Imperialismus und Krieg

Aus einer Rede, die Genosse Liebknecht im Januar 1915 in Neukölln hielt1, geben wir nach stenographischen Aufzeichnungen folgende Bruchstücke wieder (mit einigen von uns hinzugefügten Anmerkungen)

Imperialismus und Krieg

(Dieser Teil der Ausführungen ist entnommen den „Thesen", mit denen L. Mitte November 1914 sein Verlangen nach einem Minderheitsvotum unter anderem begründete)

Einen Wesenszug des Imperialismus, dessen Hauptträger auf dem europäischen Festland Deutschland ist, bildet das wirtschaftliche und politische Expansionsstreben, das immer stärkere politische Spannungen erzeugt.

Mächtige Unternehmungen der deutschen Schwerindustrie blicken seit Jahren verlangend nach dem an Bodenschätzen und industriellen Anlagen reichen Belgien und Französisch-Lothringen. Bereits heute besitzen sie dort wertvolle Anlagen, deren Ausnützung und Ausbau ihnen durch Einverleibung dieser Gebiete in Deutschland ungemein erleichtert und gegen die französischen Abschließungstendenzen sichergestellt würde. [Ähnliches gilt von Teilen Russisch-Polens. Der Erwerb Belgiens und eines Stückes der nordfranzösischen Küste wird auch als ein Stoß ins Herz der britischen Kanalmacht eifrig angestrebt. In der Forderung nach einem mitteleuropäischen Staatenbund finden die europäischen Expansionsgelüste der deutschen Imperialisten vielfach einen selbst gegen die Neutralen ausgreifenden ungenierten Ausdruck.]2

Kleinasien und Syrien, Brennpunkte der internationalen Kapitalskonkurrenz, gehören zu den bedeutsamsten Siedlungsgebieten für das stürmisch vordringende deutsche Finanzkapital. Hier liegt das Zentrum des imperialistischen Gegensatzes zwischen Deutschland und Russland, hinter dem der englisch-russische Widerstreit zeitweilig zurücktritt. [Hier liegt auch die Operationsbasis für einen Vorstoß gegen Ägypten (Suezkanal), den „Eckstein" der britischen Weltmacht.]

Als Brücke zu den asiatischen Ausbeutungsgefilden hat der Balkan für einen sehr einflussreichen Teil des deutschen Kapitals ein eigenes Interesse gewonnen. Auch die zunehmende Verknüpfung zwischen deutschem und österreichischem Kapital und die militärisch-politischen Gesichtspunkte des deutsch-österreichischen Zweibundes haben der Stellung Österreichs auf dem Balkan für die offizielle deutsche Politik beträchtliche Bedeutung verliehen.

Gewaltig ist die Begierde des deutschen Kapitals nach kolonialer Ausdehnung gewachsen, wobei der afrikanische Besitz Englands und Frankreichs im Vordergrunde steht.

[Selbst der Appetit der deutschen Agrarier nach neuem „Bauern"land ist erwacht und wächst zusehends.]

Die unter dem Vortritt Deutschlands vollzogene militaristische Entwicklung Europas, in der die Mächte einander zu überflügeln suchten, hatte einen Grad erreicht, der einer Steigerung nicht mehr fähig schien. Zur Durchsetzung der immer gewaltigeren Rüstungsvorlagen wurde der Völkerhass systematisch genährt. Die ins Ungemessene gestiegenen Heereslasten mussten auch in Deutschland schließlich teilweise den besitzenden Klassen auferlegt werden, die dadurch in zunehmende Unruhe gerieten. Jede Anregung zur Verständigung über eine internationale Rüstungseinschränkung wurde vor allem von dem vorantreibenden deutschen Imperialismus abgelehnt.

Eine verhängnisvolle Rolle bei der Zuspitzung der Konflikte spielte das international versippte Rüstungskapital, das im Zeichen des bewaffneten Friedens glänzend gediehen war, das bei einem Krieg ohne Rücksicht auf den Ausgang goldene Ernte erwarten durfte und dessen deutsche Hauptunternehmungen zudem in Belgien und Französisch-Lothringen lebhaft interessiert sind.

Der Militarismus erzeugte aus sich selbst noch andere mächtige Kriegsinteressenten: eine Offizierskamarilla, die besonders in Deutschland ungeniert auf einen kriegerischen Konflikt hinarbeitete und selbstherrlich ihre Nebenregierung etablierte.

Die innerpolitischen Zustände hatten infolge der Zuspitzung der nationalen und vor allem der Klassengegensätze für die herrschenden Klassen ein bedenkliches Gesicht gewonnen. In Deutschland entlockte ihnen das rapide Wachstum der Sozialdemokratie, die ihren politischen und wirtschaftlichen Besitzstand bedrohte, bereits vor fast einem halben Jahrzehnt den Ruf nach einem Kriege als dem einzigen Mittel zur Vernichtung der Arbeiterbewegung.

Die kapitalistischen und militaristischen Kriegsinteressenten, deren Ziele sich freilich keineswegs decken, bildeten in Deutschland eine von Jahr zu Jahr mehr hervortretende Kriegspartei unter dem Protektorat des deutschen Kronprinzen, der sie wiederholt in unverhohlener Fronde gegen die offiziellen Vertreter des Deutschen Reiches demonstrativ anfeuerte.

Diesen Treibereien, für die es auch in den übrigen Staaten Gegenstücke gibt, wurde in Deutschland Vorschub geleistet durch halbabsolutistische Verfassungszustände, die die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Einfluss der breiten Masse entzogen und in der auswärtigen Politik ein durch keine Kontrolle des Volkes begrenztes, um so mehr aber den Einwirkungen der herrschenden Klassen unterworfenes persönliches Regiment ermöglichten.

Die Geheimdiplomatie, die Politik der Geheimverträge, bedrohte seit langem den Frieden.

So zweifellos auch breite Kreise der nichtproletarischen Bevölkerung ein starkes und steigendes Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens besaßen, ihr Hass gegen das Proletariat, ihre Angst vor ihm lähmte ihren Widerstand gegen das persönliche Regiment und warf sie stets aufs neue dem Militarismus in die Arme, in dem sie ihren zuverlässigen Schutzherrn im Klassenkampf gegen die anschwellende revolutionäre Flut anbeteten.

Die schwächlichen Verständigungsversuche der Regierungen, die zeitweilig einen friedlichen Ausgleich wichtiger kapitalistischer Gegensätze in den Bereich der Möglichkeit zu rücken schienen, erlitten kläglich Schiffbruch.

Alle jene Gefahren hat die Sozialdemokratie seit jeher erkannt, gekennzeichnet und in internationaler Zusammenarbeit bekämpft. Ihre Bemühungen vermochten den Ausbruch des Krieges nicht zu hindern.

Die Einzelheiten der Vorgeschichte des Krieges wird die Zukunft enthüllen. Die Grundzüge stehen schon heute fest. Wir haben unsere Auffassung darüber nicht vom 29. Juli bis zum 1. August 1914 umgestürzt. -

Die Gründe für die Kreditbewilligung

Zunächst zu einigen praktisch-opportunistischen Erwägungen, die auf die Haltung der Reichstagsfraktion von großem Einfluss waren, freilich aber für die Bestimmung der prinzipiellen, programmatischen Politik – die zugleich im tieferen Sinne die einzige praktische Politik ist – von vornherein nicht maßgebend sein dürfen. Die Analyse dieser Erwägungen lohnt jedoch einiger Mühe, schon wegen der Rolle, die sie tatsächlich gespielt haben und noch spielen.

Die Berufung auf die Stimmung der Volksmassen ist mit wenigen Sätzen abgetan. Wer kannte und wer kennt diese Stimmung? Die johlende, kreischende, rasende Menge, die die Straßen füllte, die allem, was ausländisch war oder schien, die Kleider zerriss und mit Misshandlungen zu Leibe ging, musste jedem Sozialdemokraten abschreckend, nicht vorbildlich sein. Keine Pressfreiheit, keine Versammlungen, keine Möglichkeit, mit dem Volke in Berührung zu kommen! Aber selbst wenn die große Masse des Volkes die Kreditbewilligung heischte: Die Sozialdemokratie wird solche Massenstimmungen zwar stets gebührend berücksichtigen, untersuchen und zu ihrer Belehrung nutzen, ihnen aber nicht kritiklos folgen. Sie hat Führerin, nicht Geführte der Massen zu sein und noch nie gemeint, durch Nachgiebigkeit und Anpassung an die Masseninstinkte ihren Idealen zu dienen. Sie ist im Kampf mit Masseninstinkten geworden und gewachsen und noch heute eine Partei der Minderheit des Volkes. Sie hat die Interessen der Massen zu vertreten und die Massen zum Verständnis ihrer Interessen zu erziehen, so dass sie – aufgeklärt – den Kampf um ihre Interessen führen können, losgelöst von den suggestiven Einflüssen der herrschenden Klassen. Nie waren diese suggestiven Einflüsse zum Schaden der Massen größer als in der Zeit um den 4. August; nie waren sie verhängnisvoller, nie hatte die Sozialdemokratie mehr die Pflicht, in schroffer, fester Haltung diesen Einflüssen zur Aufklärung des Volkes zu trotzen. Keine Volksstimmung verdient geringere Beachtung als jener Zustand künstlich erzeugter Raserei, der zur Rechtfertigung der Kreditbewilligung herangezogen wird.

Diese Patrioten aus Angst vor der „Zertrümmerung der Organisationen" verkennen in ihrem seichten Opportunismus das Grundwesen der Arbeiterbewegung und die Wurzeln ihrer Kraft und Größe: Eine große Organisation, vom Geist der Rechnungsträgerei, der Mutlosigkeit, der inneren Schwäche und Zielunsicherheit beherrscht, bedeutet keinen Vorteil, sondern einen Hemmschuh, ein Unglück, eine negative Größe. Eine wenn auch noch so kleine Organisation entschlossener Kampfkraft ist unter allen Umständen eine treibende, drängende Energie, eine positive Größe. Eine Organisation, und wäre sie die riesenhafteste an Zahl und materiellen Mitteln, die im entscheidenden Moment versagt, ist damit zusammengebrochen. Eine oppositionelle Kampforganisation, die sich im entscheidenden Moment freudig der Regierungskuratel unterstellt und unter der Pickelhaube des Belagerungszustandes wohnlich einrichtet, hat aufgehört, als oppositionelle Kampforganisation zu existieren. Für eine Organisation, die, um ihren äußeren Bestand zu retten oder gar zu steigern, auch nur ein Gran ihrer revolutionären Ehre, ihres sozialistischen Geistes preisgäbe, würde gelten: „Was hülfe es, wenn du die ganze Welt gewönnest und nähmest doch Schaden an deiner Seele." Der Schade ist unermesslich größer, als der bei Zertrümmerung des äußeren Bestandes der Organisation eingetretene hätte sein können.

Das Sozialistengesetz predigt mit feurigen Zungen, was eine Partei unzerstörbar machen kann. Was hat die herrschenden Klassen seitdem gezwungen, ihre hitzige Begier nach neuen Ausnahmegesetzen zu zügeln? Die Erfahrung des Sozialistengesetzes! Die Überzeugung, dass die Sozialdemokratie, die Arbeiterbewegung etwas ganz anderes ist als eine äußere, technisch vollendete Organisation; dass diese äußere Organisation nur das Kleid und das Haus dieser Bewegung ist. Mit einem Federstrich können und konnten jeden Tag alle Arbeiterorganisationen bis auf die letzte radikal vernichtet werden. Ein Kinderspiel für jeden mittelmäßigsten Polizeigeist. Was hält davon zurück, wenn nicht die Sorge, dass die Bewegung durch äußere Vergewaltigung an innerer Kraft gewinnen und – aus dem Haus der Organisation vertrieben – der Verfolger spotten wird?

Den äußeren Bestand der Organisation retten unter Preisgabe ihres Allerheiligsten heißt das Unzerstörbare wegwerfen und das – Zerstörbare retten. Heißt das erhalten, was in der Tat durch einen Federstrich und ein Stirnrunzeln weggelöscht werden kann – allerdings auch das, an dessen Zerstörung auch die hitzigsten Scharfmacher kein Interesse mehr haben werden.

Diese Patrioten aus Angst sind oft zugleich Schacherpatrioten, Patrioten der guten Hoffnung, der Sehnsucht nach Belohnung für Artigkeit; nicht „Kanonen für Volksrechte", beileibe nicht – sondern Kanonen ohne jede Gegenleistung; Kanonen aus Idealismus, aus gutem, waschechtem Patriotismus, aber immerhin im tiefsten Schrein des keuschen Herzens den geheimen innigen Wunsch nach angemessenem politischem Trinkgeld. Aber, zum Teufel, wenn schon geschachert werden soll, dann ordentlich und grad heraus, und sorgt, dass ihr nicht übers Ohr gehauen werdet.

Schacherpolitiker, die aus Scheu vor „offenem, gradem" Schacher ihr Geschäft auf die unsicheren Aussichten der bei Geburtstagen üblichen „Geschenke auf Gegenseitigkeit" aufbauen, machen eine traurige Figur. Nochmals: Wenn schon, denn schon tüchtig und ganz. Ihr Stümper des Schachems! Nehmt euch ein Exempel am edlen Junkertum, wie es seit je Krieg und Kriegsgefahr ausnutzte, um dem Gottes-Gnaden-Landesherrn politische und wirtschaftliche Macht Stück um Stück abzupressen. Da ging's bar gegen bar und nicht: Gold und Herzblut gegen Wart-ein-Weilchen.

Wir haben mit dieser Schacherpolitik keine Gemeinschaft, freilich nicht, weil sie eine verkrüppelte Halb- und Viertelsheit ist, blutleer und ohne die drallen Schenkel der kühnen politischen Unmoral.

Die Spezies der Angstpatrioten kann in Reinkultur vorkommen; im Hoffnungs- und Schacherpatrioten steckt immer auch eine gehörige Portion vom Angstpatrioten.

Diese Kombination ist aber voll Widerspruch. Der Angstpatriotismus ist eine verhängnisvolle Gefährdung aller Aussichten auf den erhofften Segen künftiger Gnade. Hat sich die Angst als staatserhaltender Faktor bewährt, je nun – dann gilt es, diese Chance auch für die Zukunft zu sichern, zu mehren. Wodurch? Durch eine starke, durch eine womöglich immer stärkere Staatsgewalt! Die Kunst, uns zu besiegen, hat man gelernt; uns zu besiegen durch einen Papierwisch mit Druckerschwärze, die den Belagerungszustand verkündet. Noch nie ward einer Gans der Hals so rasch umgedreht. Der Regierungsterrorismus hat gesiegt – es lebe der Regierungsterrorismus! So fliegen den Papagenopolitikern der Angst ihre schönsten Vögel allesamt weg, und so schwimmen den schlauen Trinkgeldpolitikern der guten Hoffnung ihre schönsten Fische allesamt von dannen.

Die „Realpolitiker" letzterer Sorte führten zwar in den entscheidenden Fraktionsverhandlungen ein großes Wort, inzwischen sind sie zumeist schon recht kleinlaut geworden. Schon im September 1914 erklang in der reaktionären Presse die Melodie: Die deutschen Siege sind Siege der preußisch-deutschen Ordnung über schlappe Disziplinlosigkeit; und crescendo: Der deutsche Militarismus, der verschriene Drill siegt über die Volksunordnung; und schließlich fortissimo: Triumph der preußischen Eigenart des Dreiklassenwahlrechts über die Demokratie!

Wird eine Apotheose der preußischen Reaktion das Ende vom Liede sein?

Das hängt von vielen Umständen ab: von der militärischen und wirtschaftlichen Entwicklung während des Krieges, vom Ausgang des Krieges, von dem, was dann kommen wird. Es hängt aber auch vor allem ab vom Proletariat, von den Volksmassen selbst und ihrer Haltung. Hier allein können wir wirken – im Klassenkampfe. Geschenkt erhält das Volk keinen roten Heller, auch nicht nach dem Kriege. Es ist heute Werkzeug in den Händen der Imperialisten, Werkzeug für kapitalistische Zwecke und nicht mehr; aber auch nicht weniger: das unentbehrlichste Werkzeug und ein lebendiges Werkzeug: Und solchem lebendigen, beseelten Werkzeug wohnt die gefährliche Eigenschaft inne, dass es gegen seine Anwender revoltieren kann. Und revoltieren wird, wenn ihm allzu sehr mitgespielt wird. Die Arbeitermassen, die gehorsam und opferbereit ins Feld zogen, kehren als andere zurück; und auch die, die zu Hause blieben, Männer und Frauen, sind andere geworden, gründlich andere. Diesen Wandlungsprozess zu verstärken ist das realpolitische Gebot. Erhaltung und Schürung des Klassenkampfgeistes ist das Mittel zu diesem Zweck. Die sichere Enttäuschung, der unausbleibliche Katzenjammer nach dem Rausch werden dann das Übrige tun, die sauberen Pläne der Scharfmacher und Imperialisten durchzustreichen. Nur im Kampfe kann das Proletariat Rechte erringen. Nicht Nachgiebigkeit – verdoppelter Kampf ist die Losung des Tages.

Und mögen Opfer fallen; sie werden, wie je, tausendfältig Früchte tragen. Jener Hoffnung aber auf kampflosen Gewinn, auf freiwillig gnädige Gewährung von Volksrechten ausgerechnet in der Zeit des Belagerungszustandes, der Militärdiktatur, der Aufhebung aller Volksrechte, gebührt ein Ehrenplatz in der Raritätenkammer des politischen Illusionismus.

Schon fühlt mancher Anhänger dieser Illusionspolitik den Flugsand unter seinen Füßen weichen; da gilt's nach Sündenböcken suchen. Die „Quertreiber" sind dazu wie geschaffen und ausersehen. Nur gemach! Enthüllt nicht allzu unvorsichtig eure Taktik der frommen Kinderstube, die ihr einst mit gepfeffertem Hohn den liberalen Wadelstrümpflern überließt. Und spekuliert nicht allzu dreist auf die Vergesslichkeit des Volkes: Schon vor Monaten, ehe die Quertreiber ihr „Unwesen" begannen, demaskierten sich die preußischen Scharfmacher im Siegestaumel. Da gibt's kein Vertuschen, keine Vogel-Strauß-Methoden. Und mit einem Gran politischen Scharfblicks war das mit der Sicherheit eines chemischen Prozesses vorauszusehen.

Klassenkampf ist die Losung des Tages. Klassenkampf nicht erst nach dem Kriege. Klassenkampf während des Krieges. Klassenkampf gegen den Krieg. Nimmt die Partei nicht heute, während des Krieges, den Kampf auf, so wird man auch an ihren Kampfgeist nach dem Kriege nicht glauben, weder in den Arbeitermassen noch in den Reihen ihrer Gegner. Jetzt gilt es, sich bewähren. So kann sich die Partei Kredit verschaffen für alle Zukunft – Kredit bei Freund und Feind, Kredit für die ernstesten Zukunftsmöglichkeiten, Kredit, der – mit Opfern des Augenblicks erkauft – dereinst ihre Macht unwiderstehlich machen wird.

Im Labyrinth der Widersprüche

Liebknechts Abstimmung und Erklärung hat die Kriegstreiber des feindlichen Auslandes ermutigt; sie trägt zur Verlängerung des Krieges bei."

Das konnte für den oberflächlichen Betrachter einen Augenblick so scheinen – nach den ersten Äußerungen einiger französischer und englischer Zeitungen. Einen Augenblick lang. Dann wurden diese Zeitungen frostig gegen die deutschen „Quertreiber"; und schließlich giftig und empört; Liebknecht wurde als einflussloser Sonderling beiseite geschoben, schließlich als deutscher Regierungsagent verschrien, dessen Protest im Einverständnis mit Bethmann Hollweg zum Export ins Ausland fabriziert sei (vgl. z. B. „Action française" und „Information", zit. „Golos", Nr. 96 vom 5. Januar 1915; „Matin" vom 27. Januar 1915). Auch die französische Parteipresse, soweit sie eine der deutschen „Mehrheits"politik verwandte Politik treibt, wurde stutzig und kühler und machte ersichtliche Anstrengungen, durch starke Betonung aller Betätigungen der deutschen „Mehrheits"politik das anfangs sehr hoch geschätzte Gewicht der deutschen Parteiopposition gering erscheinen zu lassen.

Woher diese Wendung? Das Geheimnis dieses Geheimnisses liegt auf der Hand: Im Widerklang zur deutschen Opposition entwickelte sich oder verstärkte sich eine erhebliche französische Opposition, die die Abkehr von der bisherigen Politik der französischen Fraktion und die Rückkehr zum Klassenkampf, die Proklamation des internationalen Klassenkampfes gegen den Krieg heischte. Damit erschien die deutsche Opposition als Mittel, um „Verwirrung in die Einmütigkeit der französischen Nation" zu tragen, das heißt den Kriegswillen zu schwächen.

Das Gegenstück zu dieser Erscheinung zeigte sich in Deutschland, wo die oppositionellen Äußerungen der englischen Sozialisten von der ILP, der Keir Hardie, MacDonald, Shaw usw., anfangs von der reaktionären Presse mit breitem Behagen als Beweise der englischen Schwäche ausposaunt, dann aber als unwichtige Kundgebungen vereinzelter Schwärmer am liebsten in den Papierkorb geworfen wurden und wo Scheidemann und sein Gefolge sich im Schweiße ihres Angesichts abquälten, die Opposition der ILP zu diskreditieren und die ILP, die größte sozialistische Partei Englands, zu einem ganz bedeutungslosen Häuflein zu stempeln. Auch hier setzte dieser Umschwung ein, als sich die deutsche Opposition dieser Symptome des Klassenkampfes im „feindlichen Ausland" immer systematischer zur Stärkung der deutschen Opposition bemächtigte. Und auch hier wurden von den Vertretern der „Mehrheit" immer hitziger und energischer die Äußerungen der Kriegsbegeisterung oder gar die Entgleisungen des Chauvinismus in den ausländischen Parteien betont und das Material über dieses gute Beispiel in einer besonderen Korrespondenz, der von dem Adlatus des Internationalen Gewerkschaftssekretärs herausgegebenen IK3, sorgfältig und einseitig gesammelt und verarbeitet, um der deutschen Opposition zu erschweren, sich an dem Beispiel der ausländischen Arbeiterbewegung zu ermutigen und zu stärken.

Nicht die Opposition, nicht der Klassenkampf kräftigt danach letzten Endes und auf die Dauer den Kriegswillen, den Willen zum „Durchhalten", sondern die „Mehrheits"politik. Kriegswille diesseits der Grenzen entzündet Kriegswillen jenseits der Grenzen in verhängnisvoller Wechselwirkung. Opposition, Klassenkampf diesseits der Grenzen entfacht Opposition, Klassenkampf jenseits der Grenzen – in heilsamer Wechselwirkung. Es liegt ein internationaler Prozess vor, dessen Naturgesetzlichkeit zu begreifen nur allzu viel Sozialisten in der heutigen Zeit verlernt haben. Jeder Versuch einer Orientierung der Taktik aus bloßen nationalen Gesichtspunkten führt unvermeidlich in einen verhängnisvollen Zirkel, in den Zirkel des Imperialismus und der politischen Abdankung des Proletariats.F

Das sind die berechtigten Perspektiven der gerühmten Politik des „Durchhaltens". Und diese Perspektiven sind wahrlich hoffnungslos genug für das deutsche und das ganze internationale Proletariat. Die David und Genossen verkünden das gute Recht der Franzosen und Engländer und Russen auf eine gleiche Politik des Durchhaltens, wie sie ihr in Deutschland das Wort reden; nicht nur das Recht, nein: die Pflicht zu dieser Politik. Sie wollen sich so selbst decken; sie schalten damit das Proletariat als politischen Faktor aus; sie schüren damit in Wahrheit den Krieg bis zum Weißbluten.

Vom Frieden reden, den Friedenswillen bekunden, den Frieden fordern heißt Schwäche zeigen und die Feinde zur Anspannung aller Kräfte anspornen, so lehrt die Politik David-Heine-Scheidemann. Das heißt den internationalen Charakter des Sozialismus begraben. Wenn die Sozialdemokratie eines Landes sozialistisch redet und handelt, wenn sie als Klassenkampfopposition auftritt, kann sie, ja muss sie international reden und handeln; kann sie, ja muss sie im Namen nicht nur des eigenen, sondern aller, auch der „feindlichen" Länder auftreten. Wenn sie in einem Lande gegen den Krieg kämpft, kämpft sie zugleich in allen anderen kapitalistischen Ländern für den Frieden, denn ihr Beispiel ist der stärkste Hebel zur Entfaltung einer gleichen Klassenkampfbewegung gegen den Krieg auch in den anderen Ländern. Nie kann die Bekundung des Friedenswillens, des Willens zum Klassenkampf durch die Sozialdemokratie irgendeines Landes etwas anderes erzeugen als sozialistische Prinzipientreue und Kampfes- und Opferbereitschaft.

Wenn wir Sozialdemokraten unseren Friedenswillen aussprechen, so provozieren wir damit die anderen Parteien und die Regierung zur Betonung ihres Kriegswillens; damit aber zerstören wir die erhoffte Wirkung unserer Aktion und erreichen ihr Gegenteil", so lautet ein anderer verzweifelter Einwand gegen jeden Kampf für den Frieden. Als ob der Kriegswille der Imperialisten aller Länder nicht bekannt genug wäre! Als ob er nicht in jeder Zeile, in jedem Wort ihrer Presse, ihrer Redner Tag für Tag zum Ausdruck käme! Als ob nicht die Bekundung des Friedenswillens, wenn auch nur eines noch so geringen Teils der Bevölkerung gegenüber diesem Hexensabbat, ein neues, wichtiges Faktum wäre; als ob nicht die Masse des Volkes, jedes Volkes, vom tiefsten Friedenswillen durchdrungen wäre! Und sehen denn diese weitsichtigen Politiker nicht, dass dieses Argument ihre sonstige Argumentation zur Bekämpfung der Friedensaktion in Scherben schlägt? Als ob sie nicht zufrieden sein müssten, wenn durch kriegsbegeisterte Gegenkundgebungen der von ihnen gefürchtete Eindruck der Schwäche wettgemacht wird! So irren diese Verfechter des patriotisch-militaristisch-imperialistischen Sozialismus hilflos in einem Labyrinth, da sie dem Ariadnefaden der internationalen Orientierung des Klassenkampfes nicht folgen wollen.

Krieg und Volksrechte

Eine neue Sorte der „direkten Aktion" ist in der deutschen Sozialdemokratie aufgekommen, eine Parodie allerdings. „Es gibt, selbst in der Phantasie der Gegner, keine ,vaterlandslosen Gesellen' mehr, und darum gibt es auch keine Deutschen mehr, denen die volle Gleichberechtigung in Reich, Staat und Gemeinde versagt werden könnte." („Volksblatt für Harburg".)

Das heißt in der Tat die Weltgeschichte um die Achse eines Reichsverbandsschwindels drehen. Als ob die Arbeiterschaft bisher wegen ihrer angeblichen „Vaterlandslosigkeit" unterdrückt und ausgebeutet wäre! Als ob das Geschwätz von der Vaterlandslosigkeit nicht stets ein Schwindel gewesen wäre! Als ob wir dieses Geschwätz nicht stets als billigen Schwindel erkannt hätten. – Bis zum 4. August 1914! Da glaubten plötzlich einige Narren, dass der Verdacht der Vaterlandslosigkeit die Ursache des politischen und sozialen Elends der Arbeiterklasse gewesen sei! Da wähnten sie plötzlich, sich von dem schrecklichen Verdacht reinigen zu müssen, um so die Anwartschaft auf Gleichberechtigung zu erwerben. Die Weltgeschichte wird nicht mehr als Macht- und Interessenkampf, sondern unter dem Gesichtswinkel eines Injurienprozesses betrachtet. Die Sozialdemokratie soll sich in dem Kriege ihre politische Satisfaktionsfähigkeit erpauken! Wahrlich: Possen der politischen Kinderstube!

Auch Lensch meint: „Der Weltkrieg wird viele der Hindernisse mit einem Ruck hinwegräumen, die bisher dem siegreichen Vordringen des Sozialismus noch im Wege lagen und deren Beseitigung in Friedenszeiten noch Jahrzehnte gedauert hätte."

Wer wird die Möglichkeit einer solchen Wirkung des Krieges bestreiten? Aber wenn sie eintreten wird, wird sie vom Himmel fallen? Oder nicht vielmehr im Klassenkampf erkämpft werden müssen? Erkämpft werden gegen den Imperialismus, erkämpft werden im Kampfe gegen die Mächte, die diesen Krieg zu verantworten haben, die ihn dirigieren; erkämpft werden gegen den Krieg ?

Wer nicht begreift, dass der Krieg nicht indem wir ihn unterstützen, sondern nur indem wir ihn verwerfen und alle Kraft gegen ihn einsetzen – nicht nach den Methoden des Burgfriedens, sondern nur nach denen des Klassenkampfes – im Sinne Lenschs für uns nutzbar zu machen ist, hat das Abc der historischen Dialektik, der antagonistischen Entwicklungsform nicht kapiert.

Und seit wann ist es Aufgabe der Sozialdemokratie, gesellschaftliche Vorgänge, die sich nach den kapitalistischen Tendenzen abspielen und die gegen den Willen der kapitalistischen Regisseure im dialektischen Prozess der Entwicklung günstige Folgen für das Proletariat erzeugen, darum direkt zu unterstützen?

Welche Ursachen werden also eine etwaige Neuorientierung der inneren Politik bestimmen?

Etwa das Eintreten der Sozialdemokratie für den Krieg, d. h. die Wegräumung jenes Reichsverbandsschwindels? Diese Auffassung zu erhalten liegt der Regierung und den herrschenden Klassen sehr am Herzen. Begreiflicherweise! So wird das Proletariat erst tüchtig ausgenutzt – die herrschenden Klassen sammeln die Frucht der proletarischen Kriegsbegeisterung rasch und sicher in die Scheuern. Die Belohnung winkt nach dem Krieg; solange wird vertröstet; bis dahin habt ihr hübsch artig zu sein, sonst verscherzt ihr euch die Belohnung!

Gewiss, es mag eine „Neuorientierung" kommen. Aber nicht wegen der Widerlegung eines Reichsverbandsschwindels, sondern wegen der Revolte der Werkzeuge gegen ihre Anwender, infolge der trotz alledem unausbleiblichen Revoltierung der Geister durch den Krieg, infolge der so eintretenden Machtverschiebung; im Klassenkampf – Macht gegen Macht, nicht zum Dank für Pudelbravheit, für gehorsame Sprünge über den Regierungsstock.4

Es ist schon wahr: Schätze im materiellen und moralischen Sinne haben ihnen die Arbeiterorganisationen gebracht, in den Schoß geworfen – vorbehaltlos! Was haben sie dafür erhalten? Nichts! Alles geopfert – keine Spur eines Lohnes: das ist die bisherige Lage der Arbeiterschaft, der Volksmassen. Dass selbstlose Hingabe in der Politik gelohnt werde, ist eine Illusion, zu der schon das inbrünstige Gottvertrauen einer frommen Betschwester gehört. Wer als Politiker so redet, hat für ernsthafte Männer ausgespielt.

Krieg und Frieden als kapitalistisches Geschäft

Ich sage nicht, dass der jetzige Krieg wirklich ein gutes kapitalistisches Geschäft ist; nicht einmal, dass er überhaupt – die Totalität des Kapitalismus ins Auge gefasst – ein gutes kapitalistisches Geschäft sein kann. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass der jetzige Krieg für den Kapitalismus in seiner Gesamtheit und im besonderen für die kriegführenden und die meisten neutralen Staaten (Japan, die Vereinigten Staaten und vielleicht auch Italien ausgenommen) ein ganz miserables Geschäft ist. An der „Falschen Rechnung" Norman Angells5 ist sicher viel Wahres. Der Krieg, als eine besondere Form des kapitalistischen Konkurrenzkampfes, dient natürlich dem Profitinteresse; aber doch nur in dem Sinne, dass um Beute gekämpft wird, wobei die Beute natürlich auf den Kopf nicht vermehrt wird, wohl aber die Kriegsopfer einfach zum Teufel gehen und nur die Möglichkeit bleibt, dass einer oder der andere durch den erkämpften Beuteanteil schließlich doch mehr bereichert als durch die Kriegsopfer geschädigt wird. Natürlich können sich auch beide Parteien gründlich verrechnen und die kriegerischen Transaktionen mit allgemeiner Pleite enden.

Der Tendenz nach bleibt aber Krieg und Frieden ein kapitalistisches Geschäft, das heißt, wesentlich kapitalistisch-geschäftliche Erwägungen über die höchste Profitmöglichkeit entscheiden jeweils darüber, ob von den herrschenden Klassen der eine oder der andere der gesellschaftlichen Aggregatzustände als der zweckmäßigere gewählt wird. Natürlich sind die kapitalistischen Interessen auch in jedem einzelnen Land nichts Homogenes, sondern ein Komplex mannigfaltiger, auch miteinander in Widerstreit stehender Tendenzen einzelner ökonomischer Gruppen; so dass schon hier in demselben Lande Vorteil und Nachteil höchst ungleich verteilt sein kann, ja verteilt zu sein pflegt. Es kommt bei der kapitalistischen Entscheidung über Krieg und Frieden in dieser Beziehung schließlich darauf an, welche Interessentenfraktion die Staatsgewalt am meisten beherrscht, die Staatsmaschinerie am ehesten für sich arbeiten lassen kann, wobei natürlich immer noch gründlichstes Verrechnen möglich ist.

Neben dem rein wirtschaftlichen Geschäft steht noch das politische Geschäft, das natürlich in seiner Wurzel im Wesentlichen auch wirtschaftlich ist.

Wenn das „Volksblatt für Anhalt" zur Widerlegung meiner These auf die furchtbaren Opfer hinweist, die der Krieg auch den besitzenden Klassen abfordert, so freut uns dieses Bekenntnis der Dessauer Weisheit, die sich einst als ein legitimes Kind des Sozialismus gebärdete und nun ihre illegitime Abstammung aus Schulze-Delitzschs Jupiterhaupt so energisch bekennt. Die herrschenden Klassen haben sich ihre Herrschaft schließlich stets etwas kosten lassen, wenn auch nie so viel wie die Massen sich ihre Knechtschaft; und Blut, selbst ihr eigenes Blut, war der Bourgeoisie schon öfter minder wert als Gut, als kapitalistisches Gut, das Allerheiligste des Kapitalismus. Mit naiver Deutlichkeit verrät Ballin, Generalgewaltiger der Hapag, seine Grundauffassung vom Kriege in jenem Brief an den Bund „Neues Vaterland": „Solange die Erträgnisse nicht abzuschätzen sind, halte ich es für ein aussichtsloses und schädliches Beginnen, die Friedensdividenden festsetzen zu wollen."

Die politische Wirkung der Mehrheitstaktik

Dass die Mehrheitstaktik, weit davon entfernt, einem künftigen Krieg entgegenzuwirken, vielmehr geradewegs dazu einlädt, ist bereits gezeigt. Ihre Wirkung auf die innerpolitische Entwicklung ist aber kaum erfreulicher. Lensch meint, die Rücksicht auf die Neutralen werde die Regierung zu ernstlichen Reformen nötigen. Es wird aber sehr vom Kriegsausgang abhängen, ob die entscheidenden Faktoren nach dem Kriege ein besonderes Interesse am Wohlwollen der Neutralen haben werden. Ob etwaige Kriegslehren dieser Art nach Friedensschluss nicht mit vielem anderen schleunigst vergessen werden, ist erfahrungsgemäß mehr als zweifelhaft. Die ganze Rücksicht der deutschen Regierung auf die Neutralen ist ja auch heute schon von anderen Gesichtspunkten bestimmt. Viel kompaktere Beweggründe, Erwägungen, die den Geldbeutel und die innerpolitische Machtverteilung viel direkter betreffen, pflegen für die deutsche, die preußische Regierung maßgebend zu sein.

Wenn sich die bisherigen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft nicht auf den Kopf stellen und Deutschland sich nicht in ein politisches Schlaraffenland verwandelt, werden auch künftig keine ernsthaften politischen Reformen anders als durch politischen und wirtschaftlichen Kampf erzielt werden. Und die Aussichten dieses Kampfes sind um so günstiger, je zuversichtlicher das Vertrauen der Massen in die Festigkeit, in die Unbeirrbarkeit und Stetigkeit der Sozialdemokratie ist und je größer die Achtung und Furcht der Gegner vor ihrer Kraft, Zielsicherheit und Entschlossenheit.

Einer Partei, deren Widerstandslosigkeit gegen Massenpsychosen, gegen den heulenden Mob der Straße, gegen gerissene Regierungsdemagogie,G gegen ein Blatt Papier mit Druckerschwärze, die den Belagerungszustand verkündet, so offenkundig ward, einer Partei, die dem Namen einer Umsturzpartei nur eben durch den Umsturz ihrer eigenen Grundsätze Ehre gemacht hat und deren Festigkeit in einem großen historischen Moment so gering war, dass ein Kartenhaus im Vergleich dazu als ein Festungswall erscheint, einer solchen Partei wird sowohl jenes Vertrauen wie dieser Respekt fehlen. Umso mehr, je mehr „sozialistische" Frühlingslerchen mitten im unwirtlichen Winter des imperialistischen Missvergnügens herumflattern und dem Volke den Wahn eines nahen Kanaans einzutirilieren suchen. Sich einbilden, im Wege solcher „direkten Aktion" nationalliberalen Kalibers dem Proletariat die Wege ebnen zu können, heißt das Abc des dialektischen Materialismus in den Wind schlagen.

Die Kunst, uns spielend zu besiegen, haben die Feinde des Proletariats gelernt. Die Sozialdemokratie muss sich die verlorene Achtung zurückerobern; zurückerobern im Kampf. Nimmt sie diesen Kampf noch während des Krieges auf, so kann sie rasch und gründlich zu jenem Ziel gelangen. Verschiebt sie ihn bis nach dem Krieg, so wird er ihr saurer werden, gerade weil er dann minder gefahrvoll ist.

Erspart bleibt er ihr nicht.

Auch in der innerpolitischen Wirkung zeigt sich so, allen Illusionen zum Trotz, dass die Mehrheitstaktik die Entwicklung nicht fördert, sondern hemmt.

Der Krieg als bonapartistisches Unternehmen

Dass eines der mindestens objektiven Motive, die die herrschenden Klassen, insbesondere diejenigen Deutschlands, zum Krieg getrieben haben, das Bedürfnis nach Sicherung ihrer politischen und ökonomischen Klassenherrschaft ist, wurde verschiedentlich in sehr leidenschaftlicher Polemik gegen meine Abstimmungsbegründung bestritten. Die Hauptstützen dieser Polemik sind, wie so oft, Verständnislosigkeit und kurzes Gedächtnis.

Die Untrennbarkeit der äußeren und inneren Politik haben zwar die unterdrückten Klassen recht oft, die herrschenden Klassen noch nie verkannt. Für viele Sozialdemokraten, ja für die offizielle Politik der sozialdemokratischen Zentralinstanzen war bei ihrem Eintreten für den Krieg mitbestimmend die Hoffnung auf eine durch diese Politik zu erleichternde Neuorientierung der inneren Politik und die Besorgnis vor einer Vernichtung der Arbeiterorganisationen im Falle einer oppositionellen Politik. Eine allzu große Selbstgenügsamkeit und Überhebung wäre es, wollte man sich einreden, die herrschenden Klassen hätten solche Erwägungen nicht angestellt! – allerdings klügere und weitsichtigere als jene sozialdemokratischen Märchenhoffnungen. Der Bissingsche Korpsbefehl6 sollte doch nicht ganz vergessen sein; und die Besorgnis vor gewaltsamer Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen beruht eben auf der Erkenntnis von der Bereitschaft der herrschenden Klassen, den Krieg bonapartistisch auszunutzen.

Seit je gehörten die Ausnutzung nationalistischer Strömungen, chauvinistischer Erregungszustände zur Bekämpfung der Opposition und die Entfesselung oder Aufstachelung solcher Strömungen zum eisernen Inventar der politischen Demagogie der herrschenden Klassen. Zahlreiche Wahlkämpfe legen Zeugnis dafür ab, dass auch die Regierung des neuen Deutschen Reiches dieses Handwerk gründlich versteht. Hat man das alles vergessen?

Und hat man vergessen, was sich 1910 abspielte, als die niedergerittene Sozialdemokratie in den Nachwahlen zum Reichstag von Sieg zu Sieg schritt? Damals schrien die Heißsporne der Scharfmacherei nach einem auswärtigen Konflikt, um auf dem Scheiterhaufen des patriotischen Zorns die Hydra des proletarischen Klassenkampfes zu verbrennen.

Und hat man die Kampagne Pfemferts von 1911 gegen hohe und höchste Reichswürdenträger vergessen, in der er – nicht widerlegt, sondern vielfach geradezu bestätigt – die Anklage erhob, dass für die bevorstehenden Wahlen eine nationalistische Parole vorbereitet werde, um im Trüben fischen zu können? Weiß Heine nicht, dass dieses bonapartistische Spiel an dem Pulverfass des Weltkrieges am 31. März 1911 von seinem Freund Frank im Reichstag gegeißelt wurde? Ist die deutsche Regierung, sind die herrschenden Klassen Deutschlands etwa von 1911 bis 1914 an Weisheit und demokratischem Pflichtbewusstsein so ungeahnt gewachsen, dass sie 1914 den Regungen von 1910/1911 nicht mehr zugänglich waren? Immer unbehaglicher fühlten sie sich – gerade in Deutschland, gerade in Preußen, wo die Opposition, der Klassenkampf, den die herrschenden Klassen sicher ernst nahmen, immer höhere Wellen schlug; wo die Gefahr der sozialen Revolution immer drohender aufschoss! Die ganze Politik der herrschenden Klassen orientiert sich nach ihrem Profit- und Machtbedürfnis und folgerichtig – die andere Seite derselben Medaille! – nach den Widerständen und Gefahren, die diesem Bedürfnis entgegentreten, d. h. in erster Linie nach der revolutionären Gefahr der Sozialdemokratie. Dass der Krieg ein – möglicherweise unrentables – geschäftliches Unternehmen größten Stils darstellt, verkennen nur politische Hans Naivi. Glaubt ein Mensch über 14 Jahre, dass bei Inszenierung eines solchen Unternehmens nicht auch die Chancen gegenüber jenen Widerständen und Gefahren mit erwogen sind? Tag und Nacht bedrückte der Alp der proletarischen Bewegung die herrschenden Klassen, und ausgerechnet bei Ausbruch des Krieges sollten sie ihn vergessen haben?

Wir haben einen schlagenden Beweis in der glückseligen Begeisterung, mit der sich Regierung und bürgerliche Parteien in Wort und Schrift beglückwünschten, als sie die Sozialdemokratie als Bundesgenossen an ihrer Seite sahen, als sie die Kraft- und Hilflosigkeit der gefürchteten Arbeiterbewegung erkannten. „Dieser Sieg über den inneren Feind lohnt allein den Krieg!", so hieß es. Das ist mehr als eine gewonnene Kriegsschlacht. Im Klassenkriege hatten die herrschenden Klassen gesiegt, als sie gerade erst die Waffen zum Weltkrieg zogen. Sie hatten gesiegt – freilich nur auf Zeit. Und auf kurze Zeit vielleicht – das hängt von der künftigen Politik der Sozialdemokratie ab.

Hat man auch ganz vergessen, wie verständnisvoll die reaktionäre Presse Deutschlands den Gedanken bonapartistischer Kriegszettelung Englands (wegen Ulster) und Russlands erwog ? Gibt auch das den Heine und Genossen nicht zu denken?

Der Methoden des Bonapartismus sind zwei:7 wirksame Gewalt bei guter Gelegenheit und Korruption. Auf beides war man in Deutschland wohlpräpariert. Die Korruption ist die bequemere und wirksamere für die herrschenden Klassen. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihnen die Anwendung dieser Methode gar sehr bequem gemacht.

Der Kampf um das Kriegsziel

Die Kampagne auf Freigabe der Erörterung über den Frieden ist ein typisches Beispiel dafür, in welch romantischer Maskerade und mit wie gleisnerische Gebärde materielle Interessen politisch auftreten können. Diese Kampagne setzte ein mit einem schwungvollen Kampf gegen die Zensur. Zeitweilig erstrebte sie den Eindruck, als verfechte sie auch Bewegungsfreiheit für die Friedenspropaganda. Sie gab sich den Anschein einer unparteiischen Aktion für die Menschenrechte aller erdenklichen Auffassungen über die Gestaltung des künftigen Friedens. Wenn sie ganz unverhüllt ihr „Kriegsziel", ihren annexionshetzerischen Sinn offenbarte, kehrte sie den Spieß unverfroren um, beschuldigte die Behörden unter ohrenbetäubendem Gezeter der Parteilichkeit zugunsten der Annexionsgegner und heischte in edlem Abscheu gegen ungerechte Unterdrückung pathetisch gleiche Freiheit für die Annexionsraserei. Dass sie nur dem engelsreinen Zweck diente, dem ganzen deutschen Volke die ihm nach seiner glänzenden Kriegsleistung gebührende Mitwirkung bei der Friedensgestaltung zu sichern, versteht sich am Rande.

Die Gestaltung des Krieges ist nicht nur militärtaktisch bedingt, sondern in hohem Maße auch politisch-strategisch, und die Gestaltung des Friedens ist keineswegs eine Aufgabe, die erst nach Abschluss der kriegerischen Operationen auftaucht. Die Kampagne wegen der Friedenserörterung hat sich so ganz folgerichtig zu einer Kampagne wegen des Kriegszieles zugespitzt.H

Der Kampf um die Erörterung des Kriegszieles ist ein Teil des Kampfes um die Durchsetzung der Eroberungspolitik gegen alle Widerstände und ein Stück des Kampfes zwischen den verschiedenen kapitalistischen Fraktionen um das spezielle Objekt der Eroberungspolitik. Dass sich dieser Kampf zum Teil gegen die Regierung richtet, ist die notwendige Folge der Tatsache, dass die formell leitenden Männer der Regierung unter dem starken Einfluss gewisser Interessengruppen, vor allem der Hochfinanz, stehen.

Es handelt sich um denselben Kampf, der in anderer Form sich im August gegen die „sanftmütige", „schwächliche" Haltung der Regierung in Bezug auf Belgien abspielte. Die „Tägliche Rundschau" und die „Post", die lautesten Rufer im Streite um das Kriegsziel, schleuderten damals, unter dem Belagerungszustand und dem Burgfrieden, scharfe Anklagen gegen die Regierung, deren zweites Ultimatum an Belgien sie schlimmer als eine verlorene Schlacht nannten und gegen die sie unverblümt an die Militärgewalt, die Militärpartei appellierten.

Vom Kriegsziel des Sozialismus

Ziel der Sicherung"

Die Fraktionserklärung vom 4. August 1914 wünscht Frieden, „sobald das Ziel der Sicherung erreicht" ist.

Der Sicherung wessen? Nur des Territoriums und der staatlichen Unabhängigkeit oder außerdem des vom Kapital für erforderlich gehaltenen Spielraums für weltwirtschaftliche Entfaltung des Deutschen Reiches? Und welcher Spielraum nach Art, Richtung und Größe wäre das? Kann dieser Spielraum ohne Eroberung, ohne Vergewaltigung anderer Völker erzielt werden? Wenn nicht, so müsste die Sozialdemokratie die darauf gerichtete Politik bekämpfen. Wir sind hier bereits mitten auf dem Felde des Imperialismus, der nicht „friedlich" ist, aber selbst wenn er der äußeren Form nach „friedlich" wäre, der Antipode des Sozialismus bliebe.

Der Sicherung wodurch? Mit welchen Mitteln? Etwa militaristischen? Hier scheiden sich Sozialismus und Imperialismus von vornherein wie Feuer und Wasser. Für den Sozialismus kommt nicht Sicherung durch Waffengewalt, durch „strategisch günstige Grenzgestaltung" und ähnliches in Betracht; die spezifische Sicherungskraft des Sozialismus ist die wirtschaftliche und allgemein kulturelle Völkersolidarität, die internationale Verbrüderung der Arbeiterklasse. Nur dieses Sicherungsmittel erkennen wir als Sozialisten an, nur für seine Anwendung können wir uns einsetzen. Alle anderen Sicherungsmittel liegen außerhalb des Bereiches jeder proletarischen sozialistischen Politik, wenn sie nicht gar dieser Politik schroff widersprechen.

Das Ziel solcher sozialistischen Sicherung kann aber nie durch den Krieg erreicht werden, sondern nur durch sozialistische Propaganda, durch internationalen Klassenkampf, durch Zusammenwirken des Proletariats aller kriegführenden Länder. Also nicht durch Unterstützung des Krieges, sondern durch seine Bekämpfung.

Damit erledigt sich der von der bürgerlichen Presse mit Genugtuung aufgegriffene Artikel des Genossen Schöpflin vom Januar 1915 (Chemnitzer „Volksstimme").

Prinzip für die sozialdemokratische Taktik im Kriege

Der Krieg ist die Fortsetzung der („friedlichen") Politik mit anderen Mitteln; das gilt nach dem nachgerade totgehetzten Wort von der Staatenpolitik. Hat es nicht auch – analog – Geltung für die Politik der Parteien? Für die der herrschenden Klassen ist das ohne weiteres klar; sie verfolgen im Krieg mit anderen Mitteln ihre Ziele konsequent weiter. Kann aber die Politik des Proletariats im Kriege einfach aufhören oder außer jedem organischen Zusammenhang stehen mit seiner Politik in Friedenszeit? Kann sie eine davon wesensverschiedene sein? Keineswegs. Auch hier ist Kontinuität geboten, sonst verliert die proletarische Politik im Frieden ihre innere Notwendigkeit, ihren Sinn, ihre Kraft. Das trifft zu auf den Klassenkampf im Allgemeinen; vor allem auf die Stellung des Proletariats zum Kriege. Die Politik der Sozialdemokratie in Bezug auf den Krieg muss während des Krieges die konsequente Fortsetzung sein der Politik, die sie in der Friedenszeit gegenüber dem Kriege verfolgt. Nicht aber darf sich ihre antimilitaristische und antiimperialistische Friedenspolitik bei Kriegsausbruch verwandeln in eine promilitaristische und proimperialistische Politik, die Politik des Klassenkampfes in eine Politik der Klassenharmonie. Die Lehre: „Wir bekämpfen den Krieg, wenn er aber einmal da ist, geben wir unsere Opposition gegen ihn auf und machen ihn mit", heißt, die Friedens- und Kriegspolitik grundsätzlich auseinanderreißen. In Wahrheit zeigt eine solche Diskontinuität der politischen Haltung in den beiden Fällen, dass entweder die Haltung im Kriege oder die im Frieden falsch ist, sofern man nicht die Inkonsequenz zum Prinzip erheben will.

So stellt sich die Frage: Haben wir die Verhältnisse, die zum Krieg getrieben haben, vor dem Kriege richtig beurteilt oder nicht? Oder sind andere entscheidende Umstände eingetreten, die unsere frühere Auffassung als irrig erwiesen ?

Niemand wird diese Fragen bejahen können. Es ist vielmehr offenbar, dass der Weltkrieg, wie er ist, genau eben derjenige Weltkrieg ist, den wir voraussahen und im Voraus bekämpften. War also unsere frühere Opposition gegen diesen Krieg ernst gemeint und richtig, von klarer Erkenntnis aller Zusammenhänge getragen, so liegt keine Möglichkeit vor, sie zu verlassen. Verlassen wir sie dennoch, so müssen wir uns wohl oder übel gefallen lassen, dass man unsere frühere Opposition als verkehrt oder als nicht ernsthaft, als Scheinopposition betrachtet – eine Schlussfolgerung, die denn auch mit vollem Recht gezogen worden ist. Aus ihr leiten die herrschenden Klassen die berechtigte Erwartung nach einer Neuorientierung der künftigen sozialdemokratischen Friedenspolitik her, und deren innere Notwendigkeit spiegelt sich auch in den politischen Vorsätzen, Zukunftsplänen der konsequenten Mehrheitspolitiker der Sozialdemokratie. Hier gibt's in der Tat nur ein Entweder-Oder! Entweder Opposition vor und nach Kriegsausbruch oder nationalliberale Regierungspolitik vor und nach Friedensschluss.

Der Krieg kann riesige Umwälzungen bringen, auf allen Gebieten, auch solche, die dem Proletariat günstig sind, ohne dass ihn das Proletariat darum als Mittel zu solchen Umwälzungen wollen kann. Der Krieg, wenn er da ist, kann in thesi in verschiedenen Richtungen verlaufen, von denen die eine günstiger für die proletarische Bewegung sein würde als die andere.

Soll und kann sich darum die proletarische Politik dahin konzentrieren, ihn auf eine bestimmte günstige Richtung zu drängen? Dass sie auch in diesem Sinne sich betätigen soll und vielleicht so gar – im Wege der Oppositionspolitik – einigen Einfluss darin üben kann, ist natürlich außer Zweifel. Die Frage selbst aber ist zu verneinen; aus zahlreichen Gründen.

Erstlich ist es unmöglich, sich so zu konzentrieren, ohne zugleich für den Krieg selbst einzutreten. Jede positive Mitwirkung in dieser Art wird stets in ein positives Eintreten für den Krieg umgeschmolzen, und alle Vorbehalte werden zur Dekoration, was das Erstgeburtsrecht des Sozialismus schließlich doch um ein Linsengericht verkaufen hieße.

Weiter: Es ist keineswegs möglich, alle die Möglichkeiten des Kriegsausganges erschöpfend und klar zu überschauen, speziell in Bezug auf ihre Nützlichkeit für die Arbeiterbewegung. Von jedem Land aus wird die Antwort auch leicht recht verschieden ausfallen, das Ergebnis wäre keine gemeinsame internationale Aktion, sondern internationale Zersplitterung und eine phantastische Konjekturalpolitik dazu.

Sodann: Auf die Gestaltung der verschiedenen Möglichkeiten vermag die Sozialdemokratie nur unter gewissen seltenen Voraussetzungen Einfluss zu üben. Die zivile und die militärische Regierung verfolgen ihre Pläne, die Pläne der herrschenden Klassen, gerade im Kriege unter den für sie und ihre unkontrollierbaren Machenschaften denkbar günstigsten Umständen; eine Kontrolle und Beeinflussung der Kriegspolitik ist unter den in Deutschland herrschenden Verfassungszuständen noch aussichtsloser, als eine Kontrolle und Beeinflussung der auswärtigen Politik im Frieden bekanntlich war.

Und schließlich: Alle möglichen Lösungen des Kriegsrätsels sind in einem imperialistischen Kriege imperialistisch, Lösungen der militaristischen Vergewaltigung, unter denen es für die Sozialdemokratie keine gibt, für die sie eintreten könnte.

Wohl hat die Sozialdemokratie ihren Einfluss für eine dem internationalen Proletariat möglichst nützliche oder möglichst wenig schädliche Lösung einzusetzen. Dazu hat es aber nur eine Kraft, die Kraft des Klassenkampfes. Außerhalb des Klassenkampfes ist das Proletariat machtlos. Rücksichtslos geführter Klassenkampf, rückhaltlose Opposition kann ihm allein den überhaupt möglichen Einfluss auch auf die Kriegsgestaltung, auf das Kriegsziel verschaffen.

Die geschichtliche Funktion des Proletariats im Kriege ist nicht das Eintreten für den Krieg, die Schürung des Völkerhasses, die Stärkung der Kriegsbegeisterung. Das Kriegshetzen besorgen schon ganz andere Leute, denen es ihre geschichtliche Funktion gebietet.

Kurzsichtigkeit nur kann die Haltung der Sozialdemokratie im Kriege von der jeweiligen militärischen Situation abhängig machen wollen. Eine feste, klare, konsequente Haltung ist so nicht möglich, sie kann nur auf dem festen Boden einer klaren, prinzipiellen Auffassung erwachsen. Ein festes Orientierungsprinzip ist nötig, und das kann nur der geschichtliche Charakter des Krieges sein. Und dieser Charakter ist der imperialistische, der des kapitalistischen Eroberungskrieges.

Dieses Wesen des Krieges kann das Proletariat nicht willkürlich verändern; es besitzt ja, wie gezeigt, kaum die Macht, das imperialistische Kriegsziel nennenswert mitzubestimmen.

Auch von der Einwirkung des Proletariats auf die Beendigung des Krieges gilt das Gesetz: Nur im Klassenkampf ist sie möglich. Jede Friedensaktion der Sozialdemokratie – gleichviel welcher Art – wird nur so viel Macht besitzen, wie sie internationales Echo erweckt, und dieses internationale Echo wird stets nur so stark sein wie die revolutionäre Kraft, von der sie getragen wird. Die Sozialdemokratie jedes Landes aber hat das Recht, im Namen der Internationale zu sprechen, und die Möglichkeit, international zu wirken, sobald sie sozialistisch redet und sobald sie sozialistisch kämpft gegen Militarismus und Kapitalismus.

1 Bei der Charakterisierung des gesamten Schlussteils seiner Schrift als „Bruchstücke aus einer Rede in Neukölln im Januar 1915" durch Karl Liebknecht selbst muss auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass er damit das Militärgericht und den Staatsanwalt über den wirklichen Charakter und den Zeitpunkt der Entstehung dieser Ausführungen hat täuschen wollen. Als Liebknecht seine Schrift zusammenstellte bzw. schrieb (im März 1915), war er bereits (seit dem 7. Februar) Militärangehöriger, und jede außerparlamentarische politische Wirksamkeit war ihm ausdrücklich verboten. Folglich war er gezwungen, insbesondere bei den Ausführungen, die er nach dem 7. Februar schrieb, den Staat über Charakter und Entstehungszeit zu täuschen;

Bei der Kennzeichnung seiner Berichte über die Sitzungen der sozialdemokratischen Fraktionen des preußischen Ahgeordnetenhauses am 8. Februar und des Reichstages am 8., 9. und 18. März 1915 verfuhr er ähnlich. Obwohl er an diesen Sitzungen selbst teilnahm und zur Berichterstattung über sie nicht auf Berichte anderer angewiesen war, schrieb er darüber: „Nach persönlichen Erkundigungen zusammengestellt".

2 Die in eckige Klammern eingeschlossenen Sätze sind nachträgliche Ergänzungen Karl Liebknechts.

3 „Internationale Korrespondenz" (IK) – ein von dem rechten Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbeamten Albert Baumeister geleiteter und von der Generalkommission der Gewerkschaften finanzierter Pressedienst für Fragen der internationalen Politik und Arbeiterbewegung. Die IK unterstützte die Kriegspolitik in sozialchauvinistischem Sinne. Sie erschien in Berlin von 1914 bis 1917.

F Wir möchten zur Ergänzung dieser Ausführungen Liebknechts noch an die Worte erinnern, die die „Humanité" zu der bekannten Stuttgarter Rede Heines schrieb: „Die Auffassung, welche Heine vertrat, mache aus dem Proletariat Deutschlands eine von der Regierung abhängige Klasse und eine ewige Drohung für die Arbeiterklassen aller Nachbarländer. Das Proletariat der neutralen Länder könne jetzt die Tiefe des Abgrunds ermessen, in den ein deutscher Sieg es führen würde." Also: Durchhalten bis zur völligen Niederwerfung des deutschen Militarismus, Junkerismus und Kaiserismus! Das ist die Lehre, die die sozialistischen Parteien des Auslands aus Heines Haltung ziehen. Und gegen diese Lehre kann nichts eingewandt werden.

4 Heine beschwört in den „Süddeutschen Monatsheften" (vgl. „Berliner Tageblatt" vom 17. März 1915) die Regierung und ihre Einbläser: „Verkennt die Schätze nicht", die euch die Arbeiterorganisationen in den Schoß geworfen haben! „Nehmt sie vorbehaltlos an!" usw.

5„Die falsche Rechnung" Norman Angells – 1910 erschien in England das aufsehenerregende Buch „Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmacht und Wohlstand der Völker" von R. N. A. Lane, der unter dem Pseudonym Norman Angell schrieb. Es wurde in viele Sprachen übersetzt. Die dritte deutsche Auflage erschien unter dem Titel „Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?" Angell, schon vor dem ersten Weltkrieg ein bedeutender Publizist der englischen bürgerlichen Friedensbewegung, setzte auch während des Krieges und danach seine Tätigkeit fort. 1933 erhielt er den Friedensnobelpreis. Er war Vizepräsident des von Henri Barbusse geleiteten Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus.

G Wir möchten zu diesen Worten Liebknechts über die Regierungsdemagogie eine Stelle aus der „Deutschen Tageszeitung" vom 5. März 1915 (Nr. 118) hinzufügen, in der bei einer Betrachtung Italiens vorsichtig, offenherzig ausgeplaudert wird, wie man in den Kreisen, die Preußen und Deutschland regieren, die Rolle der Massen einschätzt:

Die sehr kühl überlegenden und vorbereitenden Staatsmänner … haben unseres Erachtens die Volksstimmung in der Hand. Sie können sie nach der einen Seite lenken oder nach der anderen – es bedarf dazu nur kurzer Bearbeitungen eines Vorrats von Schlagworten, der immer zur Verfügung steht. Das sind… rein taktische Fragen, wie sie (die Regierung) die öffentliche Meinung behandelt oder macht. Den leitenden Staatsmännern kann es unter Umständen zweckmäßig sein, als die von der Woge der Volksstimmung unwiderstehlich Getriebenen zu erscheinen oder als deren starke und weise Beherrscher."

Nicht anders werten diese „völkischen Patrioten" natürlich das deutsche Volk, die öffentliche Meinung Deutschlands.

6 Bissingscher Korpsbefehl – Der Kommandierende General des VII. Armeekorps in Münster, Freiherr von Bissing, erließ am 30. April 1907 einen Befehl mit detaillierten Anweisungen darüber, wie sich die Truppen bei Unruhen, im Falle des Belagerungszustandes, bei Straßenkämpfen usw. zu verhalten hätten. Dieses Dokument, ein typisches Beispiel für die Brutalität, mit der der militaristische, junkerlich-bourgeoise Staat die deutsche Arbeiterklasse zu bekämpfen gedachte, gelangte 1910 in die Hände der Sozialdemokratie und war für sie von großer agitatorischer Bedeutung.

7 In einer Fußnote zu der Glosse „Kanzler-Apologie" schreibt Karl Liebknecht: „Die Stelle S. 84 des ,Klassenkampfs' über die Methode des Bonapartismus ist, wie manche andere Stelle der Schrift, infolge äußerer Schwierigkeiten missraten und verstümmelt. Sie sollte lauten: ,Die Methoden der Bonapartes gegen das Volk sind vorzüglich drei: rücksichtslose Gewalt bei guter Gelegenheit, Verwirrung und Korruption. Nur die letzten zwei rechnen zum Bonapartismus im technischen Sinn. Auf alle drei waren die herrschenden Klassen in Deutschland beim Kriegsausbruch wohlpräpariert. Verwirrung und Korruption sind für sie die bequemeren und wirksameren. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihnen die Anwendung dieser beiden Methoden nur allzu leicht gemacht."' (Das Zuchthausurteil gegen Karl Liebknecht. Wörtliche Wiedergabe der Prozessakten, Urteile und Eingaben Liebknechts, Berlin 1919, S. 152.)

H Worum es sich dabei dreht, enthüllt sehr deutlich die (zustimmend am 24. Februar von der „Post" abgedruckte) „Tägliche Rundschau" vom 25. Februar 1915, die sich auf die Ballin, Kirdorf-Gelsenkirchen, Klöckner-Duisburg, Hirsch-Essen, Freiherr von Zedlitz-Neukirch, von Heydebrand beruft, also auf Vertreter des Reedereikapitals (Calais, Antwerpen), der Schwerindustrie und des agrarischen Junkertums, die Annexionen in Europa begehren; und die dann auftrumpft: Es sei doch kein Glaubensdogma, „dass man allein in der Wilhelmstraße und bei der Großfinanz über die Wünsche und Hoffnungen des deutschen Volkes richtig und ausreichend unterrichtet ist". Die „Großfinanz", das heißt hier besonders die Deutsche Bank, deren Expansionsinteressen sich weniger auf Europa als auf Asien, Kleinasien und Afrika konzentrieren, und die doppelt einflussreich ist, seit sie in der Person ihres Direktors Helfferich, des neuen Finanz-Staatssekretärs, ganz förmlich ein wichtiges Stück der Regierungsmacht direkt in die Hände genommen hat.

Kommentare