Meinitz' Denkschrift über Amerika 19160219

Meinitz: Denkschrift über Amerika

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 138-144]

Denkschrift

Zwischen dem Abbruch diplomatischer Beziehungen europäischer Länder untereinander und einer Kriegserklärung mag wenig Unterschied sein. Zwischen dem Abbruch diplomatischer Beziehungen Amerikas und einem Lande Europas und einer Kriegserklärung der amerikanischen Republik besteht ein himmelweiter Unterschied. Wenn in diesem Augenblick die Gefahr naheliegt, dass über kurz oder lang ein Abbruch aller diplomatischen Beziehungen der Vereinigten Staaten zu den Zentralmächten die natürliche Folge bekannter Dinge sein wird, so möchte ich gleich im Vorhinein betonen, dass Amerika sich unter keinen Umständen aktiv und unter Einsetzung aller seiner Kräfte am europäischen Kriege beteiligen wird, nicht weil Amerika die „Lusitania"-Affäre“1 leicht nimmt, auch nicht, weil Amerika die ungeheuren Kosten und das Elend eines großen Krieges scheut, sondern weil die Vereinigten Staaten durch ihre enge Verbindung mit den Feinden Deutschlands in europäische und asiatische Komplikationen hineingeraten, die zu vermeiden die historische Tradition der Vereinigten Staaten seit ihrer Gründung war.

Der Amerikaner ist im Grunde ein sentimentaler Mensch. In seinem Privatleben lässt er sich oft zu seinem Unglück von Gefühlen leiten, die mit seiner Vernunft in Widerspruch stehen. Auch in nationalen Dingen spielt diese angeblich auf hohen Idealen beruhende „Emotion" eine beinahe ausschlaggebende Rolle, Männer wie Theodore Roosevelt2 oder Frauen wie die verstorbene Mrs. Eddy3 wissen das auszunutzen. Beide hatten das Volk hinter sich und rissen es nicht durch Vernunftsgründe mit, sondern weil sie es meisterhaft verstanden, Sentiments und Stimmungen dieses großen Volkes auszunutzen. Roosevelt stellt sich in der Uniform eines „Rough Riders"4 an die Spitze eines Regiments von abenteuerlustigen Gentlemen aus dem Westen – und Amerika jubelt und jauchzt über den tapferen Obersten im Spanisch-Amerikanischen Kriege; Roosevelt appelliert an Volksinstinkte, die mit Vernunft herzlich wenig zu tun haben, und das Volk hebt ihn auf einen Götterschild. Taft5, der mit seiner Tüchtigkeit und mit seinen Fähigkeiten weit über Roosevelt steht, hat diesem Volk nie zugesagt. Er war zu sehr Jurist, zu vornehm und ruhig. Wenn der Vergleich hier erlaubt ist – die Ententemächte sind Roosevelt, die Zentralmächte Taft.

Gefühle und Sympathien, Stimmungen und Seelenwandlungen sind für die Tatsache verantwortlich, dass die Mehrheit des amerikanischen Volkes den Kampf Deutschlands falsch beurteilt und ihn auch trotz aller Propaganda und Aufklärungsarbeit während der Dauer dieses Krieges nie richtig beurteilen wird. Die Sache begann mit Belgien. Da wurde nicht gefragt, Recht oder Unrecht, sondern es war ganz einfach ein Gefühl des Mitleids mit einem Volke in Schmerzen, dessen Todsünde es war, im Wege Deutschlands zu stehen. Die Verletzung belgischer Neutralität schuf in Amerika ein nicht mehr auszurottendes Gefühl zum Schaden Deutschlands. Wenige Wochen danach ging ein Schrei der Entrüstung, nicht von Vernunft, sondern von Gefühlen getragen, durch die Vereinigten Staaten, als die ersten ungeheuer übertriebenen Berichte über angeblich deutsche Gräueltaten in Belgien herüberkamen. Wieder fragte die Vernunft nicht: Wahr oder erlogen? Die Entrüstung stieg, und der Schrei gegen das Barbarentum tönte vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean, und wiederum ein paar Wochen später kam der Bericht über diese angeblichen deutschen Gräueltaten in Belgien, unterzeichnet von Lord Bryce. Wenn es einen Fremden in Amerika gibt, der sich der Liebe und der Achtung des gesamten amerikanischen Volkes erfreut, dann ist es dieser greise Verfasser der Geschichte des heiligen römischen Reiches, der mehrere Jahre hindurch der Botschafter Großbritanniens in Washington war und sich besonders in seinem großen Geschichtswerke Objektivität der deutschen Rasse gegenüber befleißigte. Das Wort Lord Bryces wird niemals von einem Amerikaner angezweifelt, und wiederum erfuhr die Antipathie gegen Deutschland eine Steigerung, die Schlimmes befürchten ließ.

Die deutsche Regierung hat den Bryceschen Bericht in der klarsten Weise widerlegt. Aber aus unverständlichen Gründen ist diese Widerlegung erst zwei Monate nach erfolgter Drucklegung und nur in ganz kleinen Auszügen nach Amerika gekommen, so dass ihr praktischer Wert, soweit die Vereinigten Staaten in Betracht kommen, gleich Null war. Und wiederum etwas später wurde die „Lusitania" torpediert. Alle Vernunft war wie weggefegt aus Amerika, niemand fragte nach den militärischen Gründen, die Deutschland bewogen, jenes Prachtschiff in wenigen Minuten mit einem Menschenverlust von 1500 in die Meerestiefe zu befördern. Was Amerika sah, war nur ein unmenschlicher Akt, der in seiner Grausamkeit nur dadurch hätte gemildert werden können, dass die deutsche Regierung unmittelbar nach erfolgter Torpedierung dem amerikanischen Volke bekanntmachte, dass das gesamte deutsche Volk die Torpedierung der „Lusitania" schmerzlich bedaure. Das geschah nicht, und es war klar, dass das amerikanische Volk sich einreden würde, dass die deutsche Nation die Torpedierung der „Lusitania" als einen willkommenen Akt in ihrem Unterseebootkrieg betrachten würde. Damals ging die Neutralität des Herzens für immer verloren, und wenn die Regierung von Washington sich in jenen Tagen von der unvernünftigen, aber vom amerikanischen Standpunkt aus verständlichen Gefühlsraserei des Volkes hätte mitreißen lassen, dann wäre auch die Neutralität des Kopfes verlorengegangen, und es würde wahrscheinlich schon damals einen Abbruch aller Beziehungen zu den Zentralmächten gegeben haben.

Wieder gingen Wochen ins Land, und was sich zu bessern schien, wurde wieder verdorben durch die Arbeit von ein paar Leuten, die im Interesse der deutschen Sache zu handeln glaubten, ihr in Wirklichkeit aber ungeheuer schadeten, indem sie Gelder zu mehr oder weniger anarchistischen Akten von Leuten hergaben, die sich die Unterbindung der amerikanischen Industrie durch Pulver und Dynamit zum Ziele machten. Militär- und Flottenattachés der deutschen Botschaft wurden mit diesen Taten in Verbindung gebracht, und die Bundesregierung sah sich gezwungen, um ihre Abberufung zu bitten.

Die jüngsten Ereignisse – die Tatsache, dass amerikanische Zeitungen Schecks veröffentlichen konnten, durch die vieles klar bewiesen wird – sind daran schuld, dass die Deutschland etwas günstiger gewordene Volksstimmung der vergangenen drei, vier Monate wiederum umgeschlagen ist und einen Zustand hervorgebracht hat, der mich fürchten lässt, dass der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reiche nur noch eine Frage der Zeit ist. Das einzige Mittel, das diesen Abbruch verhindern könnte, wäre ein Selbstmord Deutschlands. Zeppeline und Unterseeboote sind für die amerikanische Volksseele das Wahrzeichen eines deutschen Barbarismus, den sie nicht verstehen wollen, und wenn man ihnen sagt, dass die Franzosen und Engländer Stuttgart und Karlsruhe mit Bomben belegen und dass Deutschland doch schließlich nichts anderes tut, wenn es seine Zeppeline nach England schickt, so antworten sie im Chorus: „London ist eine Welt für sich, London ist die Stadt der Welt, Stuttgart und Karlsruhe mögen zwei sehr nette Städte sein, aber verstehen Sie denn nicht, dass sich bei einem Angriff auf die Westminster Abbey unsere Seele empört?" Diese Kluft zwischen Deutschland und Amerika wird immer tiefer, und es wäre Torheit, den Amerikanern heute Konzessionen zu machen, die am Ende den schließlichen Bruch doch nicht verhindern können. Entweder man gibt den Unterseebootkrieg ganz und gründlich auf und behält seine Zeppelinschiffe zu Hause, in welchem Falle Amerika wieder der Freund Deutschlands sein wird, oder man wird sich endlich klar, dass ganz rücksichtsloses Vorgehen als logische Folge der bis jetzt geübten deutschen Kriegführung erforderlich ist.

Es ist nun auch notwendig, an die innerpolitischen Strömungen zu denken, die in Amerika mehr als in irgendeinem Lande der Welt einen Einfluss auf die auswärtige Politik ausüben. Der Amtstermin des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, läuft am 3. März des Jahres 1917 ab. Die Präsidentenwahlen finden im November dieses Jahres statt und die Parteikonventionen, in denen jede Partei ihren Kandidaten aufstellt, im Juni dieses Jahres. Die Monate März, April und Mai 1916 sehen Amerika innerpolitisch so schwer beschäftigt, dass es klüger für Deutschland ist, jetzt rücksichtslos zu sein als vielleicht im Juli, wenn die Kandidaten aufgestellt sein werden. Man kann heute mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Präsident Wilson aus innerpolitischen und persönlichen Gründen einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland zum mindesten auf ein paar Monate verschieben möchte, wenn er es kann. Er wird im Juli nicht nur keine Gründe zu einer Verschiebung des Bruches mehr haben, sondern er wird ihn vielleicht um jene Zeit willkommen heißen, weil es seine Popularität, deren er zur Wahl dringend bedarf, fördern wird. Heute ist er noch nicht sicher, von seiner Partei als Kandidat aufgestellt zu werden, und er zieht deshalb vor, es mit niemandem zu verderben, indem er heute eine scharfe Note an Deutschland schickt und morgen eine nicht minder scharfe an England, so dass er sich mit allen Elementen im Lande möglichst gut steht.

Die Vorteile einer Politik deutschen Nachgebens sind gering, ausgenommen, man gibt ganz nach, die Nachteile, so schwer sie wiegen mögen, bringen wenigstens Klarheit in ein ungesundes Verhältnis. Zu diesen Nachteilen rechnen viele die Unterstützung finanzieller und wirtschaftlicher Natur, welche Amerika den Ententemächten gewähren könnte. Ich glaube, dass diese Unterstützung nicht viel größer werden kann, als sie heute schon ist, möchte aber auch betonen, dass es absolut nicht sicher ist, dass ein Bruch der Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland eine Vereinigung Amerikas und der Ententemächte bedeutet. Ich stimme vielmehr mit Norman Angell und anderen Engländern überein, welche sagen, dass Amerika nach erfolgtem Bruche mit Deutschland sich weigern wird, sich den europäischen Ententemächten mit Heer und Flotte anzuschließen. Durch einen Bruch der Beziehungen mit den Zentralmächten werden die Vereinigten Staaten nicht mehr in die Arme Englands getrieben werden, als sie es heute schon sind. Ich glaube im Gegenteil (und basiere diese Annahme auf der Tatsache, dass ich sehr viele Amerikaner kenne, die ebenso antienglisch sind, wie sie antideutsch sind), dass ein Bruch mit Deutschland eine Kühlung des amerikanischen Verhältnisses zu England mit sich bringen wird. Panamerikanismus, eine Zusammengehörigkeit beider Amerika, ein Sichloslösen der amerikanischen Kontinente von der Politik Europas und in einem gewissen Grade auch vom Wirtschaftsleben Europas wird wahrscheinlich die Folge der Ereignisse der nächsten paar Monate sein. Wer da sagt, dass aus der Not geborene deutsche Rücksichtslosigkeit gegenüber amerikanischen Forderungen heute nichts weiter bedeutet als ein Spiel Englands zu spielen, der irrt deshalb.

Die Mehrheit des amerikanischen Volkes würde die Verwicklung Amerikas in den europäischen Krieg als einen ungeheuren Bruch mit allen politischen Traditionen und fundamentalen Prinzipien der Vereinigten Staaten betrachten und verdammen. Es ist antideutsch, zum Teil auch antienglisch, aber es wird sein Heer und seine Flotte in absehbarer Zeit nicht in die Länder Europas schicken. Wir haben hier Japan und die Tatsache, dass eine gewisse Entfremdung zwischen Japan und England sich bemerkbar zu machen beginnt, als einen beeinflussenden Faktor amerikanischer Handlungsweise ganz ausgeschaltet, weil es falsch wäre, zu viel von möglichen Entwicklungen im Fernen Osten zu erwarten. Es wäre auch falsch, auf die 15 oder 20 Millionen Amerikaner zu bauen, die deutsches Blut in ihren Adern haben, und falsch wäre es, Hoffnungen zu hegen auf die Uneinigkeit amerikanischer Völker.

Zusammenfassend möchte ich sagen:

1. Die öffentliche Meinung Amerikas ist zweifellos antideutsch, auch wenn weite Kreise unter tyrannischer englischer Seekriegführung leiden und deshalb für eine gewisse antienglische Stimmung verantwortlich sind.

2. Amerika wird aktiv nie an diesem Kriege teilnehmen, aber es wird zweifellos über kurz oder lang die diplomatischen Beziehungen zu den Zentralmächten abbrechen.

Aus diesen Gründen heraus möchte ich zusammenfassend folgern, dass für Deutschland

1. eine Politik des Nachgebens Amerika gegenüber nichts nützen, wohl aber ungeheuer schaden kann, weil der Abbruch diplomatischer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten eine in einigen Monaten vollendete Tatsache sein wird;

2. dass dieser Abbruch den Krieg wohl verlängern, aber nicht besonders schwerer machen würde, als er schon heute ist.

Wenn der Abbruch der Beziehungen noch einige Monate auf sich warten lassen würde, so sollte man in dieser Zeit versuchen, einen gewissen Anteil an den politischen Vorarbeiten zur Präsidentenwahl zu nehmen, indem man sich mit mehreren bedeutenden Amerikanern, die als deutschfreundlich bekannt sind, in Verbindung setzt und einen Einfluss gewinnt, der zwar nicht den Bruch verhindern, wohl aber dafür sorgen kann, dass in Amerika Männer ans Ruder kommen, die gegen England ebenso scharf auftreten, wie es heute von der Bundesregierung gegen Deutschland geschieht. Als Motto sollten sich verantwortliche deutsche Politiker aufs Schild schreiben: Wir müssen auf einen Bruch der Vereinigten Staaten mit England hinarbeiten, auch nach dem Abbruch amerikanischer Beziehungen zu uns, die nicht mehr gerettet werden können.

Berlin, den 19. Februar 1916

gez. Meinitz

1 Am 7. Mai 1915 wurde das englische Passagierschiff „Lusitania" von einem deutschen U-Boot ohne Warnung torpediert und versenkt. Dabei ertranken mehr als 1000 Menschen.

2 Theodore Roosevelt (1858-1919), 1901-1909 Präsident der USA. Die Red.

3 Mary Eddy (1821-1910), Begründerin der Christian Science, einer metaphysischen Weltanschauung und der darauf gegründeten, in religiös-kirchliche Formen gekleideten Vereinigung gleichen Namens. Die Red.

4 „Raureiter", ein von Theodore Roosevelt angeworbenes Regiment, das unter seiner Führung 1898 am Spanisch-Amerikanischen Krieg, dem ersten imperialistischen Krieg, in Kuba teilnahm. Die Red.

5 William Howard Taft (1857-1930), 1909-1913 Präsident der USA. Die Red.

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