rechtlosigkeit in eine freiwillig übernommene, um dann durch ihren Redner der untertänigen Hoffnung Ausdruck zu geben, eine Milderung der Zensur lasse sich vielleicht von einer Fürsprache beim Kaiser erreichen.

Von Session zu Session wurden die Hoffnungen auf eine Änderung der Fraktionspolitik vertröstet und verschoben. Und immer von neuem enttäuscht. Der Mai brachte die Vollendung des Zusammenbruchs.

Immer klarer war zutage getreten, dass der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient. Immer deutlicher hatte sich sein imperialistischer Eroberungscharakter offenbart. Immer ungeniertere Bekenntnisse zur Annexionspolitik wurden abgelegt. Zu den Äußerungen einflussreicher Drahtzieher des Kapitalismus traten Kundgebungen mächtiger kapitalistischer Wirtschaftsverbände, Beschlüsse der herrschenden bürgerlichen Parteien und im Februar die vom Herrenhaus mit einhelliger Zustimmung aufgenommene Rede des Herrenhauspräsidenten, die die Möglichkeit eines sofortigen Friedens unter Aufrechterhaltung des bisherigen deutschen Besitzstandes feststellte, aber die Fortsetzung des Krieges zu Eroberungszwecken für geboten erklärte, eine Rede, durch die sich die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion dennoch nicht an der Bewilligung neuer 10 Milliarden Kriegskredite und des Budgets hatte hindern lassen.

Die übergroße Masse der Parteigenossen daheim wie im Felde erwartete, dass die Reichstagsfraktion wenigstens jetzt endlich, im Mai, nach langen zehn Monaten eines furchtbaren, in Dauer und Ausgang unübersehbaren Krieges, in einer nachdrücklichen, unzweideutigen Kundgebung die schleunige Beendigung des Krieges fordern und dem entschlossenen Friedenswillen der Sozialdemokratie Ausdruck verleihen würde – entsprechend dem vom deutschen Parteitag noch ausdrücklich gebilligten Beschluss des Stuttgarter Kongresses, der die Partei verpflichtet, den Krieg zur Aufrüttelung der Massen im Klassenkampf auszunutzen und so für seine rasche Beendigung zu wirken.

Die Erwartung der Massen ist wieder unerfüllt geblieben.

Wie die Fraktionsmehrheit kein Wort des Protestes gegen den Bruch der belgischen Neutralität gefunden hatte, wie sie es ablehnte, ihre Stimme zu erheben gegen die Torpedierung der „Lusitania"2, gegen das Vergeltungsprinzip, das zu einem Wettlauf der Grausamkeit führt und die Zivilbevölkerung immer tiefer in die Schrecknisse des Krieges reißt, wie sie es unterließ, nach dem Beispiel unserer serbischen, russischen, englischen und italienischen Genossen die Schuldigen am Weltkrieg im eigenen Lande zu bekämpfen, und wie sie half, dem imperialistischen Unternehmen den Deckmantel des Patriotismus umzuhängen, so hat sie auch hier völlig versagt. Wenn der sozialdemokratische Redner am 29. Mai in einigen Wendungen von Friedenssehnsucht sprach und für einen Frieden ohne Annexion eintrat, so nahmen doch Form und Begleitumstände von vornherein dieser Rede den Charakter einer ernsten Friedenskundgebung.3 Und was sich nach ihr abspielte, stempelte die ganze „Aktion" für In- und Ausland zum Gegenteil einer Friedenskundgebung.

Die volle Bedeutung dieser Haltung der Fraktionsmehrheit ergibt sich aus der Tatsache, dass ihr das Kriegsziel der Regierung ganz autoritativ bekannt war. Unverblümt hatte der Reichskanzler in der Reichstagssitzung vom 28. Mai den Eroberungskrieg proklamiert, zu dessen Programm, wie die Fraktion wusste, die offene Annexion russischer und französischer Gebietsteile und unter dem Etikett der zwangsweisen wirtschaftlichen Angliederung die versteckte Annexion Belgiens gehört.

Auf diese Proklamation galt es, die sozialdemokratische Antwort zu erteilen. Die sozialdemokratische Fraktionsmehrheit jedoch fand darauf, von jenen unerheblichen Redewendungen abgesehen, nur ein erneutes Bekenntnis zur Politik des 4. August, das heißt zur Willfährigkeit gegenüber der Regierung und den herrschenden Klassen; und das, obwohl Graf Westarp sie unter Beihilfe der bürgerlichen Parteien durch den – freilich von Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion unterstützten! – Handstreich seines Vertagungsantrages gerade eben die Junkerpeitsche hatte fühlen lassen. Und auf die alarmierenden Eroberungsfanfaren des konservativen und nationalliberalen Redners fand sie nur eben eine nochmalige Unterstreichung dieses Bekenntnisses und die Berufung auf denselben Reichskanzler, dessen Annexionsziele vor den Augen aller Welt enthüllt waren.

Der dringendste Anlass war gegeben, sich endlich von der Regierungs-Kriegspolitik loszusagen und ihr den schärfsten Kampf zu erklären. Die endliche rücksichtslose Hervorkehrung der sozialistischen Interessen und der proletarisch-internationalen Friedensziele war geboten; aber eine erneute Verpflichtung zur Politik des Durchhaltens, eine wiederholte Solidaritätserklärung gegenüber den herrschenden Klassen und der Regierungs-Kriegspolitik erfolgte.

Auch im Jahre 1870 waren die sozialdemokratischen Abgeordneten durch scharfe Gegensätze getrennt; aber geschlossen standen sie gegen die Regierung, sobald sich die Annexionspläne offen herauswagten. Heute liegt das offizielle Annexionsprogramm der Regierung und aller bürgerlichen Parteien vor. Dennoch begnügt sich die Fraktionsmehrheit mit einigen nichtigen Wendungen über Friedenswünsche und Annexionspolitik, um sich desto nachdrücklicher auf das Durchhalten einzuschwören.

Damit ist der Schlusspunkt unter die unheilvolle Entwicklung gesetzt, die am 4. August begann. Die Reichstagsfraktion, in der auch die meisten Mitglieder des Parteivorstandes sitzen, hat den Widerstand gegen die imperialistische Eroberungspolitik aufgegeben. Und nicht aus bloßer Schwäche und Burgfriedensfreudigkeit, sondern weil ein erheblicher Teil der Reichstagsfraktion – ebenso wie der preußischen Landtagsfraktion und wie andere einflussreiche Genossen – in konsequenter Fortbildung der Politik des Durchhaltens, das heißt der hemmungslosen Völkerzerfleischung, auch dieser Eroberungspolitik mit vollem Bewusstsein anhängt.

Besonders dreist hat vor wenigen Tagen die Baumeistersche „Internationale Korrespondenz" (IK)4, die vom Einfluss der auch in der Reichstagsfraktion überaus mächtigen Generalkommission getragen wird, dieser Parteiströmung Ausdruck verliehen. Sie stimmt der Schifferschen Beurteilung von Eberts Rede zu: die Betonung des Durchhaltens sei ihr wesentlicher Sinn, die Fraktion werde sich von dieser Losung auch durch die Meinungsverschiedenheiten über das Kriegsziel nicht abbringen lassen – eine Beurteilung, der in der Reichstagssitzung vom 29. Mai die Fraktionsmehrheit begeistert Beifall rief! Und sie versichert, gegen die Methode der zwangsweisen „wirtschaftlichen Angliederung", das heißt der verkappten Annexion Belgiens, sei nichts einzuwenden!

Noch einmal stehen die leitenden Parteiinstanzen am Scheidewege. Wollen sie, was an ihnen liegt, die Partei jener immer deutlicher hervortretenden Strömung noch länger überantworten oder nicht?

In der Hand der deutschen Sozialdemokratie ruht noch immer die Macht zu einer welthistorischen Entscheidung. Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands, die ihr bedeutendes Gewicht in die Waagschale des Friedens wirft, hat gerade jetzt mit verschärftem Nachdruck die sofortige Bekanntgabe der englischen Friedensbedingungen gefordert und den Kampf gegen die Annexionspolitik des Drei- oder Vierverbandes aufgenommen. Hervé und seine Gesinnungsgenossen sehen sich einer immer stärkeren Bewegung unter den französischen Sozialisten gegenüber, einer Bewegung für einen baldigen Frieden ohne Annexion und „Angliederung", einer Bewegung, deren Drängen sie vergeblich zu beschwichtigen suchen. Das Beispiel der italienischen Bruderpartei lässt unsere Herzen höher schlagen. Aus England, aus Frankreich, aus Italien schallen sozialistische Friedensstimmen immer eindringlicher zu uns. Von der Haltung der deutschen Sozialdemokratie hängt die Weiterentwicklung des sozialistischen Kampfes gegen den Krieg in jenen Ländern wesentlich ab. Treibt die Leitung der deutschen Sozialdemokratie jetzt weiter im Kielwasser der Eroberungspolitik, rettet sie sich nicht jetzt endlich auf den Boden des internationalen proletarischen Kampfes gegen den Krieg und die imperialistischen Raubgelüste zurück, so versäumt sie die letzte Gelegenheit, sich von der vollen Mitschuld daran zu entlasten, dass dieser Krieg als erbarmungsloser Vernichtungskrieg bis zum Weißbluten der Völker fortgesetzt und der auf ihn folgende Friede nur die Vorbereitung eines neuen Weltkriegs sein wird.

Der Augenblick heischt gebieterisch sofortiges Handeln. In den letzten Stunden sind der König und der Kronprinz von Bayern öffentlich als Befürworter der Eroberungspolitik hervorgetreten. Keinem, der noch länger zögert, kann fürderhin Gutgläubigkeit und Unkenntnis zugebilligt werden. Der Tatbestand liegt unzweideutig; die Situation ist vom letzten Nebel geklärt. Die Alternative lautet schlechthin: Parteirettung oder Parteizerstörung.

Wir warnen vor der Fortsetzung der Politik des 4. August und des 29. Mai. Wir wissen, dass wir die Auffassung eines großen Teils der Parteigenossen und breiter Bevölkerungsschichten ausdrücken, wenn wir fordern, dass Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen. Die Verantwortung für alles, was sonst kommt, fällt denen zu, die die Partei auf die abschüssige Bahn getrieben haben und ferner darauf erhalten wollen.

Mit Parteigruß5

III

An Alexander Winckler6

Berlin, 12. Juni 1915

Werter Genosse!

Das anliegende Schreiben — an Partei- und Fraktionsvorstand — ist bisher von den auf der beigefügten Liste verzeichneten 60 Genossen unterschrieben; hinzugekommen sind soeben noch Ernst Däumig und Alfred Wielep vom „Vorwärts", der Vorstand des Kreises Mansfeld u. Hoffmann (Hof); zahlreiche weitere werden folgen. Dringendste Eile tut not.

Wir bitten auch Sie zu unterzeichnen. „Ja" und Unterschrift (Vor-, Zuname, Wohnort, Funktion in Organisation) genügt. Antwort sofort — möglichst per Eilboten oder Telegramm p. A.: Fräulein Mathilde Jacob, Berlin, Altonaer Str. 11.

Wir bitten ferner dringendst, etwaige Funktionäre von politischen Organisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften und sonstige tüchtige und tätige Genossen, die gleicher Auffassung sind, schleunigst zur Unterschrift zu gewinnen und die Mitteilung davon sofort genau wie oben angegeben an Fräulein Mathilde Jacob gelangen zu lassen.

Die Absendung des Schreibens erfolgt durch uns — sobald Ihr „Ja" da ist. Das anliegende Exemplar können Sie dort behalten. Also: bitte schleunigste Erledigung!

Mit Parteigruß

i. A. K. Liebknecht

Herzlichste Grüße! In einer Woche ca. verschwinde ich wieder — aber nach dem Osten. Ich schreibe dann.

Wäre es möglich, für gewisse nicht näher zu beschreibende Zwecke (Broschüren etc., Unterstützungen Verhafteter etc.) noch einmal eine Beihilfe zu bekommen? Adresse: Redakteur Ernst Meyer, Berlin-Steglitz, Ahornstr. 26.

Es liegt auf der gleichen Linie wie die „Internationale"; der Bedarf ist groß u. dringendst! Herzlichster Dank wäre Ihnen sicher. Alles Beste.

Ihr K. Liebknecht

IV

An Unbekannt

Berlin, Juni 1915

Werter Genosse!

Anbei die Liste der Genossen, die bis heute unterzeichnet haben. Wir bitten Sie nunmehr noch dringend um zweierlei:

1. Suchen Sie noch möglichst viele Funktionäre von politischen Organisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften usw. oder sonstige besonders tüchtige, tätige und einflussreiche Genossen zur Unterschrift zu gewinnen; und zwar ganz schnell, sofort Antwort binnen ein bis zwei Tagen von heute ab. — Adresse: Rechtsanwalt S. Weinberg, Berlin C 2, Klosterstr. 65/67. Nur „Ja" und Unterschrift: (Vor- und Zuname, Wohnort, Funktion in der Organisation.)

2. Wirken Sie bitte darauf hin, dass das fragliche Schreiben an Parteivorstand und Fraktionsvorstand sofort zum Gegenstand von Resolutionen in den politischen Organisationen (Versammlung, Konferenz, Vorstandssitzung usw.) gemacht wird. Etwa so:

Die Versammlung hat von dem Protestbrief Kenntnis genommen, den am 9. Juni d. J. eine große Anzahl Genossinnen und Genossen an den Parteivorstand und an den Fraktionsvorstand gesandt haben. Sie schließt sich den in diesem Schreiben enthaltenen Ausführungen und Forderungen mit allem Nachdruck an und spricht die ungeduldige Erwartung aus, dass Parteivorstand und Fraktionsvorstand nun unverzüglich zur proletarisch-sozialistischen Politik zurückkehren werden. Die Versammlung begrüßt die tapfere Friedensarbeit der ausländischen Freunde und ruft die Genossen auf, ihre volle Schuldigkeit im proletarischen Klassenkampf gegen den Krieg zu tun und über die Trümmer des Burgfriedens hinweg an den Wiederaufbau der Internationale zu gehen."

Diese Resolutionen bitten wir direkt an Parteivorstand und Fraktionsvorstand zu senden — eine Abschrift erbitten wir aber auch an die oben zu 1. angegebene Adresse.

Auch all das ganz schnell — aus vielen Gründen, die hier nicht dargelegt werden können. In Hamburg und Berlin ist die Aktion für solche Resolutionen bereits im Gange.

Mit Parteigruß

K. Liebknecht

V

An die Redaktion der „Leipziger Volkszeitung"

Berlin, 20. Juni 1915

Werter Genosse!

Die gestrige Leipzigerin bringt einen Dreimänneraufruf7 (Bernstein usw.) — Gelegenheitsparole, statt prinzipieller; verschwommene Sammelparole, wo selbst eine klare Sammelparole vom Übel wäre.

Sie bringt das, ohne unseren Offenen Brief auch nur zu erwähnen! Obwohl er doch mindestens zeitlich wie kausal vorangeht!

Wir „Berliner" erwarten, dass Sie unseren Offenen Brief vom 9. d. M. zuerst — vor dem „Aufruf" — abdrucken; oder bei absolutem Zensurhindernis an „hervorragender Stelle" erwähnen u. charakterisieren, u. zw. unter Angabe des Datums (9. Juni), der Ihnen schon vor einiger Zeit zur Publik, gesandt. Es gilt jetzt endlich den Kampf mit der Zensur aufnehmen, auf alles Risiko; der psychologische Moment ist da.

Unterschriften bisher über 200 (nur Funktionäre).

Freundl. Gr

Ihr K. L.

Ohne Publik. unser Schr. zu einem polit. Narrenstreich!

1 Über die Entstehung dieses „Unterschriften-Flugblattes" vom 9. Juni 1915 schreibt Karl Liebknecht in „Betrachtungen und Erinnerungen aus ,großer Zeit'": „In den ersten Tagen des Juni erfolgte eine neue skandalöse Gewerkschaftskundgebung, die einer Anzahl der Genossen (Meyer, Strubel, Karski, Duncker, ich) Anlass gab, eine Kundgebung zu arrangieren. Ich fertigte einen Entwurf, der Ströbel zu scharf war, da er auf Hinzuziehung von Kautsky, Bernstein und anderen bestand. Er machte einen Gegenentwurf, von dem einiges in meinen Entwurf übernommen wurde. Ich legte diesen Entwurf Bernstein vor, der sich Bedenkzeit erbat und später absagte; das ,Gebot der Stunde' keimte auf.

Am 9. Juni wurde in meiner Wohnung die letzte Hand angelegt. Anwesend waren außer den Genannten: Mehring – der natürlich auch vorher bereits zu Rate gezogen war –, Laukant, Laufenberg – der zufällig nach Berlin und in meine Hände geraten war –, Ledebour, der erst am Tage vorher den Entwurf zugesandt erhalten hatte. Ledebours Bemühungen, die Angriffe auf die Politik des 4. August zu Falle zu bringen, scheiterten. Er fügte sich schließlich. Es wurden nur wenige geringfügige Änderungen vorgenommen. An den folgenden Tagen versandten Duncker und ich Tausende von Abzügen und Abdrücken an fast alle Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre Deutschlands: Der Plan, die Protestbewegung auf so breite Basis zu stellen, wurde von Duncker und mir im Beginn der Versendungsarbeit gefasst…

Der Erfolg waren bekanntlich etwa tausend Unterschriften von Funktionären. Der Protest mit den Unterschriften wurde dann in vielen Tausenden von Exemplaren verbreitet." (Karl Liebknecht: Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, S. 442.)

2 Torpedierung der „Lusitania" – Am 7. Mai 1915 wurde das englische Passagierschiff „Lusitania" von einem deutschen U-Boot ohne Warnung torpediert und versenkt. Dabei ertranken mehr als 1000 Menschen.

3 Aus Anlass des Eintritts Italiens in den Krieg gab Friedrich Ebert am 29. Mai im Namen der opportunistischen Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eine Erklärung ab. In ihr hieß es: „In dieser Stunde gesteigerter Gefahr bekennen wir uns rückhaltlos zu dem, was wir am 4. August und später hier erklärt haben."

4 „Internationale Korrespondenz" (IK) – ein von dem rechten Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbeamten Albert Baumeister geleiteter und von der Generalkommission der Gewerkschaften finanzierter Pressedienst für Fragen der internationalen Politik und Arbeiterbewegung. Die IK unterstützte die Kriegspolitik in sozialchauvinistischem Sinne. Sie erschien in Berlin von 1914 bis 1917.

5 Es folgen rund 1000 Unterschriften

6 Winckler, Arnstadt, hatte bereits die Herausgabe der „Internationale" finanziell unterstützt.

7 Der von Bernstein, Haase und Kautsky unterzeichnete Aufruf vom 19. Juni 1915 „Das Gebot der Stunde".

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