Karl Liebknecht 19160800 I Von den Ursachen des Kriegs

Karl Liebknecht: Die sieben „Glossen" Liebknechts

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 185-197]

Am 18. September überreichte der Angeklagte die folgenden sieben „Glossen", von denen die sechste im August 1915, die übrigen im August 1916 verfasst sind.

Berlin, den 3. September 1916

In meiner Strafsache überreiche ich einige (6) Glossen, die bereits vor der Hauptverhandlung zweiter Instanz im wesentlichen niedergeschrieben waren, aber jetzt erst fertiggestellt werden konnten.

Armierungssoldat Liebknecht

Berlin, den 18. September 1916

Die Mundierung hat wiederum eine Verzögerung bewirkt. Ich lege als Nr. VI ein im August 1915 verfasstes Exposé „Im Nessusgewand der Revolution" bei.

Gewisse Vorgänge aus der Zeit nach dem 3. September habe ich nachträglich berücksichtigt.

Armierungssoldat Liebknecht

I

Von den Ursachen des KriegsA

Der vor Menschenaltern geschriebene Satz Paul de Lagardes: „Wenn Russland sich weigert, für Geld und gute Worte unsere (Deutschlands) und Österreichs Grenze in der Richtung auf Kleinasien vorzuschreiben, so werden wir daran denken, uns selbst zu helfen, aber dann so gründlich, dass es auf lange vorhält", ist keineswegs so „ahnungsvoll", wie die „Deutsche Tageszeitung" (26. 7. 16), allerdings nur im Beiblatt, meint. Wenigstens nicht für die tieferen Ursachen des Weltkriegs und sein geschichtliches Wesen. Als der Weltkrieg ausbrach, war das hochkapitalistische Deutsche Reich längst den recht ansehnlichen Kinderschuhen der Orientpolitik entwachsenB und hatte die Siebenmeilenstiefel der Weltpolitik angezogenC. Und die „Selbsthilfe des Krieges" erschöpft sich so wenig in jenem Ziel Lagardes, dass sie im Kern sogar nur aus anderen als den Orientinteressen zu verstehen ist; wenn allerdings diese Interessen auch als auslösender Faktor von augenfälliger Wichtigkeit waren und im Orient oder seiner Nachbarschaft wichtigste Gelenkverbindungen und Schlagadern der Weltpolitik liegen (Suez und Verbindung Ägypten-Indien).

Das deutsch-englische (und französische) Orient- und AfrikaabkommenD, das unmittelbar vor dem Kriege geschlossen wurde und das die Fortsetzung einer längere Zeit vom Kanzler befolgten Politik war, erkannte ganz Türkisch-Asien bis Basra, mit Ausnahme einer französischen Halbenklave in Syrien, zur deutschen Einflusssphäre. Damit war den deutschen Interessenten an der Ägyptisierung der Türkei, besonders der Deutschen Bank (BagdadE und anatolische Bahn, PetroleumfelderF usw.), in weitem Umfange Rechnung getragen.G Freilich war das Kopfstück der Bagdadbahn preisgegeben; und die im Eigenbesitz gesicherte Verbindung „Berlin-Bagdad" oder „Hamburg-Bagdad" oder „Elbe-Euphrat" fehlte. Dennoch hätten die deutschen Orientinteressenten noch am ehesten Grund zur Geduld gehabt. Und ähnlich lag es mit dem deutschen Kapital, das der kapitalistischen Anlage zur Ausbeutung von oder zum Handel mit neuen Kolonien zustrebte: Ihm bot jenes Abkommen in dem französischen und belgischen Kongo und dem portugiesischen AngolaH Aussicht auf erklecklichen Vorteil; freilich ohne die lückenlose Verbindung Elbe-Äquator.

Dem Brückenschlag nach Kleinasien stand, wenn man Österreich als Deutschlands kapitalistische und politische Einflusssphäre oder doch sichere Ergänzung betrachtete, der Balkan im Wege, d. h. Russland, aber auch England und selbst Frankreich; außerdem, und zwar sehr energisch, Italien, das geradeswegs eine vertragsmäßige Barriere bildete und zum guten Teil gerade darum „verbündet" war, aber als Prätendent auf die Mittelmeer- und Nordafrikavormacht auch mit den Ententestaaten, hauptsächlich England und Frankreich, in einer allerdings noch latenten Spannung lag.

Dem Brückenschlag nach Zentralafrika stand außerdem wiederum England und besonders Ägypten im Wege, der „Eckpfeiler der englischen Weltmacht". Auch das Kopfstück der Bagdadbahn bedeutete einen phänomenalen Gegensatz zu England.I In Türkisch-Asien, der deutschen Einflusssphäre selber, war Russland der Feind geblieben (vgl. zuletzt den deutsch-russischen Konflikt wegen Armenien Anfang 1913).

Die endgültige Perfektion des Abkommens und die Konsolidierung der Verständigungspolitik mit England und Frankreich hieß mindestens Vertagung der weitergehenden Wünsche. Sie durch raschen Schwerthieb zu vereiteln konnte den energischsten Vertretern dieser Interessentengruppen geraten erscheinen. Doch überwog, wie es scheint, die Neigung, das Abkommen als Abschlagszahlung hinzunehmen und abzuwarten.

Das Abkommen bedeutete jedoch für andere und höchst mächtige kapitalistische Kreise Deutschlands eine Provokation.

Es sah – nach der Mitteilung Kjellens1, bekanntgegeben sind die Verträge bis heute noch nicht – an der deutschen Westgrenze (Luxemburg und Lothringen) gewisse Konzessionen an Frankreich vor, die dem Verlangen der deutschen Schwerindustrie nach dem französischen Minettegebiet und den französisch-belgischen Erz- und Kohlenbezirken bis zum Pas de Calais einen Damm gesetzt hätten.

Es schlug den Tendenzen ins Gesicht, die sich gegen den Kern der englischen Weltmacht richteten: vor allem den Exportinteressen der deutschen Großindustrie (wiederum besonders Schwerindustrie), die die englische Konkurrenz auf dem Weltmarkt niederzuringen strebte und seit langem die Zerstörung der englischen Seeherrschaft und Weltmacht predigte, wozu den einen und Einflussreichsten wiederum die Eroberung Belgiens und der französischen Kanalküste, den anderen, mehr vom Orient und von Afrika aus Orientierten, denen um Jäckh2 und Rohrbach3, die Abschnürung der englischen Gurgel am Suezkanal als das unfehlbare Mittel erschien.

Hierzu kamen als wirtschaftliche Gegeninteressen gegen die Politik der „Verständigung" mit England: die enttäuschten Marokko-Kapitalisten (der Mannesmann-Kreis)J und die Spekulanten auf das von der deutschen Regierung (Potsdamer Entrevue) bereits 1910 förmlich an England und Russland ausgelieferte Persien, dessen in die Hand Englands gespielter Teil den Gürtel seines afrikanisch-asiatischen Besitzes schloss, während er in den Händen Deutschlands ein Sprengkeil gegen die englische Macht gewesen wäre.K

Die Rüstungsindustrie endlich stand nicht nur wegen ihrer Union oder doch engen Komplizität mit der SchwerindustrieL (vgl. besonders Krupp), sondern auch darum auf der antienglischen Seite, weil diese größere Chancen auf eine Fortsetzung und Steigerung der Rüstungen und auf einen profitreichen Krieg bot.

Das Abkommen bildete darüber hinaus – und hier zeigt sich, wie noch in vielen anderen Punkten, die unlösliche Verfilzung, ja die organische Zweieinigkeit der äußeren mit der inneren Politik – einen Gegensatz gegen die innerpolitischen Strömungen (Agrarier, nochmals Schwerindustrie, Militaristen, Bürokratie usw., besonders Altpreußen), die in der Annäherung an die demokratischen Westmächte eine ernste Bedrohung ihres innerpolitischen Besitzstandes erblickten und die Fortsetzung der überlieferten Anlehnung an das zaristische Russland zur gegenseitigen Stützung der innerpolitischen Reaktion, zur gemeinsamen Bekämpfung der revolutionären Gefahren wünschten.M

Es widersprach dem „Geist unserer Marine", die seit ihrer Wiedergeburt gegen England gerichtet und dressiert war, und ihrer leitenden Männer, außerordentlich willensstarke Politiker, die als ganz bewusste Exponenten jener wirtschaftlichen und politischen Todfeinde Englands auftraten. Von den leitenden Männern des Generalstabes und des Landheeres gilt das gleiche und, wenn man den Kriegsminister von Heeringen zu den schwankenden Gestalten rechnen mochte, im höchsten Maße auch vom Kriegsministerium, seit die Zabernmeute4 in der Person des jetzigen Generalstabschefs von FalkenhaynN dort ihren Einzug gehalten hatte.

Die Schwerindustrie und ihre Bedürfnisse hatten sich zum stärksten „energischen Prinzip" der kapitalistischen Ausdehnung Deutschlands entwickelt.

Diese Interessentengruppen waren längst vor dem Kriege vorzüglich organisiert (FlottenvereinO Alldeutscher Verband usw.) und in öffentlicher und geheimer, schriftlicher und mündlicher Propaganda unermüdlich und rücksichtslos tätig. Ihre Propaganda wurde mit staatlicher Hilfe in die breiten Massen getrieben. Die militärische und bürokratische Kamarilla trat immer deutlicher und häufiger hervor. Ihre Skrupellosigkeit offenbarte sich besonders beim zweiten Präludium zum Weltkrieg, im Marokko(Agadir)-Konflikt 19115, dessen Entfesselung ihr Werk war, eine Vorübung auf das Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914, eine Vorübung, die nach dem Willen ihrer Veranstalter (Kiderlen-WächtersP, des „damals besten Pferdes aus dem diplomatischen Stalle", Tirpitz' und ihrer Hintermänner) aber schon zum Krieg gegen England und Frankreich führen sollte und nur infolge der Mäßigung Frankreichs und Englands (vgl. die großen Streiks der englischen Berg- und Verkehrsarbeiter) einerseits, wegen einiger Lücken in der deutschen Rüstung andererseits mühsam beigelegt wurde, nachdem Europa im Jahre 1911 dreimal am Rande des Abgrundes gestanden hatte.Q Dieser Konflikt schuf, nach Bülow (S. 107), in Frankreich „jenen esprit nouveau, der … mit dem französischen Chauvinismus die französische Aktionslust erheblich steigerte"; er führte auch auf geradem Wege über Tripolis und die Balkankriege an die Tore zum jetzigen Weltkrieg.

Die Kriegshetzer aus innerpolitischen Gründen (Bonapartisten)R waren damals sehr lebendig. Man stand vor den Neuwahlen zum Reichstag, in denen mit Recht ein großes Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen und Abgeordneten erwartet wurde; die Tagung des preußischen Abgeordnetenhauses war soeben von der kleinen sozialdemokratischen Fraktion mit Schimpf und Schande gesprengt worden.S

Einen sensationellen Gipfelpunkt der kriegsparteilichen Aktion stellte das herausfordernde Bekenntnis des Kronprinzen zur „Fronde" dar, sein demonstratives Beifallklatschen im Reichstag zur Heydebrandschen Hetzrede gegen England, Kanzler und Kaiser. Das Protektorat des Kronprinzen über die Kriegspartei war seitdem eine sozusagen offizielle Tatsache (vgl. Zaberntelegramm: „Immer feste druff", d. h. auf deutsche Staatsbürger!).

Diese verschiedenen Tendenzen sind freilich weder in den Personen- noch in den Kapitalgruppen scharf geschieden. Sie kreuzen sich vielfach. Vor allem im Bankkapital, das ja in höchster Potenz Industrie- und Handelskapital ist. Durch die weitgehende Personal- und Realunion werden indessen die großen Grundzüge nicht aufgehoben.

Österreich war für das Deutsche Reich nicht nur kapitalistische Dependenz und wirtschaftliche Ergänzung, nicht nur ein außenpolitischer Notbehelf im Allgemeinen und Sprungbrett zum Balkan, sondern auch die Brechstange zur Öffnung des Weges nach der Türkei. Dieses verworrenste aller Staatengebilde suchte die Rettung vor unvermeidlichem Verfall in verzweifelter Anspannung seiner brutalen Machtmittel, seiner ganzen Offensivkraft gegen den Balkan, wo es mit den Mitteln orientalischer Despotie eine rücksichtslose Ausdehnungspolitik trieb, die sich aus agrarischen und sonstigen kapitalistischen Gründen (mineralische Bodenschätze, Adria) im glorreichen „Ferdinandeischen Zeitalter" zur infamen Erdrosselungspolitik gegen Serbien steigerte und in der Ermordung des verhassten Hauptträgers dieser Politik ein Ergebnis fast mathematischer Notwendigkeit zeitigte. Dass Österreich die Einverleibung von Bosnien und HerzegowinaT nur als ein Vorspiel weiterer Eroberungen auf dem Balkan betrachtete, zeigte deutlichst seine Haltung in den Balkankriegen, aus denen der Erb- und Todfeind Serbien gestärkt hervorging. Die Konfliktklausel im Bündnisvertrage mit Italien war ein Niederschlag der Nebenbuhlerschaft beider Bundesbrüder in dieser Richtung. Das deutsch-englisch-französische Abkommen bedeutete – zumal in Verbindung mit dem Ergebnis der Balkankriege – die Gefahr einer weiteren, für die österreichischen Expansionspläne peinlichen Konsolidierung der Balkanverhältnisse. Die bosnische Krise, bei der der Held von Agadir höchst persönlich als Kulissenschieber mitwirkte, hatte ebenso wie die Balkankrise den deutschen Weltkriegstreibern bestätigt, dass der Balkan noch immer der archimedische Punkt war, von dem aus der europäische Friede am leichtesten aus den Angeln gehoben werden konnte.

Das war in den wichtigsten Umrissen die Situation, in die die Schüsse von Sarajevo hineinplatzten. Welche Pläne die günstige Gelegenheit zeitigen musste, lag auf der Hand: Der österreichischen Kriegspartei war bei gehöriger Skrupellosigkeit ein bequemer Vorwand zum Krieg gegen Serbien gegeben, die lang erlauerte Gelegenheit zur ersehnten Revision des Bukarester Friedensvertrags6 „mit anderen Mitteln", der deutschen Kriegspartei eine Handhabe, um die Lunte an das Pulverfass des europäischen Friedens zu legen; ihr Hauptziel war sofort Niederwerfung Englands, alles andere war nur Mittel zum Zweck. Sie waren es, die das Ultimatum gegen Serbien erzwangen, dem von vornherein eine Form gegeben wurde, die seine Annahme ausschloss, ausschließen sollte.

Der Kanzler und die Berlin-Bagdad-Leute mögen dem Ultimatum zunächst widerstrebt haben; möglich, dass es in einem jener beliebten Manöver durchgesetzt wurde, in denen die Kamarilla seit je Meister ist. Einem Manöver, ähnlich denen, wie sie der großen Wehrvorlage und der Mobilisationsorder zur Geburt verhalfen und wie sie in der U-Boot-Frage angewendet werden. Ein Beispiel für die Benutzung der österreichischen Regierung als Sturmbock gegen die offizielle Politik der deutschen Regierung ist von den deutschen Tirpitzianern wieder im Dezember 1915 bei der österreichischen »Ancona"-Note7 geliefert worden.

Und gewiss hatte der Kanzler im Verfolg seiner vorangegangenen Politik mit den Berlin-Bagdad-Leuten zwar ein Interesse an der Öffnung des Tores zur Türkei, wozu die Niederwerfung Serbiens gehörte, vorerst aber noch nicht am Krieg gegen andere Mächte.

Tatsache ist jedoch, dass er das Ultimatum schließlich gebilligt und mit allen seinen Folgen ohne Einschränkung vertreten und verteidigt hat.

Die deutsche Regierung – das ist nicht Bethmann Hollweg, das sind vielmehr ihre wirklichen treibenden Kräfte. Die Politik der deutschen Regierung – das sind nicht die vielleicht mehr oder weniger frommen Wünsche und Pläne eines Kanzlers, auch nicht seine Vorstellungen über die Gründe und Wirkungen seiner Regierungshandlungen. Das ist vielmehr der historische Sinn, die historische Wirkung seiner Regierungshandlungen. Ob die einzelnen Personen jeweils bewusste oder unbewusste Repräsentanten politischer Kräfte sind, ob sie die objektiven Folgen ihrer Handlungen überblicken oder sich in Illusionen darüber bewegen, das macht nichts aus für den Gang der Geschichte Das macht auch nichts aus für die geschichtliche Rolle der Träger dieser Politik; das ist eine persönliche, keine politische Angelegenheit, eine individuell-psychologische und keine soziologische Frage. Das gilt ebenso von der äußeren Politik und der geschichtlichen Verantwortung für ihre Katastrophen wie für die innere Politik und die geschichtliche Verantwortung für ihre Katastrophen.

Und wenn der Kanzler nach dem Ultimatum von „Lokalisierung" des Konflikts redete, so war das, wenn er es ernsthaft meinte, nur eben ein beschränkter Kommentar zu den politischen Ereignissen, deren Leitung und Verständnis ihm verlorengegangen war. Und es ist törichter Hokuspokus, diesen Bethmann-Kommentar zu dem ehernen Gang der Geschichte als „die deutsche Regierungspolitik" ausgeben zu wollen. Die deutsche Politik haben dann ebenso damals wie im Januar 1913 und am 30. Juli und 1. August 1914 die Tirpitzianer, die deutschen „Weltmachtpolitiker" gemacht, mag es der Kanzler wissen oder nicht.

Aber es fehlt jeder Grund, zu bezweifeln, dass der Kanzler auch dieses Stück Politik mit allem Bewusstsein mitgemacht hat. Das deutsche Weißbuch ergibt dies sogar. Auch des Kanzlers Orient- und Englandpolitik war sicher nur zum geringen Teil eine Vogel-Strauß-Politik: weit mehr eine Politik der Tarnkappe, der Rosstäuscherei. Er wollte England überlisten, so wie er die deutsche Sozialdemokratie demagogisch überlistete. Er wollte den Konflikt mit England hinausschieben, bis die Frage Berlin – Bagdad gelöst war. Er mochte Englands Neutralität durch das Abkommen für diesmal gesichert hoffenU und darum leichter dem Ultimatum zustimmen. Dass er aber alle Eventualitäten, auch die des Krieges mit England, ins Auge gefasst hat, also auch nicht etwa durch die westliche Strategie und ihre Wirkung kindlich ahnungslos überrascht wurde, hat er inzwischen, am 5. Juni d. J., ausdrücklich zugegeben.8 Er hat damit zugleich zugegeben, dass all sein Gerede von Lokalisierung und die Friedensbemühungen vom Ende Juli 1914 wie auch seine Rede vom 4. August 1914 Verwirrungstrug waren. Die Angriffe der Junius Alter und Kapp gegen seine staatsmännische Intelligenz haben ihn verführt, die Maske seiner Verschlagenheit zu lüften.V

Ein Unterschied im nächsten, nicht im letzten Ziel, d. h. in der Strategie, und ein Unterschied in der Methode, d. h. in der Taktik, mag zwischen der äußeren Politik des Kanzlers und derjenigen der Weltmachtpolitiker u. s. S. nicht minder bestehen wie zwischen ihrer inneren Politik, auch zwischen ihrer inneren Kriegspolitik, wovon noch zu handeln sein wird.

Auch über die militärischen und politischen Aussichten, die Bedeutung einzelner KriegsmittelW und möglicher neuer Verwicklungen sowie die Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Krieg mögen die Anschauungen auseinander laufen

Diese strategischen und taktischen Unterschiede, die man fast durchweg in die Formeln „Nur Gewalt" oder „Betrug und Gewalt" zusammenfassen kann, liegen jedoch so vollkommen im Bereiche desselben Imperialismus, dass sie die Übereinstimmung im Wesenskern nicht beeinträchtigen, nicht einmal berühren. Und die proletarische Politik danach einrichten heißt mit Hobelspänen statt mit Balken bauen.

A im August 1916 überreicht. – Von Bonapartismus, Absolutismus, Kamarilla, Geheimdiplomatie wird in anderen Glossen (II-IV) gesondert gehandelt. Die Rolle des Wettrüstens ist genugsam beleuchtet. Früher erörterte Gesichtspunkte sind hier nicht wiederholt, nur die in den Mittelmächten liegenden Kriegsursachen sind behandelt. [Die Fußnoten zu den „Glossen" wurden von Karl Liebknecht erst für die Veröffentlichung angefertigt.

B Man „darf freilich nicht im Zweifel darüber sein, dass der nahe Südosten uns alle anderen Märkte nicht ersetzen kann" (Bülow, Deutsche Politik, S. 127/128). ["Fürst von Bülow: Deutsche Politik, Berlin 1916. Alle hier und in den folgenden Glossen nach Bülow angegebenen Seitenzahlen beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf die gleiche Quelle]

C „Unsere Weltpolitik hatte uns in Gegensatz zu England gebracht" (Bülow, S. 63). Wo also war die weltpolitische Aggressive?

D Ich fasse die verschiedenen Verträge unter dieser Bezeichnung zusammen.

E Sie „eröffnete zwischen dem Mittelländischen Meer und dem Persischen Golf… deutschem Einfluss und deutschem Unternehmungsgeist die ältesten und ergiebigsten Kulturgebiete der Erde" usw. Sie wuchs „aus der im Herbst 1898, nur wenige Monate nach der Annahme der ersten Flottenvorlage unternommenen und in jeder Beziehung geglückten Kaiserreise nach Palästina" hervor (Bülow, S. 126). Die Kette: Flottenvorlage,Palästinareise, Bagdadbahn, Tanger, Algeciras, Agadir ist wichtig. Dazu Kiautschou, Chinaexpedition und der Refrain der Flotten- und Wehrvorlagen und Kaiserreden. Und die Kulturbetätigung an den Völkern der Kolonien. Was konnte friedlicher sein?

F Vgl. die Reichstagssitzung vom 9.12.1913 (Anfrage Bassermann), Bülow, S. 127.

G Bülow, S. 73: „Sehr sorgsam haben wir die Beziehungen zur Türkei und zum Islam namentlich seit der Orientreise unseres Kaiserpaares gepflegt. Diese Beziehungen waren nicht sentimentaler Natur, sondern wir hatten am Fortbestand (!) der Türkei ein erhebliches wirtschaftliches, militärisches und auch politisches Interesse." Das wird dann S. 74 ff., 126 ff. näher ausgeführt. Vgl. auch Dr. Nossig im „Tag" („Vorwärts", 9. 9. 16). – Wenn die Türkei während des Krieges gegen den sehr aufgeklärten Despotismus Deutschlands allzu misstrauisch und bockig wurde, brachte man ihr Mores bei. In einer solchen Periode erging in der Berliner Pressekonferenz der berühmte Befehl: Die Türken nicht viel loben!, „die Kerle werden sonst noch größenwahnsinnig". Jetzt, wo die Russen in Trapezunt und die deutschen Beamten und Militärs in den Eingeweiden der Türkei sitzen, und zumal nach Rumäniens Eingreifen, ist natürlich Enver Pascha, der Jungtürken- und Kapitalistenhäuptling, Persona gratissima bei den Mittelmächten.

H Schon 1898 schloss Deutschland mit England einen Vertrag „über die Ausbeutung der portugiesischen Kolonien in Afrika". Für die „Realisierung" der „reichen Früchte", die dieser versprach, schien der Augenblick „gerade am Vorabend des Weltkrieges" gekommen. (Bülow, S. 126.)

I Vgl. die nationalliberale Anfrage vom 28. 6. 1913. (Drucks, d. Reichstags, Nr. 1140.)

1 Siehe Rudolf Kjeilen: Die politischen Probleme des Weltkrieges, Leipzig und Berlin 1916, S. 26/27. Die Red,

2 Ernst Jäckh (geb. 1875), politischer Schriftsteller, Balkan- und Orientexperte des deutschen Imperialismus. Die Red.

3 Paul Rohrbach (geb. 1869), chauvinistischer Schriftsteller, der den Kampf des deutschen Imperialismus um die gewaltsame Neuaufteilung der Welt zu rechtfertigen suchte; trat vor allem für die Expansionslinie Südosteuropa- Kleinasien ein. Die Red.

J Vgl. die nationalliberalen Anfragen vom 4. 12. 1912 und vom 22. 1. 1913. (Drucks, d. Reichstags, Nr. 583, 585, 692.)

K Junius Alter, S. 18, rechnet – neben der Preisgabe des Kopfstückes der Bagdadbahn und dem Verzicht auf wichtige Orientinteressen – den Rückzug aus Marokko und Persien zu den Hauptsünden der Kanzlerpolitik vor dem Kriege.

L In der Tat ist der Krieg im hohen Grade die Erscheinungsform einer Krise in der Eisenindustrie (vgl. Boudin).

M Vgl. seit dem zweiten Kriegsmonat („Herbstsonnenfädchen" 1914) bis zum heutigen Tage die oft wiederholten Tastversuche, Wühlereien, Insolenzen der Ultras, die besonders in der konservativen Presse ihre Sehnsucht nach „Verständigung" mit Russland oftmals ganz unbekümmert aussprechen. („Deutsche Tageszeitung" z. B. zuletzt am 25. 8. und 12. 9. 16; dazu „Berliner Tageblatt", 13. 9. 16.) – Kapp, „Die nationalen Kreise und der Reichskanzler", sehr scharf: „Wir kämpfen nicht gegen die russische Reaktion" usw. und heftig gegen die „unverbesserlichen, die innere Politik mit der Kriegführung vermengenden Demokraten". Natürlich fehlt es nicht an einem „sozialdemokratischen" Umlerner Jansson von der Generalkommission der Gewerkschaften, der auch in diese Kerbe schlägt: „Das Geschrei von einem Bündnis mit dem Zarismus darf uns nicht irritieren." (Von der „Deutschen Tageszeitung", 14. 9. 16, mit Wohlgefallen zitiert.) Aber was könnte diese Burschen überhaupt noch irritieren – außer dem Klassenkampf und der internationalen Solidarität!

4 Im November 1913 war es in dem elsässischen Städtchen Zabern zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur, Oberst von Reuter, maßte sich aus eigener Machtvollkommenheit die polizeiliche Exekutivgewalt an, ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und 27 Personen verhaften. Obwohl diese Vorgänge in ganz Deutschland und selbst bei Teilen des Bürgertums einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla auslösten und der Reichstag nach heftigen Debatten die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte, mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen missbilligte, wurde Oberst von Reuter von einem Kriegsgericht in Straßburg von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert. Bereits während des Wütens der Soldateska in Zabern hatte der Kronprinz von Preußen an von Reuter telegraphiert: „Immer feste druff!" Der Berliner Polizeipräsident von Jagow hatte sich in einem Artikel in der „Kreuz-Zeitung" vom 22. Dezember 1913 ebenfalls vorbehaltlos auf die Seite des Militärs gestellt und gefordert, den Leutnant Forstner, einen der Hauptschuldigen an den Ausschreitungen in Zabern, straffrei ausgehen zu lassen.

N Seine Zugehörigkeit zu den Tirpitzianern erwähnt Junius Alter S. 84. – Nach Abfassung dieser Glossen ist Falkenhayn durch Hindenburg ersetzt, dessen Popularität bei der Bevölkerung der Mittelmächte und dessen militärisches Ansehen bei der Entente nun voll in die Waagschale geworfen wird, um die Ziele der deutschen Eroberungspolitik trotz aller neu aufgetauchten Hindernisse durchzusetzen.

O Jetzt auch Luftflottenverein.

5 Anfang Juli 1911 wurde durch die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe „Panther" und „Berlin" nach. Agadir versucht, die Forderungen deutscher Monopole in Marokko gegenüber Frankreich durchzusetzen. Durch diese Provokation wurde die zweite Marokkokrise ausgelöst und die Gefahr eines imperialistischen Krieges heraufbeschworen.

P Der später freilich auch den Rückzug aus Agadir decken musste. Was seinem jovialen Zynismus wenig verschlug. [Alfred von Kiderlen-Wächter (1852 bis 1912), war 1910-1912 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und verschärfte durch seine aggressive Außenpolitik wesentlich die zweite Marokkokrise.]

Q Vgl. jetzt Bunsen: „Wie jedermann weiß, war England auf gutem Wege, einige Streitigkeiten mit Deutschland in Bezug auf die Türkei und Persien beizulegen. Nach Agadir war der Krieg nicht mehr fern, aber gerade da wurde es klar, wie groß die Abneigung gegen den Krieg beim englischen Volke war." (Wolff-Telegramm vom 14. 9. 16.)

R Auf die bonapartistische Wurzel des Krieges ebenso wie auf seine übrigen Wurzeln verwies auch die Abstimmungsbegründung Liebknechts vom 2.12.14. Vgl. dazu auch die Faschingswahlen 1887 und die Hottentottenwahlen 1907.

S Auf diese Zusammenhänge verwies ich auf dem Parteitag 1911 (Protokoll S. 243).[Siehe Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IV, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 456-459.]

T Das erste sehr ernste Präludium zum Weltkrieg. Auch bei diesem glatten österreichischen Annexionsakt war die deutsche Regierung entschlossen, „in Nibelungentreue und unter allen Umständen am Bündnis mit Österreich-Ungarn festzuhalten. Das deutsche Schwert war in die Waagschale der europäischen Entscheidung geworfen, unmittelbar für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mittelbar für die Erhaltung des europäischen Friedens (!) und vor allem und in erster Linie für das deutsche Ansehen und die deutsche Weltstellung." (Bülow, S. 60.) Die Entente zog auch bei dieser Herausforderung durch die Mittelmächte den Frieden vor. („Die sehr überschätzte Konstellation von Algeciras zerbarst an den handfesten Fragen der Kontinentalpolitik" – S. 60 –, d. h. an der Kriegsbereitschaft der Mittelmächte.) „Deutschland allein hat den Frieden durchgesetzt" (Greindl) – jawohl; der Dolch des Spießgesellen hat den „Frieden" zwischen dem Wegelagerer und seinem Opfer gesichert.

6 Am 10. August 1913 war in Bukarest der Friedensvertrag unterzeichnet worden, der den zweiten Balkankrieg beendete. Serbien konnte sein Gebiet durch die Einverleibung des größten Teiles Mazedoniens wesentlich erweitern und seine politische Position auf dem Balkan entgegen den österreichischen Zielen festigen.

7 Am 7. November 1915 hatte ein österreichisches U-Boot den nach New York fahrenden italienischen Dampfer „Ancona" versenkt, wobei etwa 200 Personen, darunter viele Frauen und Kinder, umgekommen waren. Da es sich z. T. um amerikanische Staatsbürger handelte, entwickelte sich zwischen der amerikanischen und österreichisch-ungarischen Regierung ein Notenwechsel, der am 29. Dezember 1915 mit einer vorsichtig gehaltenen österreichischen Note abgeschlossen wurde.

U Das deutet auch Junius Alter, S. 30, an.

8 Am 5. Juni 1916 versuchte Bethmann Hollweg im Reichstag erneut, die Lüge vom deutschen Verteidigungskrieg und von den Friedensbemühungen der deutschen Regierung durch Hinweise auf die Vorgänge im Sommer 1914 zu begründen. Bei der Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf in einer anonymen Denkschrift, er habe die Mobilmachung um drei Tage verzögert und Deutschland dadurch großen Schaden zugefügt, gestand Bethmann Hollweg ein, dass diese Verzögerung u. a. dazu gedient habe, Russland die Schuld am Kriege zuschieben zu können. Er erklärte wörtlich, „dass, wenn wir diese drei Tage früher die Mobilmachung erklärt hätten, wir die Blutschuld auf uns geladen hätten, die Russland auf sich nahm, indem es … entgegen den heiligen uns gegebenen Versprechungen seinerseits mobilisierte". (Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 507, Berlin 1916, S. 1511.)

V Ganz deutlich wird Bethmann Hollweg in der Budgetkommissionsrede vom 9. November 1916, wo er nicht nur das intrigante Regiemanöver der „falschen" deutschen Mobilmachung vom 30. Juli wider Willen nochmals ins rechte Licht setzt, sondern auch deutlich zeigt, wie er am 30. Juli den ganzen Umfang der „Conflagration" voraussah – auch das Eingreifen Englands, an dem in der Tat nach der „vertraulichen Warnung" Greys an den deutschen Botschafter (vom 28. Juli), dass Deutschland „auf rasche Entschlüsse Englands gefasst sein müsse", nicht zu zweifeln war. Dass der Schritt der deutschen Regierung in Wien (Instruktion vom 30. Juli) und die folgende „Weisung" der österreichischen Regierung an ihren Botschafter in Berlin kein Einlenken, sondern ein intransigentes Beharren, ja eine neue Herausforderung bedeutete (Fortgang der Aktion gegen Serbien, Einstellung der russischen Mobilisation als Bedingung der Aufhebung der österreichischen „Gegenmaßregeln"), lehrt ein kritischer Blick. „Je mehr dieser Kanzler redet, um so tiefer redet er sich hinein."

W Wegen der Anwendung der U-Boote lag man sich nicht aus Rücksichten der Menschlichkeit in den Haaren – „Sentimentalitäten" hat auch der „philosophische Kanzler" abgeschworen –, sondern – soweit nicht die mehr erörterte „Kriegszieldifferenz" oder reine Regie es war – weil Zweifel gehegt wurden, ob ihre bislang vorhandene Zahl ausreiche. Der Kanzler hat den Frondekampf mitbenutzt, um sich und das nichtsahnende deutsche Volk an den Zeitpunkt heran zu manövrieren, in dem auch nach seiner Auffassung die Zahl ausreicht: Der Tanz kann beginnen! Ebenso mit den Zeppelinen und ihren ganz besonderen Bomben: Hier ist seit der „Baralong"-Denkschrift alles im Lot, und Graf Zeppelin konnte in dem am 15. September im Regierungsblatt veröffentlichten Brief die Einhelligkeit des Kanzlers mit den Tirpitzianern dankend quittieren.

Beachtung verdient auch, dass Solfs von der Fronde unliebsam bemerkte Kolonialpropaganda (z. B. Bremer Versammlung vom 28. Juli d. J.) vor längerer Zeit aufgehört hat. Jetzt scheint auch dieses Intermezzo mit einer „Verständigung" schwarz auf weiß abzuschließen – siehe den Briefwechsel des reuigen Sünders mit dem Präsidenten der deutschen Kolonialgesellschaft, Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg („Deutsch-Übersee", 18. 9. 16).

Nimmt man dazu noch die Einmütigkeitsbeteuerungen des Wedelschen Nationalausschusses, so sieht man, was von dem Gegensatz zwischen „Engländerpartei" und „Fronde" im Punkt der äußeren Kriegspolitik übrigbleibt. Der neueste Tirpitz-Vallentin-Bethmann-Rummel dient, wie im anderen Sinn der übrigens ganz tirpitzianische National-Review-Rummel, nur zur weiteren Verwirrung der Massen, zur Erleichterung der „sozialdemokratischen" Durchhalte-Reichskonferenz und zur Vorbereitung der Septembertagung des Reichstags: durch Ablenkung oppositioneller Stimmungen und Vorstöße auf ein vorgeschobenes Phantom.

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