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Karl Liebknecht 19161025 Brief an Joseph Herzfeld

Karl Liebknecht: Brief an Joseph Herzfeld1

[Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 306, 30. Dezember 1928. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 320-322]

D. 25.10.16

Lieber Kollege!

Dank für den freundlichen Gruß. Der geplante Besuch wird sich nicht machen lassen.

Ich hätte gern Ihr heutiges politisches Gesicht gesehen: Nun habt Ihr ganz ungestört von den Treibereien der Spartakusleute Eure Klingen geschlagen; in der Streikfrage – die die Lebensfrage ist –, in der „Vorwärts "-Frage2 im Reichstage. Resultat – Streik verraten (Hoffmann und Haase und Laukant) und verleugnet, „Vorwärts" verloren und im Dreck, Reichstag – zum Läuse kriegen

Alles nach dem ausposaunten halben Sieg auf der RC.!3

Ledebour für die Rhein-Oder-Linie in der Verteidigungsfrage und für die unbedingte Moralpflichterfüllung.

Verkriecht Ihr Euch nicht in die Erde?! Ich gratuliere.

Aber wenn's nach mir geht, sollt Ihr die Prügel mit 1000 Prozent Aufschlag nach bekommen.

Dass ich dazu nicht die nötige Bewegungsfreiheit meiner Fäuste habe, grimmt mich schon grimmig. Merken Sie nicht, dass Sie allesamt bis zum Schopf im widrigsten Sumpf stecken? Und stündlich noch tiefer sinken? Und ein großes Stück auch die Opposition, die früher auf festem Fuß und Boden stand, mit hineinziehen? Und eine ungeheure Schuld auf sich laden, mehr als die Mehrheit, die das ist, was sie ist?

Und dass es ohne den Massenappell, ohne die Massenaktion, ohne Risiko, zum Teufel, nicht geht? Und dass das „Risiko", wenn es eine aktionsbereite Masse trifft, nur der göttlichste Kraftquell ist?

Und dass heute jeder für sich das Äußerste dafür tun muss, ohne Rücksicht auf sich – nicht aber jeder auf die anderen oder das „Wunder" warten darf? Und dass Ihr allesamt politische Buridan-Esel4 an Tatkraft seid, die nie dazu kommen werden, auch nur ein Heubündel zu fressen? Aber welchen Sinn hat mein Gerede. Ihr werdet bleiben, was Ihr bisher gewesen seid; bis Ihr windelweich geprügelt seid und hinter den Massen hinterdrein humpelt

Ich bin persönlich wohl; sehr wohl. Arbeite viel.

Am 4. November, 10.30 Uhr, ist Schlusstermin. Ergebnis klar. – Einiges wird noch dazukommen – sobald die Immunität beseitigt. Aber spätestens Anfang 1921 hoffe ich den Knüppel wieder frei schwingen zu können – gegen Euch und andere.

Ich bemerke:

Keinesfalls wünsche ich Aufhebung des Termins vom 4. November. Meine Dispositionen sind getroffen.

Ich hoffe, dass es Ihnen persönlich gut geht. Herzliche Grüße auch Ihrer Frau.

Ihr K. L.

Vor einem Jahr konnten die Berliner Frauen dem P.-Ausschuss eins aufspielen.5 Heute seid Ihr offiziell Groß-Berlin, und kein Mäuslein lässt sich in den honorigen Presskommissionen sehen, die über den „Vorwärts" entscheiden. Das habt Ihr aus den oppositionellen Massen gemacht, die dem PV schon mores beigebracht hätten, wären sie durch Euch, durch Eure Instanzen nicht ausgeschaltet worden. Dafür werdet Ihr Eure Generalversammlung haben. Alles hübsch vorschriftsmäßig. Und hübsch vorschriftsmäßig werdet Ihr lackiert werden. Das wird Euch trösten.

1 Joseph Herzfeld (1855-1939) schloss sich im März 1916 der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft an, gehörte 1917 zu den Begründern der USPD. Die Red.

2 Der sozialdemokratische Parteivorstand hatte im Oktober 1916 ein Verbot des „Vorwärts" durch das Oberkommando in den Marken ausgenutzt, um sich in statutenwidriger Ausschaltung des Zentralvorstandes der Berliner Wahlvereine und der Berliner Presskommission des „Vorwärts" diese Zeitung anzueignen und eine sozialchauvinistische Redaktion einzusetzen. Bei diesem Gewaltakt berief sich der Parteivorstand auf die Weisung des Oberkommandos in den Marken, die das Wiedererscheinen des „Vorwärts" von einer personellen Veränderung in der Leitung der Redaktion abhängig machte.

3 Gemeint ist die Reichskonferenz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Berlin vom 21. bis 23. September 1916. Die Red.

4 Buridans Esel, der im Gleichnis zwischen zwei gleichgroßen Heubündeln steht und verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welches von beiden er auffressen soll. Die Red.

5 Am 29. Oktober 1915 versammelten sich vor dem Tagungsgebäude des sozialdemokratischen Parteiausschusses 200 bis 250 Frauen. Sie wählten eine Abordnung, die dem PA die Wünsche der Berliner Genossinnen vortragen sollte. Als die Deputation abgewiesen wurde, drangen die Demonstranten in den Sitzungssaal ein. Eine Vertreterin verlas ein Protestschreiben. Darin forderten die Frauen energischen Kampf gegen den Lebensmittelwucher und gegen die Pressezensur, der zum Kampf gegen den Belagerungszustand erweitert werden müsste. Sie appellierten an die Parteiführung, sich an die Spitze der spontanen Massenbewegung zu stellen, und forderten Protestversammlungen vor Rathäusern, Parlamenten und Ministerien. Der Klassenkampf müsste endlich wiederaufgenommen werden und sich gegen den Eroberungskrieg der deutschen Imperialisten richten. Die Frauen verlangten von der Parteiführung, die Annexionspläne energisch zu bekämpfen und dem wachsenden Friedenswillen des Proletariats Ausdruck zu geben.

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