Die „Labour Leader"-Briefe

Die „Labour Leader"-Briefe

An die

Redaktion des „Labour Leader"

London

Werte Genossen!

Für ein Mitglied der deutschen Sozialdemokratie ist es eine schwere Aufgabe, im gegenwärtigen Augenblick über die Solidarität des internationalen Proletariats zu schreiben. Es hieße heucheln, wenn man bestreiten wollte, dass die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion dieser Solidarität zwar nicht die einzige, aber doch die erste und die tiefste Wunde geschlagen hat, und man kommt darüber nicht hinweg mit der törichten Rede, dass die Internationale kein wirksames Werkzeug im Kriege, sondern im wesentlichen ein Friedensinstrument sei. Das heißt sagen: An einem Schwert ist das Wesentliche nicht die Klinge, sondern der Griff.

Aber das ungünstige Licht, worin die deutsche Sozialdemokratie den Schwesterparteien des Auslandes erscheint, täuscht dennoch. Was sich heute in ihr abspielt, hat sein Vorbild in dem ersten Jahre des Sozialistengesetzes, wo die Führer auch kopflos wurden, aber die Massen sich alsbald sammelten unter der Parole: Mit den Führern, wenn diese wollen, ohne die Führer, wenn sie untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie widerstreben. Schon gärt es mächtig in allen großen Parteizentren Deutschlands: in Berlin, Hamburg, Leipzig, Stuttgart, und der Tag ist nicht mehr fern, wo der Frieden und die Rückkehr zu den unerschütterlichen Grundsätzen der Internationale von der deutschen Arbeiterklasse gefordert werden wird mit der ungestümen Kraft eines Willens, den die Kämpfe eines halben Jahrhunderts gestählt haben.

Berlin-Steglitz, im Dezember 1914

Franz Mehring


An die

Redaktion des „Labour Leader"

London

Werte Genossen!

Mit Freude und mit tiefem Schmerz zugleich muss jeder deutsche Sozialdemokrat, der in seiner Gesinnung der proletarischen Internationale treu geblieben ist, die Gelegenheit ergreifen, um den Genossen im Auslande einen sozialistischen Brudergruß zu senden. Unter den mörderischen Schlägen des imperialistischen Weltkrieges ist unser Stolz und unsere Hoffnung, die Internationale der Arbeiterklasse, schmachvoll zusammengebrochen, und am schmachvollsten allerdings unsere deutsche Sektion der Internationale, die an der Spitze des Weltproletariats zu marschieren berufen war. Es ist nötig, diese bittere Wahrheit auszusprechen, nicht um sich einer fruchtlosen Verzweiflung und Resignation zu ergeben, sondern im Gegenteil, um aus der rücksichtslosen Erkenntnis der begangenen Fehler und der vorhandenen Sachlage die verheißenden Lehren für die Zukunft zu schöpfen. Es wäre das Verhängnisvollste für die Zukunft des Sozialismus, wenn sich die Arbeiterparteien verschiedener Länder entschließen würden, die bürgerliche Theorie und Praxis völlig anzunehmen, wonach es als natürlich und unvermeidlich gelten soll, dass sich die Proletarier verschiedener Nationen im Kriege auf Kommando ihrer herrschenden Klassen gegenseitig die Gurgeln abschneiden, nach dem Kriege aber miteinander wieder brüderliche Umarmungen austauschen, wie wenn nichts geschehen wäre. Eine Internationale, die so bewusst ihren heutigen furchtbaren Verfall als normale Praxis auch für die Zukunft anerkennen und dennoch behaupten würde, dass sie existiert, wäre nur ein empörendes Zerrbild des Sozialismus, ein Produkt der Heuchelei, ganz wie die Diplomatie der bürgerlichen Staaten, ihre Allianzen und ihre Völkerrechtsverträge. Nein! Das furchtbare gegenseitige Gemetzel von Millionen Proletariern, dem wir jetzt mit Grausen beiwohnen, diese Orgien des mordenden Imperialismus, die unter den heuchlerischen Aushängeschildern des „Vaterlandes", der „Kultur", der „Freiheit", des „Völkerrechts" stattfinden, Länder und Städte verwüsten, die Kultur schänden, die Freiheit und das Völkerrecht zertreten, sie sind ein blanker Verrat am Sozialismus.

Aber der internationale Sozialismus wurzelt zu fest und zu tief in den heutigen Verhältnissen, als dass es bei diesem Zerfall bleiben könnte. Der Imperialismus und seine schrecklichen Lehren sorgen selbst dafür, dass die proletarische Internationale aus den Trümmern wieder aufersteht als die einzige Rettung der Menschheit von der Hölle einer verfallenden und historisch verwirkten Klassenherrschaft. Schon jetzt, nach wenigen Monaten des Krieges, verfliegt auch in Deutschland der chauvinistische Rausch bei den arbeitenden Massen, die von ihren Führern in der großen geschichtlichen Stunde im Stiche gelassen worden sind, die Besinnung kehrt zurück, und mit jedem Tage wächst die Zahl der Proletarier, denen das, was heute vorgeht, eine brennende Röte der Scham und des Zorns ins Gesicht treibt. Aus diesem Kriege werden die Volksmassen nur noch mit stürmischerem Drang unter unsere alte Fahne der sozialistischen Internationale zurückkehren, nicht um sie bei der nächsten imperialistischen Orgie wieder zu verraten, sondern um sie gegen die gesamte kapitalistische Welt, ihre verbrecherischen Ränke, ihre infamen Lügen und ihre elenden Phrasen vom „Vaterland" und von der „Freiheit" geschlossen zu verteidigen und auf den Trümmern des blutigen Imperialismus siegreich aufzupflanzen.

Berlin-Südende, im Dezember 1914

Mit den herzlichsten sozialistischen Brudergrüßen

R. Luxemburg


An die

Redaktion des „Labour Leader"

London

Werte Genossen!

Ich freue mich, in einer Zeit, in der die herrschenden Klassen Deutschlands und Englands mit allen Mitteln blutdürstigen Hass zwischen beiden Völkern schüren, als deutscher Sozialist englischen Sozialisten Worte der Brüderlichkeit schreiben zu können. Es schmerzt mich, diese Worte in einer Zeit schreiben zu müssen, wo die sozialistische Internationale, unsere strahlende Zuversicht von einst, mit tausend Hoffnungen zertrümmert am Boden liegt, wo nur allzu viele „Sozialisten" in den meisten kriegführenden Ländern – Deutschland wahrlich nicht ausgenommen – sich just, da die Gemeinschädlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung offenbarer ward als je, in dem räuberischsten aller Raubkriege gefügig vor den Kriegswagen des Imperialismus haben schirren lassen. Aber ich bin glücklich und stolz, meine Grüße gerade Ihnen, gerade der ILP1 zu schicken, die mit unseren russischen und serbischen Brüdern2 die Ehre des Sozialismus im Taumel der Völkerzerfleischung gerettet hat.

Verwirrung herrscht in den Reihen der sozialistischen Armee, und mancher klagt darob die sozialistischen Grundsätze an. Aber nicht unsere Grundsätze haben versagt, sondern ihre Vertreter. Nicht zu ändern gilt es unsere Lehren, sondern sie lebendig zu machen, zur Tat zu gestalten.

Trügerische Flitter sind die Vaterlandsverteidigungs- und Völkerbefreiungsphrasen, mit denen der Imperialismus seine Mordwerkzeuge schmückt. Jede sozialistische Partei hat ihren Feind, den Feind des internationalen Proletariats, im eigenen Lande; dort hat sie ihn zu bekämpfen. Die Befreiung jedes Volkes muss sein eigenes Werk sein.

Nur Verblendung kann Fortsetzung des Gemetzels bis zur Niederwerfung der „Feinde" fordern. Das Wohlergehen aller Völker ist untrennbar verknüpft; der Klassenkampf des Proletariats kann nur international geführt werden.

Siebenmalweise, deren opportunistische Seele sich nur allzu willig von den Wirbeln der diplomatischen Winde, von dem Strudel des entfesselten Chauvinismus davontragen ließ, sagen, die Zukunft der Arbeiterbewegung werde fürder nicht mehr international sein. Der Weltkrieg aber, der die bisherige Internationale zertrümmerte, ist die gewaltigste Predigt für die neue Internationale, eine Internationale freilich anderen Geistes, anderer Entschlossenheit als jene, deren die kapitalistischen Mächte am 4. August 1914 so spielend Herr wurden.

Nur im Zusammenwirken der arbeitenden Massen aller Länder für den Frieden liegt schon jetzt im Kriege das einzige Heil der Menschheit. Nirgends haben diese Massen den Krieg gewollt, nirgends wollen sie ihn. Sollen sie, den Abscheu gegen den Krieg im Herzen, einander bis zum Weißbluten zerfleischen? Kein Volk soll anfangen dürfen, vom Frieden zu reden – nun, so mögen sie alle zugleich davon reden; und welches zuerst davon redet, wird Stärke, nicht Schwäche zeigen und Ruhm und Dank ernten. Jeder Sozialist hat in seinem Lande auch heute zu wirken als Klassenkämpfer und Verkünder der internationalen Brüderlichkeit, im Vertrauen, dass jedes Wort, das er für den Sozialismus, für den Frieden spricht, jede Tat, die er für sie verrichtet, gleiche Worte und Taten in den anderen Ländern entzündet, bis die Flamme des Friedenswillens über Europa hell auflodert. Das Vorbild, das Sie und unsere russischen und serbischen Freunde der Welt gegeben haben, wird Nacheiferung finden, wo die Sozialdemokratie bisher noch im Garn der herrschenden Klassen gefangen sitzt. Und ich bin gewiss, dass die Masse der englischen Arbeiter bald zu den tapferen Scharen der ILP stoßen wird. Schon heute ist die Stimmung auch der deutschen Arbeiterschaft viel mehr als zumeist bekannt einer solchen Haltung geneigt. Immer stürmischer wird sie diesen ihren Willen geltend machen, immer stürmischer, je mehr sie das Echo ihres Friedensrufs in den anderen Ländern vernimmt. Beim Proletariat aller kriegführenden Länder wird sich so der Entschluss Bahn brechen, in internationalem Zusammenwirken einen Frieden im Sinne des Sozialismus zu erkämpfen, einen Frieden ohne Eroberung, ohne Demütigung, einen Frieden, der, nicht auf Hass, sondern auf Brüderlichkeit, nicht auf Gewalt, sondern auf Freiheit gebaut, die Gewissheit der Dauer in sich trägt.

So kann die Internationale, kämpfend und frühere Fehler sühnend, wieder auferstehen während des Weltkrieges. So wird sie wieder auferstehen müssen, aber als eine andere, gemehrt nicht nur an äußerer Kraft, sondern an innerer, revolutionärer Kraft, an Klarheit, an Bereitschaft, die Gefahren des Absolutismus, der Geheimdiplomatie und der kapitalistischen Verschwörungen gegen den Frieden zu überwinden.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Krieg dem Kriege!

Berlin, im Dezember 1914

Mit sozialistischen Grüßen

Karl Liebknecht

1 Independent Labour Party (ILP) – (Unabhängige Arbeiterpartei Englands) gegründet 1893. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges trat die ILP zunächst mit einem Manifest gegen den Krieg hervor (13. August 1914). Lenin kennzeichnete dieses Manifest im November 1914 mit den Worten: „Widerstand gegen den Chauvinismus leisten MacDonald und Keir Hardie von der opportunistischen unabhängigen Arbeiterpartei'. Das ist wirklich eine Ausnahme von der Regel." (W.I.Lenin: Werke, Bd. 21, S. 23.) Bald darauf gingen die Führer der ILP auf sozialchauvinistische Positionen über. Im Februar 1915 stimmten die Vertreter der ILP auf der Konferenz der sozialdemokratischen Parteien der Entente-Länder der sozialchauvinistischen Resolution zu.

2 Unsere russischen und serbischen Brüder – Als einzige Partei der II. Internationale befolgten die Bolschewiki nach Kriegsausbruch konsequent die Antikriegsbeschlüsse von Stuttgart und Basel. Die fünf bolschewistischen Abgeordneten stimmten in der IV. Reichsduma von Anfang an gegen die Kriegskredite (siehe auch Anmerkung 21). Lenin fixierte die Politik der Bolschewiki in den Dokumenten: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg" (Thesen) und „Der Krieg und die russische Sozialdemokratie" (Manifest des ZK der SDAPR) (W. I. Lenin: Werke, Bd. 21, S. 1-5 u. 11-21).

Am 31. Juli 1914 stimmten die beiden serbischen sozialdemokratischen Abgeordneten in der Skupschtina gegen die Kriegskredite. Die in Nisch herausgegebene „Arbeiterzeitung", die Zeitung der serbischen Sozialdemokratie, wandte sich gleichfalls gegen Chauvinismus und Krieg.

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