Einleitung

Einleitung

Ein kleines Vorspiel

Am 12. Juli 1914, d. h. elf Tage, bevor das österreichische Ultimatum den Frieden zerfetzte, fand im französischen Condé sur l'Escaut bei Valenciennes, dicht an der belgischen Grenze, im Herzen des gewaltigen französisch-belgischen Industriegebietes, über das kaum einen Monat später die entfesselte Kriegsbraut raste, eine denkwürdige Friedenskundgebung statt. Organisatoren waren die französischen Genossen Tabary und Delcourt, Redner die Genossen Roldes (Mitglied des französischen Nationalrats und der Kammer) und Jean Longuet für Frankreich, Vandersmissen für Belgien, Liebknecht für Deutschland.

Die Straßen von Condé waren mit Girlanden, Tafeln, Plakaten reich geschmückt, die in vielen Sprüchen Krieg dem Kriege predigten. Über 20.000 Arbeiter aus der französischen und belgischen Umgebung mit Hunderten von Fahnen und Standarten nahmen an dem Umzug durch das altertümliche Städtchen und an der anschließenden Versammlung teil, die auf einer Wiese vor den Toren stattfand. Roldes kennzeichnete die korrumpierende und intrigante Rolle der Waffenindustrie aller Länder, der Krupp, der Waffen- und Munitionsfabriken, der Schneider-Creusot. Longuet und Vandersmissen beleuchteten die Lasten und Gefahren des Militarismus und die Aufgaben des Proletariats gegenüber den Treibereien der Chauvinisten und Imperialisten aller Länder.

Wir folgen weiter einem Bericht des Karlsruher „Volksfreund" vom 18. Juli 1914:

Nun kam der deutsche Redner, von unaufhörlichen Rufen empfangen: ,Vive l'Internationale', ,A bas la guerre', ,Vive l'Allemagne' (,Hoch Deutschland!'). Ja, aus Tausenden von Kehlen erscholl auf französischem Boden der Ruf ,Vive l'Allemagne!', als der Deutsche aufstand, um das Wort zu ergreifen. Dieses ,Vive l'Allemagne', dieses ,Es lebe Deutschland!', hatte in dem Munde der Tausende von französischen Arbeitern auf französischem Boden, hundert Meter von einer" französischen Infanteriekaserne entfernt, etwas tief Ergreifendes. Als die Ovationen … nicht enden wollten, erhob sich der Vorsitzende der Versammlung und drückte seine Freude darüber aus, dass die französischen Arbeiter ,Es lebe Deutschland!' rufen. Damit sei aber nicht das Deutschland der Hohenzollern, der Krupp, der deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, der Liebert oder sonstigen militaristischen Cliquen gemeint, sondern das Deutschland der Goethe und Schiller, das Deutschland der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur und vor allem das sozialdemokratische Deutschland."

Liebknecht sprach von den Ursachen der Kriegsgefahren, von der Solidarität der Arbeiterklasse, die in allen Ländern in gleicher Not, ausgebeutet vom internationalen Kapital, dahinlebt, vom vaterlandslosen Kapital, das die patriotische Phrase nur zu Profitzwecken nützt, dem Krieg und Friede nur Geschäft ist. Die Staatengrenzen dienen nicht den Interessen der Volksmassen. „Qu'est-ce que c'est que nous separe? Rien. Qu'est-ce que c'est que nous unit? Tout." („Was ist's, das uns trennt? Nichts. Was ist's, das uns einigt? Alles.") Die Ansprache schloss mit dem Aufruf zur Sammlung aller Kräfte der Internationale zum Kampf, zum internationalen Klassenkampf gegen die Kriegshetzer, für den Frieden. Dieser Aufruf fand stürmischen Beifall. „Eine junge Arbeiterin trug die Marseillaise de la Paix von Lamartine vor. Eine Resolution, worin die Versammelten sich verpflichteten, ihre ganze Kraft im Kampfe gegen den Krieg einzusetzen, wurde einstimmig und begeistert unter den Rufen: .Nieder mit dem Krieg!' ,Es lebe der Friede!' ,Es lebe Deutschland!' ,Es lebe die Internationale!' angenommen, und unter dem Gesang sozialistischer Lieder zogen alle – die roten Fahnen weit aufgerollt – ins ruhige Städtchen und nach ihren Wohnorten zurück."

Einem Briefe Liebknechts von Ende August sei folgendes entnommen: „Am 13. Juli früh fuhr ich mit Longuet nach Paris zur Kammersitzung, in der die Deckungsvorlage beraten wurde. Wir sahen den pompösen militärischen Einzug des Kammerpräsidenten, unterhielten uns mit dem Minister der Justiz Bienvenu-Martin über die brennende Amnestiefrage. Der Minister des Innern Malvy sprach uns wegen eines Missgriffs der Polizei von Condé sein lebhaftes Bedauern aus und versicherte, dass das Vorgefallene den Intentionen der Regierung durchaus nicht entspreche. Jaurès war so kampffrisch wie je, hinreißend und voll strömender, wärmender Kraft.

Wir erörterten die politische Lage. Meine Bemerkung: ,Die Demokratisierung Preußens ist nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Frage', unterstrich er nachdrücklich und ernst: ,C'est une question européenne!'

In der Sitzung hielt Sembat eine seiner feinen, geistreich-pointierten Reden. Mit Longuet zog ich zum Nationalrat der Partei, der den am 14. Juli, dem Tage des Bastillefestes, beginnenden Nationalkongress vorbereitete. In der Redaktion der ,Humanité' trafen wir von neuem Jaurès. Am Nachmittag dieses Tages, des 13. Juli, hatte der Senator Humbert seine berühmte Rede über die Missstände in der französischen Heeresverwaltung gehalten. Unter einem Haufen lärmender, hin- und herlaufender Menschen schrieb Jaurès mit einer Konzentration, die sein Hirn mit dreifacher Mauer von der Außenwelt abzusperren schien, in wenigen Minuten seinen Artikel über diese Affäre. Wir blieben dann – ein größerer Freundeskreis – bis tief in die Nacht beisammen; Jaurès unerschöpflich in Scherz und Ernst.

Paris tanzte – tanzte überall – in den Wirtschaften, in den Cafés, auf den Straßen, auf den Plätzen. Fête nationale, Fête de la République. Paris tanzte nach den diskreten Klängen der Musikkapellen, deren rasch errichtete Pavillons über die ganze Stadt verstreut lagen. Paris tanzte – alt und jung, arm und reich, geputzt und zerschlissen. Es tanzte behend und graziös – es tanzte fast lautlos – kein brutaler Ton, kein rohes Lachen, keine gemeine Geste, kein Stoßen, kein derbes Gedränge. Wundersam verhalten schien mir die Heiterkeit, die in der hellen Julinacht diese bewegliche, hüpfende, schwebende, wogende Menge erfüllte.

Heute will es mir scheinen, als habe eine düstere Ahnung des Fürchterlichen, was da zehn Tage später kam, auf ihr gelastet. Ein gespenstiger danse macabre – ich werde diese Vorstellung nicht mehr los.

Wir saßen im Café des Grand Hotel auf dem Boulevard. Freund Duc sprach böseste Prophezeiungen aus für die nächste Zukunft, die mein Optimismus selbstsicher beiseite schob. Spät trennten wir uns. Das war mein Abschied von Jaurès. Ich fuhr mit nach Longuets kleinem Häuschen in Châtenay. Die ganze Nacht zwitscherte es über den grünen Fluren. Am 14. gelang mir noch ein kurzer Blick in den Nationalkongress, der seine klugen Beratungen über die dem Wiener Kongress1 vorzuschlagende Antikriegstaktik pflog. Weill hatte eine enthusiastisch aufgenommene Ansprache gehalten. ,Er spricht wie ein Franzose, wie ist das möglich?', meint ein Genosse. ,Er ist so gut Franzose wie ich und du', antwortet Morizet. Ein kurzer, herzlicher Abschied von Renaudel und den anderen. Dann in rascher Fahrt durch das gesegnete Land nach Basel zu, über Belfort, wo große Massen von Deutsch-Elsässern zur Heimkehr einsteigen: Sie waren zum Nationalfest über die Grenze gezogen, zahlreicher wohl als je. Die Zabernaffäre hält die Gemüter noch in Hitze. Da liegen die Vogesen in dunstiger Dämmerung – friedlich ladend – ein Asyl der Unrast, heute ein blutiges Leichenfeld, hallend vom Brüllen der Kanonen. In Basel zischt von der Münsterterrasse das letzte Feuerwerk in den schwarzen Himmel. Man feiert das ,Franzosenfest' auch hier in der deutschen Schweiz.

Diese Erinnerungen sind mir ins Hirn eingebrannt. Sie begleiten mich seit dem 23. Juli 1914, wo immer ich bin."

Der Ausbruch des Weltkrieges

Am 23. Juli 1914 erging mit 48 Stunden Frist das Ultimatum Österreichs an Serbien. Die „Rheinisch-Westfälische Zeitung" bemerkte dazu:

Das österreichisch-ungarische Ultimatum ist nichts als ein Kriegsvorwand, aber diesmal ein gefährlicher. Wie es scheint, stehen wir dicht vor einem österreichisch-serbischen Kriege. Es ist möglich, dass wir osteuropäische Brände mit Gewehren löschen müssen, aus Verträgen oder aus dem Zwange des Tages. Aber es ist ein Skandal, wenn die Reichsregierung nicht in Wien verlangt hätte, dass solche Endgebote ihr vorher vorgelegt werden. Heute bleibt nur eins übrig, zu erklären: Für Kriege der habsburgischen Eroberungspolitik sind wir nicht verpflichtet."

Dies griff die „Post" auf und unterstrich es. (Vgl. „Vorwärts" vom 25. Juli 1914, Nr. 200a.)

Am 25. Juli 1914 schrieb der „Vorwärts" von den „tobenden Berserkern in Wien":

Sie wollen den Krieg, die gewissenlosen Elemente, die in der Wiener Hofburg Einfluss haben und Ausschlag geben. Sie wollen den Krieg – aus dem Geschrei der schwarzgelben Hetzpresse klang es seit Wochen heraus … Das österreichische Ultimatum an Serbien kann der Fidibus sein, mit dem Europa an allen vier Ecken in Brand gesteckt wird! Denn dieses Ultimatum ist in seiner Fassung wie in seinen Forderungen derartig unverschämt, dass eine serbische Regierung, die demütig vor dieser Note zurück wiche, mit der Möglichkeit rechnen muss, von den Volksmassen zwischen Diner und Dessert davon gejagt zu werden … Ein Frevel der chauvinistischen Presse Deutschlands war es, den teuren Bundesgenossen in seinen Kriegsgelüsten auf das äußerste anzustacheln, und sonder Zweifel hat auch Herr von Bethmann Hollweg Herrn Berchtold seine Rückendeckung zugesagt. Aber in Berlin spielt man dabei ein genauso gefährliches Spiel wie in Wien."

Am 24. Juli schrieb er: „Die deutsche Sozialdemokratie macht die deutsche Regierung mitverantwortlich für alle künftigen Schritte Österreichs."

Und die „Leipziger Volkszeitung" vom 24. Juli 1914: „Es ist undenkbar, dass ein selbständiges Staatswesen solche Vorschriften und Forderungen akzeptieren kann … In Österreich sind die chauvinistischen Kreise ganz besonders bankrott, ihr nationales Geheul soll ihren wirtschaftlichen Ruin verdecken und der Raub und Mord des Krieges ihre Kassen füllen."

Die „Münchener Post" vom 25. Juli 1914: „Diese österreichische Note ist ein Aktenstück, das in der Geschichte der letzten Jahrhunderte nicht seinesgleichen hat. Es stellt … Forderungen an Serbien, deren Annahme dem Selbstmord dieses Staates gleichkäme."

Die Breslauer „Volkswacht" vom 24. Juli 1914: „Das Ultimatum trägt einen so provokatorischen Charakter, dass es von Serbien nur erfüllt werden kann und wird, wenn es sich wirklich ganz allein und ohne Rückhalt fühlt."

Die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung" vom 24. Juli 1914: „Österreich provoziert Serbien; Österreich will den Krieg, begeht ein Verbrechen, das ganz Europa in Blut ersäufen kann."

Der „Lübecker Volksbote" vom 31. Juli 1914: „Das ist die Politik der Verzweiflung, des Wahnsinns …, aber die gierigen Geldraffer, die zum Kriege hetzen, und die jämmerlichen Politiker wissen nicht mehr aus noch ein."

Im Aufruf des deutschen Parteivorstandes vom 25. Juli 1914 heißt es: „Schon wieder schickt sich die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen." Es wird darin „schärfster Protest" gegen „die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung" erhoben, deren Forderungen als unerhört brutal bezeichnet werden; das „verbrecherische Treiben der Kriegshetzer" wird gebrandmarkt und „gebieterisch gefordert", dass die deutsche Regierung erstens „ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe" und zweitens, „falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung enthalte. Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, dem imperialistischen Profitinteresse geopfert werden." Den Parteigenossen wird zugerufen: „Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen."

Über die Aufgaben der deutschen Arbeiterklasse in dieser Situation schrieb die „Leipziger Volkszeitung" am 24. Juli 1914: „Das österreichische Proletariat scheint dem Wahnsinn des Chauvinismus gegenüber noch machtlos zu sein. Wir Deutschen haben deshalb die Pflicht, … doppelt tatkräftig zu sein … Ein Weltkrieg ist die Entfesselung der Hölle für die Völker Europas, insbesondere aber für die Ausgebeuteten und Bedrückten. In den Qualen dieser Hölle wird die letzte Täuschung über diese Ordnung, die noch in irgendeinem Proletarierhirn nistet, zuschanden werden.

Die Herrschenden sind gewarnt – das Proletariat will den Frieden! Erhält es den Krieg, so wird es auch in seinen Stürmen und Gräueln seine Ziele nicht vergessen."

Die Essener „Arbeiterzeitung" vom 24. Juli 1914 ruft den Herrschenden in Deutschland und Österreich zu: „Hütet euch, das Kriegsgespenst heraufzubeschwören! Ihr seid es letzten Endes, die die Zeche bezahlen!"

Die „Bergische Arbeiterstimme" vom 24. Juli 1914 sagt: „In Deutschland aber dürfen es die Machthaber … nicht wagen, das Leben eines einzigen Soldaten für die verbrecherische Machtpolitik der Habsburger aufs Spiel zu setzen, ohne den Volkszorn gegen sich heraufzubeschwören."

Im Aufruf des Parteivorstandes vom 25. Juli 1914, der zu Friedenskundgebungen auffordert, lautet es ähnlich; er schließt: „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!"

Im Aufruf des Parteivorstandes vom 31. Juli 1914 – nach Verhängung des Kriegszustandes – stehen die Worte: „Nicht mit fatalistischem Gleichmut werden wir die kommenden Ereignisse durchleben. Wir werden unserer Sache treu bleiben, werden fest zusammenhalten, durchdrungen von der erhabenen Größe unserer Kulturmission …"

An diesen ehernen Worten möge man die spätere „Haltung" der Partei messen.

Die Regie

Das „Echo de Paris" berichtete, der deutsche Botschafter in Paris, von Schön, habe dem französischen Minister des Äußeren eine Note überreicht, die folgendes enthalten habe:

1. dass die deutsche Regierung sowohl den Inhalt wie die Form der österreichischen Note vollkommen billigt,

2. dass die deutsche Regierung hofft, die Diskussion zwischen Wien und Belgrad werde lokalisiert bleiben,

3. dass, wenn eine dritte Macht intervenieren würde, daraus eine schwere Spannung zwischen den beiden großen Mächtegruppen in Europa entstehen würde.

Dazu wurde in deutschen Blättern bemerkt, dass es sich um keine Note gehandelt habe, sondern Herr von Schön habe Viviani nur gesprächsweise erklärt, dass Deutschland sich in völliger Übereinstimmung mit Österreich befinde, den Inhalt der Note an Serbien durchaus billige und dass im Fall des Eingreifens einer dritten Macht, das die deutsche Regierung nicht erwarte, der Bündnisfall allerdings gegeben wäre. („Vorwärts" vom 25. Juli 1914, Nr. 200a.)

Es folgte ein Wolff-Telegramm aus Paris vom 25. Juli: „Wir sind in der Lage festzustellen, dass die mündlichen Mitteilungen, welche der Botschafter Freiherr von Schön dem interimistischen Minister des Äußeren Bienvenu-Martin gemacht hat, keineswegs eine drohende Spitze enthalten, wie sie in der sonst durch ihre Indiskretion befremdenden Meldung des ,Echo de Paris' zum Ausdruck gelangte. Ebenso ist die Schlussfolgerung des Blattes, dass die österreichische Note das Ergebnis einer Verabredung zwischen Deutschland und Österreich sei, unzutreffend."

Die gleichzeitig am 25. Juli von der französischen „Agence Havas" veröffentlichte Note (aus Paris datiert) lautet erstaunlich leichtgläubig und optimistisch: „Aus Informationen aus autorisierter Quelle geht hervor, dass vor der Absendung der Note an Serbien keine Verständigung zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn stattgefunden hat. Deutschland beschränkt sich darauf, diese Note zu billigen, die nicht den Charakter eines Ultimatums hat, sondern die Forderung nach einer Antwort mit befristeter Zeit darstellt. Seine Haltung ist mit Unrecht so dargestellt worden, als ob sie eine Drohung bedeute. Sie darf nur interpretiert werden als Kennzeichnung des Wunsches, dass die Meinungsverschiedenheit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien lokalisiert bleiben möge."

Die halbamtliche „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" richtete gegen alle Optimisten jedoch bereits am 26. Juli 1914 an der Spitze ihrer Wochenschau folgenden kalten Wasserstrahl: „Die … von Österreich-Ungarn an Serbien gestellten Forderungen müssen gerechtfertigt erscheinen … Sollte wider Erwarten Serbien diese Forderungen ablehnen, so hoffen wir, dass im Gefühl des Ernstes der Lage die Regierungen der Großmächte sich sämtlich angelegen sein lassen werden zu verhüten, dass aus der unvermeidlichen österreichisch-serbischen Auseinandersetzung weiter um sich greifende Verwicklungen hervorgehen."

Man erkennt schon hier das Wechselspiel mit verteilten Rollen, dem gewiss zum Teil Interessen- und Meinungsgegensätze in der Regierung und unter ihren Drahtziehern zugrunde liegen.

Am 30. Juli 1914 wurde mittags in Berlin ein Extrablatt des „Lokal-Anzeigers" verbreitet, das die Mobilisation des ganzen deutschen Heeres und der ganzen deutschen Flotte meldete. Wenn auch eine halbe Stunde später ein zweites Extrablatt des „Lokal-Anzeigers" diese Meldung als unrichtig bezeichnete, so war sie doch in die Welt gesetzt und tat in Petersburg und Paris ihre unausbleibliche Wirkung.

Ein Artikel, der damals durch die Parteipresse lief, spricht von einem „Verbrechen" und betont: „Es ist kaum daran zu zweifeln, dass das Extrablatt des als offiziös bekannten Blattes ein Werk der (deutschen) Kriegspartei war, die die Regierung vor eine vollendete Tatsache stellen wollte …"

Am 28. Juli hatte der Telegrammwechsel zwischen dem deutschen Kaiser und dem Zaren eingesetzt, der – ganz heilig-allianzlich – mit dem kaiserlichen Appell an die internationale Solidarität der Fürsten aller Länder in puncto der politischen Attentate anhub, dem deutschen Publikum einseitig zurechtgestutzt mitgeteilt und mit einer Demagogie ohnegleichen ausgenutzt wurde.

Die Wandlung

Ende Juli trat in einer großen Zahl von Parteizeitungen ein völliger Umschwung ein.

Am 31. Juli und 1. August machte ein Artikel die Runde, in dem es hieß: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die Arbeiter das Wort einlösen, das von ihren Vertretern für sie abgegeben worden ist. Die vaterlandslosen Gesellen werden ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen."

Die „Münchener Post" schrieb am 1. August: „In der Pflicht der Landesverteidigung gegen das Blutzarentum lassen wir uns nicht zu Bürgern zweiter Klasse machen."

Die Mannheimer „Volksstimme" vom 31. Juli beteuerte, dass „die letzte Entscheidung über alle Klassenunterschiede und Weltanschauungen … hinweg ein einiges, allseitig geschlossenes Volk finden" werde, „bereit, mit dem letzten Blutstropfen die Unabhängigkeit und Größe Deutschlands gegen jeden Feind zu verteidigen".

Ähnliche Gelübde künftiger Kriegsbegeisterung legten damals auch andere Zeitungen ab, und schon bei den Friedensdemonstrationen, in der Maienblüte des Kampfes gegen den Weltkrieg, hatten manche sozialdemokratische Redner das zum Krieg einladende Rezept ausgegeben: „Bis – aber nur bis Kriegsausbruch: Krieg dem Kriege! Kommt der Krieg doch: Mit Herz und Hand fürs Vaterland!"

Eine raffinierte Regie hatte es verstanden, mit erstaunlicher Geschicklichkeit Russland in die Rolle des frechen Friedensstörers zu schieben, die noch wenige Tage vorher für fast die ganze öffentliche Meinung Deutschland und Osterreich gespielt hatten. Die aufgeregte Kritiklosigkeit erleichterte das diplomatische Spiel.

Die – noch im Februar 1915 von der Chemnitzer „Volksstimme" galvanisierte – Parole „Gegen den Zarismus" trat in verwirrende Aktion.

Die Frankfurter „Volksstimme" vom 31. Juli schrieb: „Mussten sie (die deutschen Arbeiter) sich aber noch der Mehrheit und Gewalt fügen – ihre ganze Energie und ihre ganze Sehnsucht als Krieger im Felde würde sich zuwenden dem Sturz des Zarismus und seines Blutregiments."

Ebenso zahlreiche andere Blätter. Dabei sei an zwei Tatsachen erinnert: an das Wort, das der Kriegsminister bei den Beratungen der Budgetkommission des Reichstages von 1913 gesprochen hatte, der sozialdemokratische Antimilitarismus schrecke ihn nicht; wenn es heiße „Gegen den Zarismus", so marschiere die ganze Sozialdemokratie, und an die Bemerkung eines hohen deutschen Regierungsbeamten nach Ausbruch des Krieges: „Nicht wahr, unsere Parole ,Gegen den Zarismus' hat doch famos gewirkt?"

Während die deutschen Streitkräfte nach Westen und Osten vorstießen, wurden mit entrüstetem Lärm angebliche feindliche Invasionen gemeldet.

Amtlich wurden am 1. und 2. August 1914 von der deutschen Regierung die aufpeitschenden – schon 1870 erprobten – Tartarennachrichten von Brunnenvergiftungen durch französische Offiziere und Ärzte und ähnliches verbreitet; amtlich wurde die ganze deutsche Bevölkerung gegen die in Bausch und Bogen als spionageverdächtig bezeichneten Ausländer gehetzt. Erst als diese amtlichen Kundgebungen das Volk in die angestrebten chauvinistischen Delirien, in einen wahrhaft manischen Zustand versetzt hatten, wurden sie dementiert.

All dies geschah unter dem bleiernen Druck des Belagerungszustandes, der jedes Wort der Kritik und Vernunft erstickte.

Unter dem Titel „Wie Russland Deutschland hinterging und den europäischen Krieg entfesselte" wurde das deutsche Weißbuch in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet. „Der Zar hat unsern Kaiser betrogen", so meinten viele gute Seelen, „darum müssen wir den Krieg führen!" Die Politik wurde zur Kinderstube und zum Narrenhaus. Wenn die Welt nach altem Spruch mit wenig Weisheit regiert wird, so meinte man um die Wende Juli/August 1914, das deutsche Volk werde noch immer mit viel mehr Weisheit regiert, als es verdient.

Die Internationale in den letzten Zügen

Nachdem am 29. Juli die denkwürdige Sitzung des Internationalen Büros in Brüssel2 stattgefunden hatte, fuhr Genosse Müller am 31. Juli im Auftrage des deutschen Partei- und Fraktionsvorstands nach Paris, um Fühlung wegen eines etwaigen Einvernehmens zwischen der französischen und der deutschen Partei zu nehmen. Irgendeine Instruktion über die voraussichtliche Haltung der deutschen Reichstagsfraktion oder einen Vorschlag zu einer gemeinsamen Aktion hatte er nicht mit erhalten; seine persönliche Auffassung sprach er nach einer Version dahin aus, dass die Kredite voraussichtlich von der deutschen Fraktion nicht abgelehnt würden. Nach Angabe der französischen Genossen, die dann auch von Müllers Dolmetscher, dem Genossen de Man, bestätigt und von Müller nicht widerlegt worden ist, soll er Ablehnung oder Enthaltung in Aussicht gestellt haben („L’Humanité", 26. Februar 1915). Jaurès war in der Nacht vor Müllers Ankunft in Paris ermordet. Nur ein kleiner Teil der französischen Fraktion war erreichbar. Es ergaben sich drei Strömungen: für Ablehnung, für Enthaltung, für Annahme der Kriegsvorlage. Eine hoffnungsvolle und bestimmte Zusicherung über die Haltung der französischen Fraktion konnte Müller auf seine nichts weniger als hoffnungsvollen und bestimmten Mitteilungen nicht erhalten, zumal sich die deutschen Angriffshandlungen gegen Luxemburg und Belgien, das heißt gegen Frankreich, bereits klar abzeichneten. Sowenig er aus Berlin nach Paris gebracht hatte, ebenso wenig brachte er aus Paris nach Berlin – nachdem der Krieg bereits ausgebrochen war.

Die Offenbarungen der Diplomatie

Das Anfang August 1914 erschienene deutsche Weißbuch enthält ganze 29 Dokumente; das Ende Januar 1915 erschienene österreichische Rotbuch ganze 69; das im August vorgelegte englische Blaubuch 159; das im September 1914 herausgegebene französische Gelbbuch neben zahlreichen „Annexen" 160; das russische Orangebuch 79; das im September 1914 erschienene belgische Graubuch außer den Annexen 79 Dokumente.

Die 29 Urkunden des deutschen Weißbuchs datieren vom 23. Juli bis 1. August 1914; die 69 des österreichischen Rotbuchs vom 29. Juni bis zum 24. August 1914; die 159 des englischen Blaubuchs vom 20. Juli bis 4. August; die 160 des französischen Gelbbuchs (abgesehen von den sechs noch früheren „Avertissements") vom 28. Juni bis zum 2. August 1914; die 79 des russischen Orangebuchs vom 23. Juli bis zum 6. August 1914; die 79 des belgischen Graubuchs vom 24. Juli bis zum 29. August 1914.

Das deutsche Weißbuch beginnt mit dem österreichischen Ultimatum an Serbien, d. h. dort, wo es aufhören und nicht anfangen dürfte. Es bringt kein einziges Dokument über die entscheidende Vorgeschichte des Ultimatums, über die Verhandlungen zwischen Berlin und Wien. Es fehlt darin auch das erst im Februar 1915 von der russischen Regierung publizierte, von der deutschen Regierung angeblich nicht für „ausschlaggebend" erachtete (vgl. „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" vom 4. Februar 1915) Telegramm des Zaren vom 29. Juli 1914 an den deutschen Kaiser, in dem sich der Zar über den sehr großen Unterschied zwischen dem Ton der „offiziellen Mitteilungen" des deutschen Botschafters in Petersburg und dem „versöhnlichen" Ton des persönlichen Telegramms des deutschen Kaisers beklagt und die Anrufung des Haager Schiedsgerichtes vorschlägt. Es fehlen darin schließlich das ungeheuer wichtige deutsche Ultimatum an Belgien vom 2. August 1914 und jede Andeutung über die diesem Ultimatum vorangegangenen Verhandlungen mit der belgischen Regierung; dies alles wurde dem Reichstage noch am 4. August 1914 einfach verschwiegen; erst mehrere Tage danach wurde das Ultimatum an Belgien den deutschen „Untertanen" ganz zufällig durch ausländische Zeitungen bekannt; die deutsche Regierung hat in dieser fundamentalen Frage den Reichstag und das deutsche Volk geradewegs hinters Licht geführt.

Das österreichische Rotbuch bringt gleichfalls keinen Buchstaben über die entscheidenden Verhandlungen zwischen Berlin und Wien; immerhin ergibt es, dass der österreichische Botschafter in Berlin bereits am 22. Juli den Wortlaut des am gleichen Tage dem österreichischen Botschafter in Belgrad übermittelten Ultimatums zur Mitteilung an die deutsche Regierung in Händen hatte und dass die deutsche Regierung zweifellos auch von dem Wortlaute des Ultimatums unterrichtet war, bevor es am 23. Juli 1914, nachmittags, in Belgrad überreicht wurde; dass die deutsche Regierung also noch vor Überreichung des Ultimatums hätte eingreifen können. Die Überreichung des Ultimatums aber war der Krieg.

Schon einige Zeit vor dem 25. Juli 1914 soll nach zuverlässiger Mitteilung in süddeutschen Regierungskreisen bekannt gewesen sein, dass Osterreich an Serbien ein Ultimatum stellen werde, das nicht angenommen werden könne. Schon am Morgen des 23. Juli erschien der wesentliche Inhalt des erst am Nachmittag in Belgrad überreichten Ultimatums in einer Münchener Zeitung. Dass die deutsche Regierung über das verhängnisvolle Ultimatum vor seiner Überreichung unterrichtet war, hat sie, wie oben gezeigt, Ende Juli 1914 in Paris eingeräumt; ob sie den genauen Wortlaut vorher gekannt hat, ist unerheblich.

In der Denkschrift zum deutschen Weißbuch heißt es: „Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, dass eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl klar, dass ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Russland auf den Plan bringen würde und uns hiermit, unserer Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte … Wir ließen … Österreich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien."

Die Kammerrede des früheren italienischen Ministerpräsidenten Giolitti vom 5. Dezember 1914 erbrachte den Beweis, dass Österreich schon im August 1913 den Krieg wollte.

Am 9. August 1913 depeschierte der damalige italienische Minister di San Giuliano an Giolitti: „Österreich hat uns und Deutschland seine Absicht mitgeteilt, Serbien anzugreifen, und bezeichnet seine Haltung als eine Defensive in der Hoffnung, den casus foederis anwenden zu können. Ich glaube, dass dieser casus foederis nicht in Betracht kommen kann."

Giolitti antwortete, es sei klar, dass der Bündnisfall bei einem Angriff Österreichs auf Serbien nicht vorliege. Es sei notwendig, dass dieser Standpunkt Italiens in der formellsten Weise Österreich mitgeteilt werde, und zu erwarten, dass Deutschland Österreich von diesem außerordentlich gefährlichen Abenteuer zurückhalte. (Zitiert nach der „Berner Tagwacht" vom 7. Dezember 1914.)

Nach der „Vossischen Zeitung" vom 7. Dezember 1914 führte Giolitti aus: „Er erinnere im Hinblick auf Italiens volle Berechtigung, die Neutralität in dem jetzigen Kriege zu erklären, daran, dass schon im Jahre 1913 Österreich an eine Aktion gegen Serbien dachte, der es den Charakter einer Defensive geben wollte."

Giolitti, der Ministerpräsident Salandra und die ganze italienische Kammer waren einmütig der Überzeugung, dass der Fall vom Juli 1914 nicht anders lag als der Fall vom August 1913.

In der Presse des neutralen Auslandes wurde – ohne Dementi! – folgende angebliche Ausführung Salandras verbreitet: „Als die österreichisch-serbischen Beziehungen nach der Mordtat von Sarajevo aufs höchste gespannt waren, hielt der Marquis di San Giuliano es Anfang Juli 1914 für seine Pflicht, Wien anzuraten, einige Mäßigung zu zeigen, um zu verhüten, dass Russland zugunsten von Serbien eingreife. Österreich antwortete, es glaube nicht, dass Russland nach dem Kriege mit Japan hinlänglich vorbereitet sei, militärische Operationen zur Unterstützung Serbiens zu unternehmen, und führte als Beweis an, dass Russland während der ganzen Londoner Konferenz nach dem Balkankrieg3 nicht imstande war, sein Übergewicht über die Balkanstaaten geltend zu machen. Giuliano antwortete: Seine Berichte zeigten, dass der Zustand verändert sei und Russland keinen Versuch zulassen werde, der darauf abziele, die Unabhängigkeit oder Souveränität Serbiens zu beschränken oder dessen Gebiet zu verkleinern. Österreich erwiderte, wenn Russland eingreife, werde Deutschland am Kriege teilnehmen. Der italienische Minister wies auf den großen Ernst dieser Kombination hin, da die Aktion Deutschlands unvermeidlich das Eingreifen Englands zur Folge haben werde. Wien und Berlin antworteten, sie seien überzeugt, dass Großbritannien im letzten Augenblick das Risiko nicht werde auf sich nehmen wollen, sich in einen europäischen Krieg einzumischen. Marquis di San Giuliano erwiderte, diese Auffassung sei unrichtig, seine Informationen ließen erkennen, dass man gerade das Gegenteil erwarten könne. Aber seine Warnung wurde nicht beachtet. An Serbien wurde ein Ultimatum gesandt, ohne dass Italien in Kenntnis gesetzt oder um Rat gefragt wurde. Die Ereignisse hatten dann einen schnellen Verlauf."

Um den 4. August 1914A

Noch wenige Tage vor dem 3. August 1914 wiegten sich viele Genossen in dem Wahne, dass die Ablehnung der Kriegskredite für die Mehrheit der Reichstagsfraktion selbstverständlich und zweifellos sei. Indessen hatten schon Ende Juli – wie oben gezeigt – Parteizeitungen und Parteiredner verkündet: Die Sozialdemokratie protestiere zwar gegen den Krieg, wenn er aber dennoch komme, so würde sie „dem Vaterlande ihre Hilfe nicht versagen". Und schon am 1. August verlautete in der bürgerlichen Presse, die Sozialdemokratie werde voraussichtlich am 4. August die Kredite bewilligen.

Am 3. August fand die erste und entscheidende Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion statt, wo der sofort in alle Welt telegraphierte Bewilligungsbeschluss gefasst wurde. Bei dieser Gelegenheit stellte sich der Zusammenbruch des sogenannten radikalen Flügels der Fraktion heraus. Von drei Genossen, Ledebour, Lensch, Liebknecht, wurde in aller Hast – nur Minuten standen zur Verfügung – der notdürftige Entwurf einer der Fraktion vorzuschlagenden Erklärung redigiert, die mit Verweigerung der Kredite schloss.

In der Fraktionssitzung ergriff David als erster das Wort. Er meinte, der Augenblick gebiete, sich von überkommenen Vorstellungen loszusagen und umzulernen; die Sozialdemokratie werde in dieser Zeit noch in vielen Dingen umlernen müssen. Er beantragte im Namen der Mehrheit des Fraktionsvorstandes die Bewilligung der Kredite; sie möge mit einer Erklärung motiviert werden – aber mit einer Erklärung, die alle Polemik vermeide, die sich ohne Vorbehalt schlechthin mit der Regierung und allen bürgerlichen Parteien solidarisch erkläre – was dem Gros der Bewilligungsfreunde immerhin zu weit ging. Für die Bewilligung wurden u. a. die angeblichen feindlichen Invasionen von Ost und West ins Feld geführt, Grenzgeplänkel, denen wichtige deutsche Angriffshandlungen gegenüberstanden (z. B. Besetzung des neutralen Luxemburg, Beschießung von Libau, die Vorbereitung zum Überfall auf Belgien, die freilich damals dem deutschen Volk noch verschwiegen wurde). Man hörte die Parole „Gegen den Zarismus", Bebels Flintenrede, die stereotyp gewordenen literarischen „Beweise".

Es hieß weiter u. a.: „Der Volksstimmung dürfen und können wir uns nicht entgegenwerfen; Jaurès' Ermordung und die (damals lügenhaft gemeldete!) Ermordung Caillaux' zeigen den Hitzegrad der Kriegsstimmung in Frankreich; durch diesen Krieg wird Deutschland Frankreich vom Bündnis mit Russland befreien; die russische Niederlage bedeutet den Sturz des Zarismus; die deutsche Sozialdemokratie kann sich in einem solchen Moment nicht ausschalten lassen; unsere Organisationen werden vernichtet, zertrümmert, wenn wir die Kredite verweigern – das ,Ja' aber wird die Stellung der Sozialdemokratie gewaltig stärken –, die Regierung wird nicht mehr in der Lage sein, diese Partei als außerhalb des Gesetzes stehend zu behandeln; eine starke demokratische Welle wird nach dem Kriege kommen."

Kautsky, der die Konstruktion der Notstandskredite anregte, schlug vor, der Regierung die Zusicherung abzufordern, dass sie keine Eroberungen wolle, und bei Abgabe der Zusicherung zu bewilligen, bei Verweigerung abzulehnen; der Vorschlag fand allgemeine Zurückweisung.

Die Mehrheit hörte nur mit Ungeduld und Unruhe die Vertreter der Minderheit an. Ein Schlussantrag machte der sehr erregten Debatte ein ziemlich frühes Ende.

Nur 14 Genossen (außer dem fehlenden Emmel, der sich später im gleichen Sinne aussprach) stimmten gegen die Kreditbewilligung (Albrecht, Antrick, Bock, Geyer, Haase, Henke, Herzfeld, Kunert, Ledebour, Lensch, Liebknecht, Peirotes, Rühle, Vogtherr). 78 stimmten dafür. Einige sollen sich der Stimme enthalten haben.

Haase beantragte, die Erklärung durch Scheidemann verlesen zu lassen. Hoch und andere widersprachen und forderten die Verlesung durch Haase, der nicht nur wie Scheidemann Vorsitzender der Fraktion, sondern auch des Parteivorstandes sei. Haase weigerte sich nachdrücklich, ließ sich aber, von zahlreichen Fraktionsmitgliedern bestürmt, schließlich dazu bewegen.

Der Antrag, bei dem Hoch auf „Kaiser, Volk und Vaterland" mit aufzustehen, wurde bekämpft, aber unter Hinweis auf die in der Erwähnung von Volk und Vaterland liegende Konzession mit großer Mehrheit angenommen.

Eine Kommission zur Ausarbeitung der Erklärung wurde eingesetzt. Sie legte am Morgen des 4. August das Produkt ihres Schweißes vor, das mit einigen kleinen Änderungen Annahme fand. Stadthagen forderte vergeblich eine scharfe Wendung zur Kennzeichnung der innerpolitischen Zustände Deutschlands.

Liebknechts Antrag, unseren französischen Freunden wenigstens noch ein Wort der Sympathie und Brüderlichkeit zuzurufen, führte – nachdem er von Frank bekämpft war – zur Einfügung einer nichtssagenden Floskel. Sein weiterer Antrag, auch für Osterreich jede Eroberungspolitik abzulehnen, fiel; David bemerkte hierbei, dass die Frage österreichischer Eroberungen viel zu kompliziert liege, als dass sie kurzweg schlechthin verneint werden könnte.

In der ersten Plenarsitzung klatschten mehrere sozialdemokratische Abgeordnete (Südekum, Heine, Frank, Wendel und andere) beifallrufend einigen Stellen der Reichskanzlerrede zu.

Unmittelbar nach dieser und vor der zweiten kurz danach eröffneten Plenarsitzung fand eine kurze Fraktionssitzung statt, in der es zunächst wegen dieser „patriotischen" Kundgebungen zu heftigen Zusammenstößen kam. Für die zweite Sitzung wurden derartige Kundgebungen durch besonderen Fraktionsbeschluss verboten – um am 2. Dezember doch wiederholt und in der Fraktion von Heine gerühmt zu werden. Es wurde weiter mitgeteilt, dass die Regierung eine Abschwächung des gegen Eroberungen gerichteten Passus der Erklärung wünsche, weil die drohende Gefahr des englischen Eingreifens durch diesen Passus verschärft werden könne. Dem Wunsche der Regierung wurde entsprochen.

Versuche, eine abweichende Abstimmung der Vierzehn im Plenum zu erzielen, waren in der Überstürzung der wenigen Stunden misslungen. Haase, selbst ein Vertreter der Kreditverweigerung, hatte sich zur Abgabe der Erklärung bestimmen lassen; auch die Minderheit rechnete noch damit, dass die Partei im Übrigen dennoch eine oppositionelle Politik, eine Politik des Klassenkampfes auch während des Krieges treiben werde, dass die Kreditbewilligung vom größten Teil der Mehrheit nur in dem revolutionären Sinn des viel missbrauchten Engels-Artikels4 gemeint sei und schroffste Konflikte zwischen Partei und Staatsgewalt nicht ausbleiben würden; man trug Bedenken, sich in dieser gefahrvollen Lage, in der man die Partei trotz alledem vermeinte, von der Mehrheit der Fraktion öffentlich zu trennen. Aus diesen und zahlreichen anderen Gründen kam kein öffentliches Minderheitsvotum zustande.

Alsbald nach dem 4. August zeigten sich in der Partei, besonders in ihrer Presse, die bedenklichsten Erscheinungen – Chauvinismus, Annexionssucht, Harmonieduselei; besinnungslose Solidarisierung mit den Todfeinden des Proletariats von gestern und von morgen, die plötzlich in einer trüben Einigkeitsphrasen-Hochflut zu Busenfreunden von heute umgewaschen wurden.

1 Wiener Kongress der II. Internationale — Auf dem Kopenhagener Kongress der Internationale 1910 war beschlossen worden, den nächsten Kongress im Sommer 1913 in Wien durchzuführen. Die Balkankriege vereitelten den Kongress zu diesem Zeitpunkt. Dafür wurde Ende November 1912 der außerordentliche Baseler Kongress einberufen. Der nächste ordentliche Kongress wurde auf 1914 verschoben. Er sollte vom 23. bis 29. August 1914 in Wien stattfinden. Nach Ausbruch des Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien beschloss das Internationale Sozialistische Büro in seiner Sitzung vom 29. und 30. Juli (siehe Anmerkung 2), ihn auf den 9. August vorzuverlegen und nach Paris einzuberufen. Der Kongress fand nicht statt.

2 Sitzung des ISB — Am 29. und 30. Juli 1914 fand in Brüssel angesichts des drohenden Weltkrieges eine Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB) statt. Sie begann an dem Tage, an dem Österreich die Kriegserklärung an Serbien übergab. Zu den Teilnehmern gehörten V. Adler (Österreich), P. B. Axelrod (Russland), A. Balabanoff (Italien), H. Haase (Deutschland), J. Jaurès (Frankreich), K. Kautsky (Deutschland), J. K. Hardie (England), R. Luxemburg (Polen), J. Longuet (Frankreich), O. Morgari (Italien), J. A. Rubanowitsch (Russland), P. J. Troelstra (Holland), E. Vandervelde (Belgien) u. a. (Lenin konnte nicht teilnehmen. Er wurde bei Kriegsausbruch in Poronin, in der Nähe Krakaus, verhaftet. Auf Intervention Adlers ließ man ihn jedoch frei und gestattete ihm die Ausreise in die Schweiz.) Über die Haltung zum drohenden Krieg sprachen u. a. Adler, Haase, Jaurès und Hardie. Das ISB beschloss, den für Wien vorgesehenen ordentlichen Kongress der Internationale (siehe Anmerkung 1) nach Paris zu verlegen und ihn bereits zum 9. August einzuberufen. In einem Aufruf forderte das ISB die Arbeiter aller vom Krieg bedrohten Länder auf, ihre Kundgebungen gegen den Krieg zu verstärken. Als Abschluss der Brüsseler Tagung fand am 29. Juli im Cirque Royal unter dem Vorsitz von Vandervelde ein internationales Meeting statt, auf dem Haase, Rubanowitsch, Morgari, Troelstra und Jaurès sprachen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr aus Brüssel, in der Nacht des 31. Juli 1914, wurde Jaurès in einem Pariser Cafe ermordet.

3 Londoner Konferenz — Am 3. Dezember 1912 kam es zwischen den am ersten Balkankrieg beteiligten Staaten zum Waffenstillstand. Nach weiteren Streitigkeiten und teilweiser Wiederaufnahme der Kriegshandlungen wurde am 30. Mai 1913 der Londoner Präliminarfriede unterzeichnet. Der europäische Besitz der Türkei westlich der Linie Enos-Midia wurde unter die Balkanstaaten aufgeteilt. Weiter wurde ein „selbständiges Albanien" geschaffen, dessen genaue Grenzen und dessen innerer Status noch von den Großmächten festgelegt werden sollten. Der Londoner Friede beendete jedoch nicht die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Er enthielt neue Konfliktstoffe, die zum zweiten Balkankrieg führten.

A Wegen der Angaben über die Fraktionssitzungen vgl. die Bemerkung auf der Rückseite des Titelblattes.

4 Engels-Artikel — Gemeint ist der Artikel von Friedrich Engels „Der Sozialismus in Deutschland" aus dem Jahre 1891 (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, S. 247-260).

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