Karl Liebknecht 19161200 Vorbemerkung

Karl Liebknecht: Vorbemerkung1

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 7-9]

Karl Liebknecht hat sich in diesem Verfahren nicht einen Augenblick in die Stellung eines Angeklagten, in die Rolle der Verteidigung drängen lassen. Es gibt in Deutschland Koryphäen der „Opposition", die sich unter Berufung auf die Förderung der Friedensbewegung im Auslande, die ihre Politik bewirke, um Indemnität und um das deutsch-amtliche Plazet ihrer Harmlosigkeit oder gar patriotischer Verdienstlichkeit bemühen. Liebknecht verschmähte es, zur Entkräftung des böswillig-einseitigen Materials der Anklage von dem unerschöpflichen Material über das sozialistische Echo Gebrauch zu machen, das sein Auftreten im Auslande gefunden hat. Er schob diesen Gesichtspunkt planmäßig zurück, um auch vor dem Kriegsgericht desto schroffer und zugespitzter den Kampf gegen die deutschen Machthaber zu führen.

Er verschmähte es, seine Eigenschaft als Abgeordneter, der sich zur Ausübung seiner politischen Pflicht in Berlin befand, auszuspielen, und trat seinen Richtern schlechtweg als revolutionärer Soldat gegenüber.

Er verschmähte auch planmäßig alle juristischen Erörterungen, um den rein politischen Sinn und Inhalt des grobmaschigen Tendenzprozesses nicht zu verschleiern.

Er verwandelte die Akten des gegen ihn gerichteten Verfahrens in ein Pamphlet gegen seine Ankläger.

Seine Schriftsätze sind nicht „Bekenntnisse", „Versicherungen", „Belehrungs"-Versuch gegenüber der Militärjustiz; sie sind von Anfang an nicht fürs Gericht, sondern für die Massen des Volks bestimmt und als eine fortlaufende öffentliche Polemik und Propaganda zu verstehen, die durch eigentümliche Umstände eine eigentümliche Form erhielt.

Man setze den Fall, der Prozess habe sich in öffentlicher kontradiktorischer Verhandlung vor dem Parlament abgespielt, das ihn seinen Häschern überantwortete, so hat man den historischen Maßstab, an dem man diese Eigenart messen mag, bei der Wiederholungen nicht immer zu vermeiden waren. Liebknecht befolgte aus einleuchtenden Gründen die Taktik, sich auf mündliche Erklärungen nicht einzulassen, sondern alles, was er zu sagen für geboten hielt, selbst schriftlich niederzulegen. Wie er trotzdem durch Fälschung des Tatbestandes und einige ungewöhnlich skandalöse Beschlüsse seiner primitivsten Rechte für die Revisionsinstanz beraubt wurde, möge man nachlesen.

Zur Vorbemerkung nur noch folgendes:

Über sechs Monate dauert die Untersuchungshaft. Am 2. Mai wird Liebknecht nach der Nördlichen Militärarrestanstalt gebracht; am 4. November erfolgt die Verurteilung in letzter Instanz durch das Reichsmilitärgericht.

Das Gefängnis wird dauernd – Tag und Nacht – von mindestens drei uniformierten Schutzleuten – zwei zu Fuß und einer per Rad patrouillierend – und Spitzeln bewacht; bei festlichen Gelegenheiten [werden] ganze Kompanien und Berittene in der Nachbarschaft in einigen Wirtschaften und öffentlichen Gebäuden untergebracht. Bei Wechsel der Schutzleute wird Liebknecht denen, die ihn persönlich nicht kennen, durch ein Fenster während des Spazierganges im Hof gezeigt.

Neben den sehr geheimen Gerichtsakten, die dem Verteidiger nach gesetzlicher Vorschrift zugänglich gemacht wurden, waren noch – ganz ungesetzlich – besondere, ganz geheime, dem Anwalt vorenthaltene Akten angelegt, deren Inhalt nicht schwer zu vermuten ist. Man denke nur an die Schreiben des Polizeipräsidenten und des Kanzlervertreters Lewald, die am Anfang fatalerweise in die Akten geraten und so dem Reichstag und später dem Verteidiger zugänglich geworden waren. Die Sonderung der sehr geheimen von den ganz geheimen Akten geschah aber so unvorsichtig, dass sich in den ersteren deutliche Hinweise auf die letzteren fanden.

1 Die Veröffentlichung dieser Broschüre war bereits für die Zeit unmittelbar nach Abschluss des Prozesses geplant. Aus dieser Zeit stammt auch die „Vorbemerkung" Karl Liebknechts. Obwohl die redaktionellen Arbeiten – sie wurden nach Weisungen Karl Liebknechts von seiner Frau Sophie vorgenommen – offenbar Ende 1916 abgeschlossen waren und Karl Liebknecht ständig auf eine illegale Veröffentlichung drängte, erschien die Broschüre aus unbekannten Gründen nicht. Während des Krieges wurden lediglich die Briefe Karl Liebknechts vom 3. und 8. Mai 1916 an das Kommandanturgericht Berlin in „Spartacus", Nr. 1 vom 20. September 1916, und das Schlusswort des Anklagevertreters und des Angeklagten Karl Liebknecht in der Verhandlung vor dem Oberkriegsgericht am 23. August 1916 in „Spartacus", Nr. 3 vom Dezember 1916 abgedruckt. Durch einen „italienischen Internationalisten", möglicherweise Angelica Balabanowa, gelangte ein Exemplar des Manuskripts 1918 nach Sowjetrussland. Es wurde übersetzt und noch im gleichen Jahr in russischer Sprache veröffentlicht. (Карл Либкнехт Мой процесс по документам, Petrograd 1918.) Sofort nach der Novemberrevolution 1918 in Deutschland gab Karl Liebknecht selbst „Das Zuchthausurteil gegen Karl Liebknecht" in Druck. Als er am 15. Januar 1919 ermordet wurde, lagen gerade die Korrekturbogen vor. Die Broschüre erschien Mitte 1919. Die Red.

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