Der „Fall Liebknecht“

Der „Fall Liebknecht“

Die Ouvertüre

Ende August 1914 regte Liebknecht bei dem Berliner Zentralvorstand die Abhaltung von Versammlungen gegen die Annexionshetze und für den Frieden an. Gleichzeitig ersuchte er den Parteivorstand um Veranstaltung solcher Versammlungen, um Erlass eines Manifestes im gleichen Sinne (unter Zuziehung des Fraktionsvorstandes) und um Versendung eines Zirkulars an die Presse, das sie zur Pflicht und zur Wahrung des Programms aufrufen sollte. Die Versammlungen wurden abgelehnt, weil zu befürchten sei, dass sich in ihnen Genossen zugunsten von Annexionen aussprechen könnten. Ein Manifest wurde für die allernächste Zeit zugesagt.

Vom 4. bis 12. September war Liebknecht in Belgien; am 13. September in Amsterdam. In Stuttgart wollte Liebknecht am 21. September in einer Versammlung „gegen die Annexionshetze" sprechen; sie wurde verboten. Er nahm dann an einer Funktionärversammlung der Stuttgarter Parteiorganisation teil, die Anlass zu vielen Erörterungen gab.

In einem Vorort von Berlin wurde für Mitte September 1914 eine Versammlung der vorgeschlagenen Art in Aussicht genommen; sie wurde verschoben, da Liebknecht verreist war. Im Oktober wurden für zwei Berliner Vororte Versammlungen mit dem Thema: „Ein Ende dem Völkermord! Gegen die Annexionshetze!" (Referenten Liebknecht und R. Luxemburg) einberufen. In den Annoncen wurde das Thema, auf dessen Publikation in der Presse besonderes Gewicht gelegt wurde, von der Expedition des „Vorwärts" gestrichen, wodurch die Versammlungen, die als Demonstrationsversammlungen gedacht waren, vereitelt wurden.

Urkunden

An die

Redaktion der „Bremer Bürger-Zeitung"

Berlin, den 3. September 1914

Werte Genossen!

Wie ich erfahre, haben mehrere Genossen und einige Parteizeitungen allerhand über die Beratungen der deutschen Reichstagsfraktion vom 3. und 4. August dieses Jahres veröffentlicht. Danach soll in der Fraktion über die politische Lage und unsere Stellung zu ihr keine ernstliche Meinungsverschiedenheit bestanden haben und der Beschluss auf Bewilligung der Kriegskredite einstimmig gefasst sein.

Um einer unerträglichen Legendenbildung entgegenzuwirken, sehe ich mich genötigt festzustellen, dass in der Fraktion über die bezeichneten Punkte diametral gegensätzliche Auffassungen geherrscht haben, die in Debatten von bisher unerhörter Leidenschaftlichkeit ihren Ausdruck fanden und ein einmütiges Votum schlechterdings ausschlossen. Danach ist es auch ganz unrichtig, dass der Beschluss über die Bewilligung der Kriegskredite einstimmig gefasst sei.

Die Erörterung der Einzelheiten muss auf eine Zeit aufgespart werden, die dazu wenigstens annähernd die gleiche Freiheit der Meinungsäußerung gewährt, wie sie unter dem gegenwärtigen anormalen politischen Zustand die Verfechter der Kreditbewilligung in so reichem Maße genießen.

Ich bitte Sie dringend, die vorstehenden Zeilen abdrucken zu wollen.

Mit Parteigruß

Ihr Karl Liebknecht


An die Redaktionen

einiger schwedischer, italienischer

und Schweizer Parteizeitungen

Die Genossen Dr. Südekum und Richard Fischer haben in der Parteipresse des neutralen Auslandes (Schweden, Italien, Schweiz) den Versuch unternommen, die Haltung der deutschen Sozialdemokratie im gegenwärtigen Kriege im Lichte ihrer Auffassung darzustellen. Wir sehen uns dadurch gezwungen, an der gleichen Stelle zu erklären, dass wir und sicherlich viele andere deutsche Sozialdemokraten den Krieg, seine Ursachen, seinen Charakter sowie die Rolle der Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Lage von einem Standpunkte betrachten, der demjenigen der Genossen Südekum und Fischer durchaus nicht entspricht. Der Belagerungszustand macht es uns vorläufig unmöglich, unsere Auffassung öffentlich zu vertreten.

Am 10. September 1914

Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin


Berlin, den 26. September 1914

Werter Genosse!1

Man hat versucht und versucht weiter, die Haltung der Minorität unserer Reichstagsfraktion misszuverstehen und zu verunglimpfen. Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass wir das Recht und die Pflicht zur nationalen Selbstverteidigung und Selbstbehauptung nicht im Mindesten angezweifelt haben und anzweifeln. Die Gründe für unsere Auffassung jetzt im Einzelnen auseinanderzusetzen liegt leider nicht im Bereich der Möglichkeit. Nur darauf will ich hinweisen, dass es meiner Ansicht nach die Pflicht der deutschen Reichstagsfraktion gewesen wäre, in der schärfsten Form jede Verantwortung für diesen Krieg abzulehnen, der durch eine von uns seit je bekämpfte Politik hervorgerufen ist, an dem die herrschenden Klassen Deutschlands in hohem Grade mitschuldig sind und der im allgemeinen eine Folge der von uns grundsätzlich bekämpften kapitalistisch-imperialistischen Entwicklung darstellt. Nur die schärfste Form des Protestes war hier ausreichend. Durch die Bewilligung der Kredite hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion trotz aller in der abgegebenen Erklärung enthaltenen Vorbehalte die Verantwortung übernommen. Der Fehler war um so größer, je weniger die Darstellung unserer Regierung über die unmittelbare Veranlassung des Krieges zutrifft und je mehr es sich um einen deutschen Präventivkrieg handelt, der nach dem Willen gewisser Kreise auch ein Eroberungskrieg, ein kapitalistischer Expansionskrieg, sein soll. Ich brauche nicht hervorzuheben, dass nach meiner Überzeugung jede Annexion eine weitere dauernde Gefährdung des Friedens, nicht aber eine Friedenssicherung darstellen würde. Selbst vom denkbar nationalsten Standpunkte aus hat unsere Fraktion einen ungeheuerlichen Fehler gemacht und die schwerste Verantwortung auf sich geladen. Durch ihre Zustimmung hat sie nur scheinbar die militärische Kraft Deutschlands gestärkt. In Wirklichkeit liegt es anders. Sie hat dadurch zugleich alle Dämme niedergerissen, die im Auslande dem Kriege und der äußeren und inneren Beteiligung der Volksmassen an diesem Kriege entgegenstanden. Bei einer anderen Haltung unserer Fraktion hätte der Krieg insbesondere weder in Frankreich noch in Russland, noch in England so populär werden können, wie er geworden ist. Sembat und Guesde wären nicht in das Ministerium eingetreten, die Trades Unions hätten sich nicht für die englischen Anwerbungen eingesetzt. Kurzum, die Feinde Deutschlands sind durch das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie, wie mir scheint, gewaltig gestärkt worden. Meine Hoffnung ist die, dass es noch jetzt, während des Krieges, gelingen möge, die dem Krieg entgegenwirkenden und ihn abschwächenden internationalen Kräfte zum Heile der gesamten Menschheit und jedes einzelnen Volkes zu entfalten. Das ist die Aufgabe, der sich jeder von uns an seinem Teile nach Kräften zu widmen hat.

Ich zweifle nicht daran, dass Sie mir zustimmen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Dr. K. Liebknecht


Resolution

N. N.2, den 29. September 1914

Der Kreisvorstand des Kreises N. N.3 und der Vorstand des Ortsvereins N. N.4 beschließen in kombinierter Sitzung:

Den Parteivorstand zu ersuchen, mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, dass die Partei und insbesondere die Parteipresse den Grundsätzen unseres Parteiprogramms entsprechend geleitet wird, dass den sich immer mehr häufenden groben Verstößen gegen das Parteiprogramm mit Nachdruck entgegengetreten wird und dass der Parteivorstand im geeigneten Moment eine öffentliche Kundgebung gegen die Annexionspolitik und für baldigen Frieden erlässt.

Antwort des Parteivorstandes vom 5. Oktober 1914

Werter Genosse!

Der Parteivorstand hat von der uns übermittelten Resolution der kombinierten Sitzung des Kreisvorstandes des Wahlkreises N. N.5 und des Ortsvorstandes von N. N.6 Kenntnis genommen. Wir haben zu dieser Resolution zu bemerken, dass der Parteivorstand, soweit das notwendig war und soweit das möglich war, im Sinne der in der Resolution enthaltenen Wünsche gewirkt hat und dass es deshalb einer solchen Resolution nicht bedurfte.

Mit Parteigruß

H. Müller

Resolution

Die am 11. Oktober 1914 in N.N.7 abgehaltene erweiterte Konferenz der Vorsitzenden der Ortsvereine des Kreises N. N.8 macht sich die Resolution des Kreisvorstandes und des N. N.9 Ortsvorstandes vom 29. September 1914 zu eigen und wiederholt sie mit Nachdruck.

Gegenüber der Antwort, die der Parteivorstand unter dem 5. Oktober dieses Jahres auf diese Resolution erteilt hat, erklärt die Konferenz :

Wenn der Parteivorstand am Schluss schreibt, „dass es einer solchen Resolution nicht bedurfte", so ist dies zurückzuweisen. Selbst wenn der Inhalt der Resolution vom Parteivorstand bereits aus eigenem Antriebe befolgt wäre, würde eine solche Resolution nicht überflüssig sein; es müsste dem Parteivorstand nur willkommen sein, eine Unterstützung seiner Aktion durch eine Parteiorganisation zu finden.

Die Konferenz stellt aber fest, dass der Parteivorstand, wie insbesondere die tägliche Haltung eines großen Teiles der Parteipresse zeigt, keineswegs ausreichend in diesem Sinne gewirkt hat. Besonders tritt das zutage in dem Verhalten des Parteivorstandes gegenüber dem Verbot des „Vorwärts"10. Die Konferenz bedauert dies Verhalten auf das lebhafteste.

An den Vorstand des

sozialdemokratischen Kreiswahlvereins N. N.11

Berlin, den 15. Oktober 1914

Werte Genossen!

Von der uns durch Brief vom 13. Oktober d. J. übermittelten und am 11. Oktober gefassten Resolution haben wir Kenntnis genommen. Zu dem Inhalt der Resolution bemerken wir:

Der Parteivorstand hat seit Beginn des Krieges sowohl schriftlich auf dem Wege des Zirkulars als auch mündlich auf einer Konferenz sozialdemokratischer Redakteure dahin gewirkt, dass die Parteipresse entsprechend den Grundsätzen des Parteiprogramms geleitet wird. Der Parteivorstand hat also sein möglichstes getan; wäre er noch weiter gegangen, so wäre sein Vorgehen sicherlich als undemokratisch und als ein Verstoß gegen die im Rahmen der Parteigrundsätze bestehende Meinungsfreiheit zurückgewiesen worden. Weil wir in diesem Sinne unablässig wirkten, haben wir in unserem Briefe vom 5. Oktober festgestellt, dass es einer ermahnenden Resolution für den Parteivorstand nicht bedurfte.

Entschieden verwahren wir uns gegen den Vorwurf, dass der Parteivorstand gegenüber dem Verbot des „Vorwärts" in diesem Sinne nicht ausreichend gewirkt habe. Der Parteivorstand hat gerade in diesem Falle den Standpunkt der Partei gegenüber der Regierung entschieden gewahrt.

Der Parteivorstand hat weiter im Rahmen der Parteiinstanzen dagegen protestiert, dass der „Vorwärts" nach dem Verbot den Charakter eines farblosen Blattes bekäme. Wenn die in N. N.12 versammelte Konferenz deshalb das Verhalten des Parteivorstandes auf das lebhafteste bedauert, so kann das nur darauf beruhen, dass die Konferenz über die Haltung des Parteivorstandes falsch unterrichtet wurde.

Mit Parteigruß

(Unterschrift)

Liebknecht war am 22. September nach Berlin zurückgekehrt. Am 27. und 28. September fanden eine Parteiausschusssitzung und eine Redakteurkonferenz statt. Am 1. Oktober erhielt Liebknecht die Einladung zur Teilnahme an einer Sitzung des Parteivorstandes, die am 2. Oktober abgehalten wurde. Aus ihr entwickelte sich der nachfolgende Briefwechsel.

1 Der Empfänger dieses Briefes ist nicht bekannt.

2 Spandau.

3 Potsdam-Spandau-Osthavelland.

4 Spandau.

5 Potsdam-Spandau-Osthavelland.

6 Spandau.

7 Spandau.

8 Potsdam-Spandau-Osthavelland.

9 Spandau.

10Verbot des „Vorwärts" — Am 27. September 1914 verbot das Oberkommando in den Marken den „Vorwärts" auf unbestimmte Zeit, weil er in dem Artikel „Deutschland und das Ausland" angedeutet hatte, dass die Arbeiter der kriegführenden Länder zum Kriege gezwungen worden seien. Nachdem sich der Parteivorstand schriftlich verpflichtet hatte, die Zeitung so zu redigieren, dass während des Krieges das Thema „Klassenhass und Klassenkampf" nicht in ihr berührt werde, wurde das Verbot am 30. September wieder aufgehoben. Damit unterwarf sich der Parteivorstand offen der Militärdiktatur.

11 Spandau.

12 Spandau.

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