Zu Liebknechts Sonderabstimmung

Zu Liebknechts Sonderabstimmung

Abstimmungsbegründung

(Dem Reichspräsidenten gemäß Paragraph 59 der Geschäftsordnung überreicht)

Meine Abstimmung zur heutigen Vorlage begründe ich wie folgt: Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital. Es handelt sich vom Gesichtspunkt des Wettrüstens um einen von der deutschen und österreichischen Kriegspartei gemeinsam im Dunkel des Halbabsolutismus und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg. Es handelt sich auch um ein bonapartistisches Unternehmen zur Demoralisation und Zertrümmerung der anschwellenden Arbeiterbewegung. Das haben die verflossenen Monate trotz einer rücksichtslosen Verwirrungsregie mit steigender Deutlichkeit gelehrt.

Die deutsche Parole „Gegen den Zarismus" diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole „Gegen den Militarismus" – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhass zu mobilisieren. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muss deren eigenes Werk sein.

Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. Sein geschichtlicher Charakter und bisheriger Verlauf verbieten, einer kapitalistischen Regierung zu vertrauen, dass der Zweck, für den sie die Kredite fordert, die Verteidigung des Vaterlandes ist.

Ein schleuniger, für keinen Teil demütigender Friede, ein Friede ohne Eroberungen, ist zu fordern; alle Bemühungen dafür sind zu begrüßen. Nur die gleichzeitige dauernde Stärkung der auf einen solchen Frieden gerichteten Strömungen in allen kriegführenden Staaten kann dem blutigen Gemetzel vor der völligen Erschöpfung aller beteiligten Völker Einhalt gebieten. Nur ein auf dem Boden der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse und der Freiheit aller Völker erwachsener Friede kann ein gesicherter sein. So gilt es für das Proletariat aller Länder, auch heute im Kriege gemeinsame sozialistische Arbeit für den Frieden zu leisten.

Die Notstandskredite bewillige ich in der verlangten Höhe, die mir bei weitem nicht genügt. Nicht minder stimme ich allem zu, was das harte Los unserer Brüder im Felde, der Verwundeten und Kranken, denen mein unbegrenztes Mitleid gehört, irgend lindern kann; auch hier geht mir keine Forderung weit genug. Unter Protest jedoch gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die kapitalistischen Ziele, die er verfolgt, gegen die Annexionspläne, gegen den Bruch der belgischen und luxemburgischen Neutralität, gegen die Militärdiktatur, gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die Regierung und die herrschenden Klassen auch heute noch schuldig machen, lehne ich die geforderten Kriegskredite ab.

Berlin, den 2. Dezember 1914

Karl Liebknecht


Der Präsident hat die Aufnahme dieser Begründung in den stenographischen Bericht abgelehnt, weil in ihr Äußerungen enthalten seien, „die, wenn sie im Hause gemacht wären, Ordnungsrufe nach sich gezogen haben würden".


An den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Berlin

Berlin, den 3. Dezember 1914

Werte Genossen!

Bei der gestrigen Abstimmung im Reichstage befand ich mich in einer Zwangslage. Die Ablehnung der Vorlage war nach meiner Überzeugung geboten durch das Parteiprogramm und die Beschlüsse der internationalen Kongresse. Ich bin verpflichtet, im Sinne des Parteiprogramms und dieser Beschlüsse zu wirken. Ein Fernbleiben von der Sitzung und der Abstimmung erschien mir unmöglich bei der außerordentlichen Wichtigkeit der Vorlage; ich musste mein Mandat als Abgeordneter durch Stellungnahme zu ihr ausüben. Jedes andere Verhalten, das meine von der Fraktion abweichende Auffassung zum Ausdruck brachte, war mir genauso verwehrt wie ein ablehnendes Votum. Es war mir kein Weg gelassen, um die Verantwortung für den verhängnisvollen Beschluss der Fraktion abzulehnen, eine Verantwortung, die ich nach meiner sorgfältigen und immer wiederholten Prüfung unter keinen Umständen tragen kann.

Ich habe mich bemüht, von der Fraktion die Erlaubnis zu einer abweichenden Abstimmung zu erwirken. Die Fraktion hat sie versagt, obwohl der jetzige Fall sowohl seiner Bedeutung wie seinen inneren Schwierigkeiten nach ein ganz einziger war. Sie war nicht durch den Parteitagsbeschluss von 1876 gebunden. Dieser Beschluss will und kann die Fraktion nicht ermächtigen, durch das Mittel der Disziplin Verstöße gegen Parteibeschlüsse zu erzwingen. Der Fraktionsbeschluss aber war ein schwerer Verstoß gegen grundlegende Parteibeschlüsse.

In diesem Gewissenskonflikt musste ich die Pflicht der Fraktionsdisziplin, so hoch ich sie schätze, der Pflicht zur Vertretung des Parteiprogramms unterordnen. Ich hoffe dafür bei den Genossen in und außerhalb der Fraktion Verständnis zu finden.

Dem Reichstagspräsidenten habe ich die abschriftlich beigefügte Begründung meiner Abstimmung gemäß § 59 der Geschäftsordnung überreicht. Wie ich soeben erfahre, lehnt er ihre Aufnahme in den stenographischen Bericht ab. Ich bemühe mich, wenigstens einen Vermerk in den stenographischen Bericht zu bringen, der auf diese Tatsache hinweist.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht

Erklärung

(Mit 6 gegen 1 Stimme angenommen)

Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stellt fest, dass der Genosse Karl Liebknecht entgegen dem alten Brauch der Fraktion, der durch einen ausdrücklichen Beschluss für den vorliegenden Fall erneuert wurde, gegen die Kriegskreditvorlage gestimmt hat. Der Vorstand bedauert diesen Bruch der Disziplin, der die Fraktion noch beschäftigen wird, aufs tiefste.

Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

(Veröffentlicht im „Vorwärts" vom 3. Dezember 1914)

An den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Berlin

Berlin, den 13. Januar 1915

Werte Genossen!

Ich nehme Veranlassung, auf mein Schreiben vom 3. v. M. zurückzukommen. In diesem Schreiben erörterte ich u. a. einen angeblichen Beschluss des Gothaer Parteitags von 1876, der die Geschlossenheit der öffentlichen Fraktionsabstimmungen vorschreiben und zersplitterte Abstimmungen der Fraktion verbieten sollte. Ich stützte mich hierbei auf eine Mitteilung des Genossen Molkenbuhr in der Fraktionssitzung. Inzwischen habe ich festgestellt, dass der von Molkenbuhr behauptete Parteitagsbeschluss überhaupt nicht existiert. Nach Seite 27 des alten Gothaer Protokolls ist allerdings ein entsprechender Antrag gestellt gewesen. Dieser Antrag ist jedoch, wie Seite 30 und 31 des Protokolls ergibt, durch Annahme des Antrages Löwenstein, das heißt durch Übergang zur Tagesordnung, erledigt. Bemerkenswert ist, dass der hiernach nichts weniger als angenommene Antrag von demselben Genossen Molkenbuhr verfochten worden ist, der durch die unrichtige Behauptung von der Annahme eines derartigen Antrags einen erheblichen Einfluss auf den Gang der Fraktionsverhandlungen geübt hat.D

Wie mir zu Ohren kommt, wird in der Parteiausschusssitzung allerhand über mich und meine Abstimmung vom 2. Dezember geredet. Ich ersuche Sie, dem Parteiausschuss noch vor Abschluss seiner Verhandlungen von diesem Schreiben Kenntnis zu geben.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht

D Selbst diese Darstellung ist übrigens dem Genossen Molkenbuhr zu günstig. Tatsächlich ist der Antrag nach S. 52 direkt abgelehnt worden, „weil durch die Fraktionsabstimmung die persönliche Überzeugung der Abgeordneten verwischt werde".

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