Ein Briefwechsel

Ein Briefwechsel

An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Berlin

Berlin, den 2. Oktober 1914

Werte Genossen!

Auf meiner durch einen rein privaten Zweck unmittelbar veranlassten ReiseB habe ich die mir bekannten und erreichbaren Genossen der Bruderparteien aufgesucht und mich mit ihnen ausgesprochen.1 Das ist mein selbstverständliches Recht, das ich mir von niemandem beschränken lasse; es ist dasselbe, was fast gleichzeitig auch andere Genossen (z.B. in Holland: Müller-München, Dr. Erdmann) getan haben. Niemand konnte im Unklaren darüber sein, und niemand war im Unklaren darüber, dass dieser Besuch kein parteioffizieller war.

Gegenüber den unwahren Darstellungen über die jüngsten Parteivorgänge, die geflissentlich im Ausland wie im Inland verbreitet waren und verbreitet sind, war es geradezu ein Gebot der Selbstachtung, vor allem aber ein Interesse der deutschen Partei (wie ich sie verstehe) und der Internationale (wie ich sie verstehe), die wirklichen Vorgänge zu schildern. Jene unwahren Darstellungen hatten auch ebenso wie der Artikel des Genossen Pannekoek den Schleier des Geheimnisses längst von Einzelheiten dieser Vorgänge gelüftet; selbst bürgerliche Blätter (vgl. z. B. die Artikel von Gerlach und Schulze-Gävernitz über Franks Wirksamkeit vor dem und am 4. August d. J.) hatten „intime Details" auf den breiten Markt tragen können. Ich bedarf keiner Entschuldigung durch Hinweis etwa auf die öffentliche Erörterung der Fraktionsintimitäten aus den Kaiserhochdebatten, deren Gegenstand mikroskopische Dimensionen besaß im Vergleich mit den uns hier beschäftigenden Problemen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zur öffentlichen Rechenschaft vor der deutschen Partei, vor der Internationale und vor der Geschichte. Ich habe nur in engem Kreise die Wahrheit über bereits früher – allerdings verzerrt – bekannte Vorgänge mitgeteilt. Meine Mitteilungen über die Fraktion waren so objektiv, dass z.B. die holländischen Genossen nach ihrer Erklärung gerade aus ihnen zuerst ein gewisses Verständnis für die Haltung der Mehrheit gewannen. Dass ich mich aller Kleinlichkeiten und jedes persönlichen Gezänks enthielt, brauche ich nicht hervorzuheben.

Einige Angaben der „Volksgazet" vom 25. September sind geradezu falsch – sie rühren natürlich nicht von mir her. Mein Brief an die „Bremer Bürger-Zeitung", der, wie ich bei meiner Rückkehr aus Holland erfuhr, dort nicht gedruckt war, ist in „Het Volk" mit meinem Einverständnis abgedruckt.

Ich habe getan, was mein Recht und meine Pflicht war, und weise jeden Versuch, mir daraus einen Vorwurf zu machen, scharf zurück.

Über die Stuttgarter Affäre scheint dem Parteivorstand ein Bericht vorzuliegen, der zu durchsichtigen Zwecken frisiert ist. Der Genosse Scheidemann trug ja in der Redakteurkonferenz weitere kennzeichnende Einzelheiten vor. Sicherlich verschweigt dieser Bericht, dass ich die Fraktionsmehrheit gegen gewisse schwere Vorwürfe aus den Reihen der Genossen mit allem Nachdruck in Schutz nahm. Allerdings habe ich meinen sachlichen Standpunkt gegenüber dem Fraktionsbeschluss und gegenüber der jetzigen Haltung offizieller Parteiinstanzen und eines großen Teils der Presse ohne Umschweife und mit der Leidenschaftlichkeit vertreten, die durch den erschütternden Ernst dieser Tage gerechtfertigt und geboten ist. Ich habe betont, dass ein Wiederaufbau der Internationale nach meiner innersten Überzeugung nur vom Boden einer Auffassung aus möglich ist, die den Standpunkt der Fraktionsmehrheit verwirft; – notabene: den Aufbau einer Internationale, die nicht dem Kindergespött preisgegeben sein soll. Ich habe erklärt, dass die deutsche Partei nach meiner innersten Überzeugung von der Haut bis zum Mark regeneriert werden muss, wenn sie das Recht nicht verwirken will, sich sozialdemokratisch zu nennen, wenn sie sich die jetzt gründlich verscherzte Achtung der Welt wieder erwerben will. Ich habe hervorgehoben, dass der Kampf, der dazu erforderlich ist, doppelt schwer sein wird, weil er nicht nur wie bisher und noch verschärft gegen die Regierung und die herrschenden Klassen, sondern auch gegen gewisse offizielle Parteiinstanzen, gegen eine immer mächtiger gewordene Strömung in der Partei zu führen ist – gegen Strömungen, die die Partei heute in gewissem Umfang zu einem offiziösen Regierungsinstrument haben werden lassen (Chauvinismus, Annexionsfrage, Verschleierung des Klassenkampfes, Jugendpflege usw.).

Auch in dieser Sitzung habe ich getan, was mein Recht ist und die Parteipflicht mir gebietet und was mir kein Teufel verwehren kann.

Im Parteiausschuss und bei der Redakteurkonferenz hat man, ohne mich zu hören, auf mir herumgehackt. Das lässt mich natürlich kalt. Nachdem man heute versucht hat, mich wegen einer selbstverständlichen Ausübung meiner Parteipflicht zur Verantwortung zu ziehen, muss ich denn doch fragen, ob man andere Genossen mit dreifach größerer Energie zur Rede gestellt, zur Ordnung und zur Scham gerufen hat? Ich meine die Genossen, die in der deutschen Presse und bei ihren Auslandsreisen die deutsche Partei aufs schwerste diskreditiert haben, von denen die primitivsten Grundsätze unseres Parteiprogramms preisgegeben worden sind. Und ich frage, wie ein Genosse, der noch nicht ganz vergessen hat, was ihm vor kaum zwei Monaten das Heiligste war, wie ein solcher Genosse angesichts jenes Dokumentes des Parteielends, das der gestrige „Vorwärts" an seiner Spitze veröffentlichen musste, meinen polemischen Standpunkt verpönen will. Dieser Standpunkt ist, so meine ich, der Standpunkt der Partei-Ehrennotwehr, diktiert durch eine verzweifelte Situation.

Zum Schluss noch zwei Bemerkungen: Was die mir mitgeteilten ausländischen Zeitungen über meine Stellungnahme zu den düsteren Ereignissen in dem bejammernswürdigen Belgien schreiben, ist zum Teil schief oder unzutreffend. Das springt für jeden Urteilsfähigen in die Augen. Ich sehe aber nicht ein, warum ich ausgerechnet eine Berichtigung loslassen soll in einer Zeit, wo unter Duldung, ja Mitwirkung der deutschen Behörden die deutsche Presse (im Ausland ist es freilich nicht viel besser) fast einen einzigen großen Lügensack bildet. Die Drohung mit meiner militärischen Stellung kann mich nicht gefügig machen; eher das Gegenteil. Das einzige, was ich bedauern und scheuen würde, wäre der Eindruck der Illoyalität gegenüber Offizieren und Beamten, die sich mir gegenüber sehr liebenswürdig gezeigt haben. Das werde ich mir noch durch den Kopf gehen lassen. Ich hätte gern einen ausführlichen Bericht veröffentlicht, aber es ist ja nicht erlaubt, in der Presse objektiv und rundheraus zu schreiben.

Zu der heutigen Bemerkung des Genossen Wels stelle ich fest, dass der Provinzvorstand nach den Mitteilungen in der Spandauer Sitzung dem Wahlvereine Potsdam-Osthavelland geradezu die Befugnis zur selbständigen Veranstaltung von Versammlungen der geplanten Art abgesprochen haben sollte, dass ein Vertreter des Provinzvorstandes dessen Auffassung in der Sitzung nachdrücklich vertrat und dass die Beschlüsse, von einer Ausnahme abgesehen, einstimmig gefasst sind.

Wenn Sie nicht diesen Brief als Formulierung meiner heutigen Erklärungen dem Protokoll über die heutige Sitzung beifügen wollen, so wiederhole ich mein Ersuchen, mir das Protokoll vor seinem Abschluss vorzulegen.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht


Herrn Dr. Karl Liebknecht

Groß-Lichterfelde b. B. Hortensienstraße 14

Berlin SW 68, den 7. Oktober 1914

Werter Genosse!

In der Unterredung, die wir am 2. d. M. mit Ihnen gehabt, und in dem Briefe, den Sie uns am gleichen Tage geschrieben haben, betonten Sie zur Rechtfertigung Ihrer Tätigkeit in Holland und Belgien, dass es „ein Gebot der Selbstachtung, vor allem aber ein Interesse der deutschen Partei gewesen sei, gegenüber den unwahren Darstellungen über die jüngsten Parteivorgänge, die geflissentlich im Auslande wie im Inlande verbreitet würden", die wirklichen Vorgänge zu schildern.

Wir wollen nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihr Vorgehen sehr bedauern, denn ebenso wenig wie einen der anderen Genossen, auf die Sie hinweisen, hat die Parteileitung Sie ermächtigt, zwecks Wahrnehmung der „Interessen der deutschen Partei" im Auslande tätig zu sein.

Das zu tun ist, wie wir im vollen Einverständnis mit dem Parteiausschuss ausdrücklich betonen, einzig und allein Aufgabe der Parteileitung, die ihre Pflichten auch in dieser Beziehung nach bestem Gewissen getan zu haben glaubt.

Ihr Verhalten in Stuttgart ist nach Ihrer eigenen Darstellung noch mehr zu verurteilen als Ihre Tätigkeit in Holland und Belgien. Wenn Sie sich berufen glauben, die deutsche Sozialdemokratie gründlich zu regenerieren, dann müssen wir Sie schon bitten, diese Tätigkeit zu vertagen, bis Fragen der Taktik und des Parteiprogramms in voller Öffentlichkeit erörtert werden können, damit die Genossen, die anderer Meinung sind als Sie, die Möglichkeit haben, Ihnen entgegenzutreten.

Den Standpunkt, den wir in diesem Schreiben Ihnen gegenüber vertreten, nehmen wir selbstverständlich allen Genossen gegenüber ein.

Ihrem Wunsche gemäß werden wir Ihr Schreiben vom 2. d. M. als Formulierung Ihrer Erklärungen in der Parteivorstandssitzung vom selben Tage unserm Protokoll beifügen.

Mit Parteigruß

Scheidemann

P. S. Soeben haben wir die Übersetzung einer Notiz erhalten, die in dem Kopenhagener Blatt „Politiken" am 27. September unter der Spitzmarke „Dr. Liebknecht in Belgien" abgedruckt worden ist. Wir halten es für unsere Pflicht, Ihnen die Notiz zur Kenntnis zu bringen. Sie hat folgenden Wortlaut:

(London, Samstag, Privat für ,Politiken'.)

Der Korrespondent der .Central-News' in Antwerpen telegraphiert, dass der deutsche Reichstagsabgeordnete Dr. Liebknecht, der eine Reise durch Belgien gemacht hat, das, was er dort gesehen hat, zu veröffentlichen beabsichtigt. Er erklärt, dass Deutschland durch seine Taten in Belgien sich selbst in einer schändlichen Weise entehrt hat.

Viggo Toepfer"


An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Berlin

Berlin, den 10. Oktober 1914

Werte Genossen!

Die Wahrung der Parteiinteressen ist kein Monopol der Parteileitung, wenn sie auch eine Pflicht der Parteileitung ist. Jeder Parteigenosse teilt diese Pflicht; Presse, Versammlungen, parteigenössische Besprechungen dienen ihrer Erfüllung. Noch sind wir so verdammt demokratisch, dass jeder Parteigenosse im Parteiinteresse auch gegen die höchsten Parteiinstanzen Front machen darf.

In diesen Grenzen habe ich mich gehalten; diese Grenzen lasse ich mir nicht streitig machen, von niemand; andere Grenzen lasse ich mir nicht vorschreiben, von niemand.

Auch als ich mit den ausländischen Genossen sprach, blieb ich in diesen Grenzen. Die Internationale ist trotz allem für mich noch kein leerer Wahn. Die holländischen und nicht minder die belgischen Genossen sind für mich auch heute noch Genossen, Freunde, Brüder, nach wie vor, ohne jeden Vorbehalt. Meine Empfindungen für unsere Genossen in dem armen, unglückseligen Belgien sind nur noch herzlicher geworden – trotz alledem. Genau wie für unsere französischen Genossen. Und ich weiß, dass ich dafür auch in der deutschen Sozialdemokratie Verständnis finde. Auch wenn ich sie beim Parteivorstand nicht finde, beim Parteivorstand, dessen Emissäre im Ausland u. a. den deutschen Überfall auf Belgien verteidigt und faktisch fast wie Herolde des deutschen Imperialismus gewirkt haben; beim Parteivorstand, unter dessen Augen die Partei immer tiefer in die masurischen Sümpfe eines seichten Nationalismus und Illusionismus gerät und Position auf Position bis zur kommandierten – zeitweiligen – öffentlichen Abschwörung des Klassenkampfes ohne nennenswerten Kampf räumt; beim Parteivorstand, der die Anregung auf verschärfte Propaganda gegen die Annexionshetze, diese Ausgeburt der imperialistischen Raserei, zurückwies, die am 31. August in Aussicht gestellte Proklamation gegen die Annexionspolitik und für den Frieden bis heute nicht erlassen hat, wohl aber eine Proklamation gegen Entgleisungen ausländischer Genossen und Bruderparteien; der nicht dagegen einschreitet, wenn der Brandenburger Provinzvorstand unter Führung eines Parteivorstandsmitgliedes statutwidrig meinen Wahlkreis an einer Kundgebung gegen den wahnwitzigen Völkermord zu hindern sucht, der aber unter Drohungen die Opposition gegen seine überopportunistische Politik niederzuschlagen versuchte.

Was lag der Erörterung im Parteiausschuss zugrunde? Eine einseitige, mindestens unvollständige Darstellung, die schon phantastische und widerwärtige Klatschereien geboren hat. Mich hatte man weder in noch vor der Sitzung gehört! So saß man über mich zu Gericht nicht nur im Parteiausschuss, sondern auch in der Redakteurkonferenz, und zwar auf Veranlassung des Parteivorstandes! Fünf Tage nachdem mich der Parteivorstand zweimal in contumaciam hatte verurteilen lassen, wurde derselbe Parteivorstand meiner „habhaft", um mich post festum zu hören. Ich nagele das hiermit fest. Es ist schwer, dabei die Ruhe zu bewahren. Im Übrigen: Der Parteiausschuss hat keinen Beschluss gefasst, er konnte auch keinen fassen; nicht einmal ein Parteitag könnte das, ohne zugleich Parteistatut, Parteiprogramm und das bisherige Wesen der Partei gründlich zu ändern.

Ihre Auslassung über Stuttgart ist wohl nicht ganz ernst gemeint, obwohl die Sache ernst genug ist. Nicht darum handelt es sich, als fühlte ich mich „berufen", „die deutsche Sozialdemokratie gründlich zu regenerieren", sondern dass ich meine pflichtgemäß gewonnene Überzeugung von der Notwendigkeit einer solchen Regeneration pflichtgemäß ausgesprochen habe. Und mag meine Überzeugung noch so unmaßgeblich sein, das Recht, sie zu verfechten, beruht auf einem festeren Grunde als der jetzt vom Parteivorstand unternommene Versuch, mir dieses Recht zu verschränken.

Nicht wenig verblüfft mich Ihr Verlangen nach Rücksicht auf die Wehrlosigkeit der – Kreditbewilligungsfreunde und Parteinationalisten, d. h. der Genossen, über denen jetzt die Regierungssonne trotz des Belagerungszustandes heller strahlt als je zuvor über einem Sozialdemokraten und heller, als ich wünschte, dass sie je über einem Sozialdemokraten gestrahlt hätte. Ich bitte, aus dem „Vorwärts"-Bericht über die Fischersche Versammlung vom 6. d. M., diesem Lorbeerblatt, zu entnehmen, welche Ansicht heute in Wahrheit unterdrückt ist und welche Ansicht ganz ungeniert „in voller Öffentlichkeit" erörtert wird, unter dem Schutze ihrer militärisch gesicherten Unantastbarkeit.

Die Erörterung in Stuttgart fand, wie Sie wissen, nicht „in voller Öffentlichkeit" statt, weil für sie nicht die gleiche Meinungsfreiheit besteht wie für Darlegungen à la Fischer. Es handelte sich, wie Sie wissen, um eine geschlossene Sitzung der Parteifunktionäre, in der mit genau derselben Legitimation Fragen der Taktik und des Parteiprogramms verhandelt wurden wie im Parteiausschuss, in der Redakteurkonferenz, im Parteivorstand und im Berliner Zentralvorstand. Ich kann mein Befremden nicht verhehlen, dass es nötig ist, dergleichen Selbstverständlichkeiten zu betonen. In Stuttgart obwaltete zudem das höchste Maß von Loyalität: Zur fraglichen Sitzung war Genosse Keil ausdrücklich eingeladen.

Nach alledem lehne ich sowohl das Bedauern wie die Verurteilung, mit denen mich Ihr Schreiben bedenkt, durchaus ab. Zu bedauern ist etwas ganz anderes: das ungerechtfertigte, ja unbegreifliche Vorgehen des Parteivorstandes gegen mich.

Das politische Prinzip für die gegenwärtige Situation muss sein: Wie die Sozialdemokratie zur Intensierung des Krieges international gewirkt hat, so kann sie noch heute, auch während des kriegerischen Prozesses, zu seiner Schwächung, Hemmung international wirken. Das Signal dazu hat die deutsche Sozialdemokratie zu geben, wie sie das Signal zur Intensierung des Krieges gegeben hat, jedenfalls die schwerste Schuld, eine schwerere als die übrigen Bruderparteien, an dieser Intensierung auf sich geladen hat. Ich fordere, dass dieses Signal gegeben wird. Den ausländischen Genossen habe ich von der in Aussicht gestellten Proklamation des deutschen Parteivorstandes gesprochen, die die deutsche Sozialdemokratie vor der Internationale wohl hätte rehabilitieren können.

Natürlich ist die Internationale unsterblich, weil und solange ihre objektiven Ursachen dauern. Nur ist die Frage, auf welchem Wege und in weicher Form sie wieder auferstehen wird; jedenfalls nicht ohne gründlichste Läuterung.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht

P. S. Erwähnen will ich noch, dass auch Genosse Wendel in Brüssel war und dort als deutscher Landstürmer den Genossen Huysmans von dem deutschen Recht auf Verletzung der belgischen Neutralität zu überzeugen versuchte.

Den holländischen Genossen habe ich selbstverständlich die raffinierte Regie unserer von deutscher Treue und Aufrichtigkeit bis zum Bersten gefüllten Regierung eindringlich geschildert, durch die sie sich den größten Teil des deutschen Volkes und auch der Parteigenossen dienstbar machte; die demagogischen Parolen; die Vorspiegelung feindlicher Invasionen; die Verschleierung und Verheimlichung der eigenen Offensive (Besetzung Luxemburgs, Ultimatum an Belgien vom 1. August usw.) und anderes.

Für die Mitteilung der aus der Luft gegriffenen Notiz des „Politiken" besten Dank. Gestern ist man zum dritten oder vierten Mal durch eine Mittelsperson mit dem Verlangen nach Berichtigung an mich herangetreten; wiederum unter kaum versteckter Drohung mit dem Militärknüppel. Ich bezweifle nicht, dass Sie diesen Skandal ebenso würdigen wie ich.

D.O.


An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Berlin

Berlin, den 16. Oktober 1914

Werte Genossen!

Erst jetzt wird mir bekannt, dass der Genosse Südekum seine Reise nach Schweden nicht in Ihrem Auftrage gemacht hat. Welche Tätigkeit Südekum dort außerdem noch entfaltet hat, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls hat er sich nicht darauf beschränkt, mit Parteigenossen zu sprechen, er hat auch einen Artikel veröffentlicht, der als offiziöse Verlautbarung der deutschen Partei betrachtet worden ist. In diesem Artikel, der auch sonst in eine Apologie der deutschen Regierungspolitik ausmündet, hat er u. a. den deutschen Überfall auf Belgien gerechtfertigt.

Trotz alledem hat der Parteivorstand ihn nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen, sondern alsbald vor aller Öffentlichkeit durch ein Zeichen ganz besonderen Vertrauens begnadet, indem er ihm die hochwichtige italienische Mission übertrug.

Und über mich will man zu Gericht sitzen!

Aus recht zuverlässiger Quelle erfahre ich, dass Genosse Jansson in Skandinavien herumgereist ist oder noch herumreist. Nach Blättermeldungen soll er dort erklärt haben, die deutsche Sozialdemokratie habe ihre Haltung gegenüber dem Militarismus gründlich revidiert und werde ihm auch, abgesehen von dem jetzigen Kriege, nicht mehr in der früheren Opposition gegenüberstehen; der deutsche Militarismus sei gar nicht besonders schlimm gegen die Arbeiterbewegung gewesen, nur einmal habe er auf Betreiben der christlichen Arbeiter bei Streiks eingegriffen; und ähnliches.

Ich nehme an, dass diese Meldungen, die ich natürlich durchaus nicht ohne weiteres als zuverlässig betrachten will, Ihnen nicht unbekannt geblieben sind, und frage an, ob der Parteivorstand hier bereits daran gedacht hat, die zwar in keinem anderen, wohl aber im Parteiinteresse dringend erforderliche Richtig- oder Klarstellung herbeizuführen.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht


Herrn Dr. Karl Liebknecht, M. d. R.

Groß-Lichterfelde

Berlin, den 17. Oktober 1914

Werter Genosse!

Wenn wir auf Ihre schriftlichen Ausführungen vom 10. Oktober antworten, so deshalb, weil wir einige Ihrer falschen Behauptungen nicht unwidersprochen lassen wollen. Sie sprechen von dem Parteivorstand, der Anregungen auf verschärfte Propaganda gegen die Annexionshetze zurückwies. Wenn Sie damit aussprechen wollen, dass der Parteivorstand nicht alles getan hat, was in seinen Kräften steht, um Annexionsgelüsten entgegenzuwirken, so weisen wir diese Verdächtigung zurück.

Der Parteivorstand hat ausdrücklich als Richtschnur für die Redaktionen der Parteipresse u. a. verlangt, dass sie Annexionsgelüste bekämpfen sollen. Auf Antrag des Parteivorstandes hat die Redakteurkonferenz dieses Verlangen einstimmig zu dem ihrigen gemacht. Soweit dem Parteivorstand Auslassungen in der Parteipresse über Annexionsfragen bekannt geworden sind, die vom sozialdemokratischen Standpunkt aus nicht einwandfrei waren, ist er sofort eingeschritten.

Ihr Vorwurf über die „Abschwörung des Klassenkampfes" kann nicht als ernst angesehen werden. Wenn Ihnen die Vorgänge auch nur einigermaßen bekannt sind, dann müssen Sie wissen, dass der Parteivorstand gegen das Vorgehen der Militärbehörde den entschiedensten Einspruch erhoben und den Standpunkt der Partei gewahrt hat.

Ebenso hat der Parteivorstand stets die Auffassung vertreten, dass die Verletzung der Neutralitätsverträge mit dem sozialdemokratischen Standpunkt nicht vereinbar sei. Die von ihm zur Aufrechterhaltung der internationalen Beziehungen ins Ausland geschickten Parteigenossen haben, soweit wir wissen, bei dieser Gelegenheit auch keinen davon abweichenden Standpunkt vertreten.

Ihre Bemerkungen, dass der Parteiausschuss und die Redakteurkonferenz über Sie zu Gericht gesessen hätten und dass der Parteivorstand Sie in contumaciam hätte verurteilen lassen, beruhen auf falscher Information. Richtig ist nur, dass Genosse Keil, um zu zeigen, wie man im Interesse der Partei nicht wirken soll, über Ihre Tätigkeit gesprochen und dass Genosse Crispien am nächsten Tage darauf geantwortet hat. Damit war diese Angelegenheit erledigt.

In der Redakteurkonferenz hat Genosse Scheidemann in seinem Referat auf diese Auseinandersetzungen im Parteiausschuss hingewiesen. Ihre Person ist dann überhaupt nicht mehr erwähnt worden.

Unsere Auslassungen über Ihr Stuttgarter Wirken waren sehr ernst gemeint. Wir stellen unter dem Belagerungszustand an alle Parteigenossen das Verlangen, praktische oder parteigrundsätzliche Differenzen nicht in die Reihen der Parteigenossen zu tragen, da unter dem Belagerungszustand ein freier Meinungsaustausch nicht möglich ist.

Was Sie mit Ihrer Behauptung, dass die deutsche Partei „zur Intensierung des Krieges" international gewirkt habe, verstehen, ist nicht klar. Ebenso wenig, wie Sie sich das Signal der deutschen Sozialdemokratie zur Schwächung und Hemmung des kriegerischen Prozesses denken. Die Internationale wird in ruhigen Zeiten unsere Stellung verstehen, wie wir die Stellung unserer Bruderparteien in den anderen Ländern verstehen.

Sie bemerken in Ihrem Schreiben ausdrücklich: „Den ausländischen Genossen habe ich von der in Aussicht gestellten Proklamation des deutschen Parteivorstand es gesprochen, die die deutsche Sozialdemokratie vor der Internationale wohl hätte rehabilitieren können."

Niemand hat Sie ermächtigt, irgendwo und irgendwem gegenüber von einer in Aussicht stehenden Proklamation des deutschen Parteivorstandes zu sprechen. Das haben wir Ihnen bereits am 7. Oktober geschrieben. Wir erlassen Proklamationen, sobald sie im Interesse der Partei notwendig sind, und wählen den Zeitpunkt, der der Sache am förderlichsten ist.

Ihre Bemerkungen über das angebliche Verhalten des Brandenburger Provinzialvorstandes haben Sie an die falsche Adresse gerichtet. Es liegt für uns kein Anlass vor, darauf einzugehen.

Mit Parteigruß

Ph. Scheidemann


Herrn Dr. Karl Liebknecht

Groß-Lichterfelde

Berlin, den 23. Oktober 1914

Werter Genosse!

In Beantwortung Ihres Briefes vom 16. d. M. teile ich Ihnen folgendes mit:

Für Artikel, die Genosse Südekum unter seinem Namen veröffentlicht, trägt er allein, nicht die Parteileitung, die Verantwortung. Der in Betracht kommende Artikel konnte übrigens nicht den Anschein erwecken, eine parteioffiziöse Verlautbarung zu sein. Dass Genosse Südekum gelegentlich einer nach seinen Versicherungen in einer Familienangelegenheit unternommenen Reise nach Schweden an irgendeiner Stelle als Vertreter der Partei oder der Parteileitung aufgetreten sei, ist uns gegenüber bisher von keiner Seite behauptet worden und wird von ihm entschieden bestritten. Bevor Genosse Südekum im Auftrage der Parteileitung nach Italien gereist ist, hat eine ausführliche Besprechung mit ihm stattgefunden über die ihm gestellte Aufgabe.

Aus recht zuverlässiger Quelle" haben Sie allerlei über die Tätigkeit des Genossen Jansson in Skandinavien erfahren. Sie tun gut daran, die Meldungen „natürlich durchaus nicht ohne weiteres als zuverlässig" zu betrachten, denn sie sind falsch, wie uns Genosse Jansson überzeugend dargelegt hat.C

Mit Parteigruß

Scheidemann


An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Berlin

Berlin, den 26. Oktober 1914

Werte Genossen!

Ich komme auf Ihr Schreiben vom 17. d. M. infolge dringlicher Abhaltung erst heute zurück.

Der Parteivorstand hat in der Sitzung vom 31. August meinen Vorschlag auf eine demonstrative Versammlungspropaganda gegen die Annexionshetze zurückgewiesen, weil sich in der Diskussion Parteigenossen für Annexionen aussprechen könnten, während diese Besorgnis doch gerade für solche Versammlung sprach. Der Parteivorstand hat die mir nach der erwähnten Sitzung in Aussicht gestellte Proklamation tatsächlich bisher nicht erlassen: Auf diese beiden Tatsachen bezog sich die von Ihnen „zurückgewiesene" „Verdächtigung". Selbst die erfreulichsten Bemerkungen unserer Parteipresse gegen die Annexionspolitik können eine demonstrative und offizielle Stellungnahme nicht ersetzen. Je früher eine solche Stellungnahme erstmals erfolgt wäre, umso mehr hätte sie der inzwischen hereingebrochenen Hochflut der Annexionsraserei einen Damm entgegengesetzt. Jetzt verzettelt sich unsere Propaganda auf diesem Gebiete in gelegentlichen, durch die Zensur oder die Zensurgefahr entmannten Notizen. Sie verpufft, weil ihr die aggressive Schärfe fehlt, die allein sie heute in dem Wirbelstrom des Völkerhasses und der sinnlosen Eroberungsgier vernehmlich und wirksam machen könnte, und weil sie durch annexionsfreundliche Stimmen der Parteipresse aufgehoben wird. Sie kann schon darum keinen Eindruck machen, weil die Annexionspolitik, sei sie auf Eroberungen in Europa und den Kolonien oder nur in den Kolonien gerichtet, ein organisches Glied der ganzen Regierungskriegspolitik ist, die, wie doch wohl nicht bestritten werden wird, viele Parteizeitungen und weite Parteikreise mitmachen. In dem „A", das hier ein Teil der Partei sagt, steckt bereits das ganze Alphabet der imperialistischen Politik bis zum „Z" der Annexionshetze, trotz der offenkundigen kapitalistischen und militärpolitischen Gegensätze in den herrschenden Klassen und in der Regierung, die aber nicht das für uns Wesentliche betreffen, sondern nur die Frage, ob europäische oder koloniale Expansion oder beides, und die besondere Wahl der Objekte. Bei immer weiterem Hinauszögern einer demonstrativen Kundgebung wird die immer fester eingewurzelte und immer weiter verbreitete Volksstimmung immer hoffnungsloser. Natürlich können die Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen zu einem ganz anderen Resultat führen. Wir müssen aber auch mit der hier vorausgesetzten Entwicklungsmöglichkeit rechnen und unser Verhalten auch danach einrichten. Ein bloßes Einschreiten gegen nicht einwandfreie Artikel genügt nicht. Auf meine Frage, ob dieses Einschreiten mit annähernd der gleichen Energie erfolgte, mit der man mir eine selbstverständliche Betätigung der freien Meinungsäußerung anzukreiden versucht, vermisse ich bisher die Antwort.

Beim „Vorwärts"-Konflikt handelt es sich gar nicht darum, was hinter den Kulissen mit der Militärbehörde verhandelt worden ist, sondern darum, was in aller Öffentlichkeit getan worden ist. Ich meine, dass es gewisse Dinge gibt, die man selbst unter dem Zwang der Militärdiktatur niemals tun dürfte, Dinge, die so sehr die Seele (verzeihen Sie das Wort) und die Ehre der Partei berühren, dass keine – übrigens selbst vom materiellen Standpunkte aus kurzsichtige – Rücksicht auf materielle Parteiinteressen sie rechtfertigen kann. Hier hat man nicht einmal den unter dem Sozialistengesetz doch so gewohnten Versuch gemacht, Ersatzblätter zu schaffen. Es hätte sich gelohnt! Man hat auch die Stärke der Position, die gerade der „Vorwärts" aus inner- und außerpolitischen Gründen gegenüber der Militärdiktatur hat, nicht einmal auszunutzen versucht. Man hat sofort angefangen zu „kuhhandeln" und, eh' der Hahn dreimal gekräht hatte, kapituliert.

Zur Neutralitätsfrage: Südekums Äußerungen in Stockholm und Fischers Äußerungen in Zürich waren in diesem Punkte ganz eindeutig. Darum wurde ja wohl auch gerade Südekum nicht nach Holland geschickt. Ob Südekums und Fischers Reisen nach Schweden und der Schweiz in Ihrem Auftrage „zur Aufrechterhaltung der internationalen Beziehungen" unternommen worden sind, spielt dabei um so weniger eine Rolle, als Südekum nach seiner Stockholmer Leistung als offizieller Abgesandter des Parteivorstands nach Italien fuhr, wo er, wie das bekannte Protokoll recht unverblümt ausspricht, bei den italienischen Genossen in den Verdacht geriet, auch Abgesandter des Auswärtigen Amts zu sein. Das schier endlose Register der im Ausland mit den Genossen der Bruderparteien in Beziehung getretenen deutschen Genossen möchte ich hier nur noch um den Namen des Genossen Quarck vermehren, der gewiss kein offizieller Abgesandter des Parteivorstands war und es doch für sein gutes Recht hielt, sich um die Teilnahme an der Konferenz in Lugano2 zu bemühen. Auf Schmähungen, wie sie der Genosse Ebert am Ende der Preußensitzung – nachdem die Debatte geschlossen war – gegen mich richtete, halte ich es für unter meiner Würde, einzugehen.

Zu den Vorgängen im Parteiausschuss und in der Redakteurkonferenz nur das eine: Sie haben in Ihrem Schreiben vom 7. d. M. ausdrücklich hervorgehoben, dass der Parteiausschuss einmütig eine bestimmte Ansicht über mein Verhalten in Belgien und Holland bekundet habe.

Ihre neuen Bemerkungen über Stuttgart machen auf mich keinen anderen Eindruck als die früheren. „Parteitaktische und parteigrundsätzliche Differenzen" sind unter den Parteigenossen vorhanden, sie brauchen nicht erst – wie Ihre etwas preußische Wendung lautet – „unter sie getragen" zu werden. Der verschiedene Maßstab, den Sie an die Stuttgarter Vertrauensmännersitzung und andere Parteikörperschaften anlegen, bleibt rätselhaft. Weite Parteikreise propagieren, wie Sie wissen, ganz ungeniert Tag für Tag eine ausgeprägt nationalistische Politik, fördern den „Furor teutonicus" gegen die „feindlichen Völker" und selbst gegen die Sozialisten der anderen Länder (vgl. aus Unzähligem: Chemnitzer „Volksstimme" vom 9. d. M., „Transportarbeiter-Zeitung", letzte Nummer). Die Bekämpfung dieser Anschauungen ist nur Abwehr. Zu den Ketten des Belagerungszustandes, die diese Abwehr bereits einschnüren, sollen noch die Fesseln treten, die der Parteivorstand ihr anlegen möchte. Fischer redet in der Versammlung vom 6. d. M. nach seinem Gustum und – verhindert, dass ihm erwidert wird! Keil hält in Ulm am 9. d. M. eine öffentliche Rede, die den Beifall „aller Schichten der Bevölkerung" (natürlich auch der Behörden und des Militärs) findet, und – klagt mich wegen meiner internen Stuttgarter Ausführungen vor dem Parteiausschuss an! Wahrhaftig, eine Parität gegenüber den Meinungsdifferenzen ganz à la Parität der Militärdiktatur in der Annexionsfrage, ja diese übergipfelnd. Ein Parteiburgfrieden von fabelhafter Gegenseitigkeit.

Zur Erläuterung des erwähnten taktischen Grundsatzes: Gewiss handelt es sich um einen imperialistischen Krieg, um den imperialistischen Weltkrieg, der da seit langem kommen sollte und dem wir aus allgemeinen Gründen international alle unsere Kraft entgegenzusetzen gelobt hatten; gerade wir Deutschen hatten aber besonderen Grund, uns ihm entgegenzuwerfen; der rapide emporschießende deutsche Imperialismus hatte historisch die Aggressive; es liegt ein grober deutsch-österreichischer Präventiv- und zugleich Eroberungskrieg vor. Das Märchen von feindlichen Invasionen gegen Deutschland – „war einmal"; die Parodie „Befreiungskrieg gegen den Zarismus" oder dergleichen ist längst ausgespielt. Indem unsere Fraktion – ganz entgegen der Parteihaltung noch bis zum 27., ja 30. Juli – für die Kredite stimmte, hat sie auch in den „feindlichen" Ländern alle Dämme niedergerissen, die dort gegen den Krieg bestanden. Sie hat zwar Deutschlands militärische Kraft gestärkt, zugleich aber diejenige der „feindlichen" Staaten. Ohne die Abstimmung unserer Fraktion vom 4. August dieses Jahres hätte der Krieg weder in Frankreich noch vor allem in England und Russland so populär werden können. Die französische Abstimmung vom 4. August, die überdies nach der Besetzung Luxemburgs und dem ersten deutschen Ultimatum an Belgien, zwei schwersten Angriffshandlungen Deutschlands gegen Frankreich, erfolgt ist, stand bereits unter dem Eindruck der schon vor ihrer wirklichen Abfassung prophetisch von der Presse hinausposaunten Beschlüsse unserer Fraktion, womit ich sie selbstverständlich keineswegs rechtfertigen will. Das ist die Intensierung des Krieges unter dem Vortritt der deutschen Sozialdemokratie, von der ich sprach. Ebenso wie diese Intensierung nach dem Anerkenntnis selbst der Regierung stattgefunden hat, muss auch durch ein entgegengesetztes Verhalten eine Abschwächung des kriegerischen Prozesses möglich sein, eine Abschwächung, die im Interesse des deutschen Volkes und der ganzen Menschheit liegen würde. Die deutsche Sozialdemokratie muss auch hier den Vortritt haben. Ich zweifle nicht, dass die Bruderparteien der anderen kriegführenden Staaten nachfolgen werden. Eine Proklamation, die den Willen zur Beendigung des Krieges, zur internationalen Solidarität, zur Selbstbestimmung der Völker und zur Bekämpfung jeder Annexion klar ausdrückt, wäre eine Erlösung, würde beim Proletariat der ganzen Welt befreiend wirken und die auf eine Beendigung des Krieges gerichteten Tendenzen zum Heil aller Völker international verstärken. Käme unter solchem Einfluss ein für keinen Teil demütigender Friede zustande, so wäre dies gleichzeitig die stärkste Friedenssicherung für die Zukunft, die Friedenssicherung durch internationale Solidarisierung der Völker. Das ist die einzig mögliche sozialistische Politik, die da sein muss, eine Politik vom Standpunkt der Internationale; eine Politik, deren unmittelbare Schwierigkeiten ich natürlich nicht verkenne, die aber doch gemacht werden muss, wenn wir unsere historische Aufgabe erfüllen und nicht vor dem Imperialismus kapitulieren wollen.

Diese Politik wäre allerdings eine andere als die des Genossen Bauer, der sich „das jetzige Entgegenkommen der Regierung nicht verscherzen" will, und als jene, die in dem militärparteifrommen „Vorwärts"-Bericht über die Landtagssitzung vom 22. d. M. ihren Ausdruck fand; sie wäre etwas ganz anderes als eine Politik, die noch tiefer unter der Parole „Kanonen für Volksrechte" steht und vielmehr das Motto verdient: „Durch Selbstverstümmelung zum Sieg!", als eine Politik, die verkennt, dass nur ertrotzte Volksrechte innere Realität besitzen und auch Rechte den Makel ihrer Geburt mit sich schleppen müssen.

Wenn die Internationale Ihre Haltung verstehen wird, so wird sie sie, wie ich hoffe, auch verwerfen und ihre Zukunft danach einrichten.

Von der in Aussicht gestellten Proklamation des Parteivorstandes durfte ich im intimen Kreise sprechen, nachdem mir ganz offiziell mitgeteilt war, dass sie beschlossen, und ich annehmen musste, dass sie bereits ergangen sei. Die Mitteilung diente dem Zweck, die Missstimmung gegen die deutsche Partei zu verringern.

Ihr Brief vom 23. d. M. bestätigt die Berechtigung meines Erstaunens über das verschiedene Maß, mit dem Sie Südekum und mich messen. Wenn die Meldungen über den Genossen Jansson falsch sind, so kann mich das nur befriedigen. Sie werden aber verstehen, dass es mich nach den Erfahrungen der letzten Monate fast wundern will.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht

An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Berlin

Berlin, den 31. Oktober 1914

Werte Genossen!

Im heutigen „Vorwärts" ist über Müllers Wirksamkeit in Holland zu lesen. Ich darf wohl erwarten, dass Sie die Notiz Ihrem Protokoll vom 2. d. M. zur Beleuchtung beilegen.

Nachdem die bürgerliche Presse der letzten Tage mit verstärkter Wucht die Annexion Belgiens, der „Wiege des Deutschtums", zum Glaubenssatz „vaterländischer" Politik, „völkischer" Gesinnung erhoben und die deutsche Verwaltung in Belgien und Nordostfrankreich die Zwangsgermanisierung durch Einführung deutscher Ortsnamen begonnen hat, entpuppt die heutige Kriegszeitung des „Lokal-Anzeigers" einen der Kerne des deutsch-imperialistischen Pudels, auf den ich vom ersten Kriegstage an immer wieder hingewiesen habe und den niemand übersehen konnte: den Plan einer Annexion der französisch-lothringischen Minenfelder im Interesse der deutschen Schwerindustrie, der Röchling, Stumm (von Schubert), Krupp, Kirdorf und Genossen, die diese Beute tatsächlich sofort in eigene Regie zu nehmen sich angeschickt haben. Der offiziöse „Lokal-Anzeiger", vorzüglicher Wortführer der schwerindustriellen Einflüsse in der Regierung, „nimmt mit Bestimmtheit an", dass diese Maßnahme „nicht nur ein vorübergehendes politisches und wirtschaftliches Interesse" besitzt, und stellt fest, dass „die deutschen Erfolge in Französisch-Lothringen den (deutsch-luxemburgischen) Verarbeitern des französischen Rohmaterials ihre Lebensbedingungen verstärkt" haben.

Das ist deutlich! Man richtet sich bereits häuslich ein, wie es in Belgien, allerdings in etwas anderer Form, schon früher geschah. Zu diesem Vorgehen benutzt man den Moment des türkischen Eingreifens in den Krieg, von dem man sich – vielleicht sehr zu Unrecht – eine Erleichterung der deutschen Lage erwartet.

Ich wiederhole die Forderung nach einer parteioffiziellen öffentlichen und scharfen Stellungnahme gegen die Annexionspolitik. Der Moment gebietet sie. Die deutsche Sozialdemokratie darf hier nicht schweigen. Es ist höchste Zeit! Hinter dem Wagen der Politik polternd herlaufen, wenn er bereits abgefahren ist, ist gewiss ein Vergnügen eigener Art; ich meine aber, wir müssen mindestens versuchen, uns mit auf den Kutschbock zu setzen.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht

B Es handelte sich um Nachforschungen über einen nahen Verwandten, der bei Kriegsausbruch Student in Lüttich und seitdem verschollen war.

1 Vom 4. bis 12. September 1914 besuchte Karl Liebknecht mehrere Städte Belgiens. Obwohl er den Behörden als Zweck seiner Reise Nachforschungen über den Verbleib eines nahen Verwandten, der bei Kriegsausbruch in Lüttich studierte und seitdem verschollen war, angab, hatte sie vorwiegend politischen Charakter. Er informierte sich über die brutale Kriegführung des deutschen Militarismus in Belgien und hatte Begegnungen mit führenden Vertretern der belgischen und niederländischen Arbeiterbewegung, denen er ein wahrheitsgetreues Bild über die Situation in der deutschen Partei vermittelte.

Die erste Station seiner Reise war Lüttich, wo er unter anderem mit Troclet (Deputierter für Lüttich) und Clajot (Sekretär des Bergarbeiterverbandes) zusammentraf. Er überzeugte sich davon, dass am 20. August belgische Zivilisten von deutschem Militär auf dem Platz der Universität niedergemetzelt worden waren. Danach besuchte er Namur, Andenne und Huy. Clajot und Bologne (Deputierter für Namur) begleiteten ihn auf diesem Teil der Reise. Über Thienen führte seine Reise weiter nach Brüssel. Dort besuchte er das Büro der belgischen Sozialdemokratie und das Internationale Sozialistische Büro der II. Internationale. Er führte u. a. Gespräche mit dessen Sekretär Huysmans und dem belgischen Arbeiterführer Vandersmissen. Huysmans begleitete Liebknecht schließlich zur letzten Station seiner Reise, nach Löwen. Anschließend fuhr Liebknecht in die niederländische Hauptstadt Amsterdam.

C Tatsächlich hat Jansson doch in schwedischen Zeitungen den deutschen Militarismus gegen gewisse Vorwürfe verteidigt, so wurde z. B. behauptet, er sei – im Gegensatz zum Militarismus anderer Länder – eigentlich nur einmal, und zwar auf Verlangen christlich-sozialer Streikbrecher, bei sozialen Kämpfen gegen die Arbeiterschaft in die Schranken getreten.

2 Konferenz von Lugano – Am 27. September 1914 fand in Lugano (Schweiz) eine Konferenz von Sozialdemokraten aus der Schweiz und aus Italien statt. Die Teilnehmer setzten sich für die weitere Neutralität beider Staaten ein und befürworteten die Wiederaufnahme der Beziehungen der sozialdemokratischen Parteien der am Krieg beteiligten Staaten. Schweizer Sozialdemokraten legten der Konferenz auch Lenins Thesen „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg" (W. I. Lenin: Werke, Bd. 21, S. 1-5) vor. Viele Leitsätze wurden in die Resolution der Konferenz aufgenommen.

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