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Karl Liebknecht 19160920 Kleine Missverständnisse

Karl Liebknecht: Kleine Missverständnisse

(Aus „Spartacus“, 20. September 1916)

[Spartacus, Nr. 1, 20. September 1916. In: Spartakusbriefe. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 230-232. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 311-313]

Scheidemann und Genossen können mit Recht erbittert über schwarzen Undank klagen. Seit Jahr und Tag arbeiten sie im Schweiße ihres Angesichts, um der Regierung das Geschäft zu erleichtern. Sie bewilligen sämtliche Kriegskredite. Sie schreiben Broschüren, Zeitungsartikel und predigen reisend in Volksversammlungen das „Durchhalten" im Völkermord. Sie verfolgen mit allen Mitteln die Opposition im Lager der Sozialdemokratie. Sie tun alles, um den leise herannahenden Gewittersturm der Volksmassen gegen den Krieg zu beschwören. Sie suchen ihn mit Flüchen denunziatorischer Flugblätter gegen „anonyme" Aufwiegler zu bannen und gehen so der siebenten Abteilung des Königlichen Polizeipräsidiums (Politische Geheimpolizei) kräftig an die Hand. Sie sind endlich auf den witzigsten aller bisherigen Einfälle gekommen: auf die famose „Friedenspetition"1, die den Wind des Massengrolls abfangen soll, damit er, statt zum Sturm anzuwachsen, im harmlosen Drehen einer niedlichen Windmühle gefesselt wird. Den beunruhigten Löwen, der sich vom langen trägen Schlaf erhebt und anfängt, seine Mähne zu schütteln, wollen sie zu einem gelehrigen Pudel abrichten, der auf den Hinterpfoten schöntut und auf Kommando „Bitte, bitte um Frieden!" macht. Scheidemann und Genossen tun alles und unterlassen nichts, um die Regierung zu stärken, das Proletariat zu demoralisieren, kurz – den Krieg zu verlängern. „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?" können sie mit Recht den heutigen Machthabern zurufen.

Aber o weh! Man würdigt sie „dort" nicht ganz nach Verdienst. Man ist undankbar. Man ist sogar misstrauisch.

Ist es zum Beispiel erhört? Scheidemann geht extra nach Breslau und streut dem Reichskanzler in einer gewaltigen Volksversammlung Blumen vor die Füße, er stellt ihm auf Grund einer „vertraulichen" Unterredung das Zeugnis aus, dass Bethmann nicht im Traume an Annexionen denke – „dies Kind, kein Engel ist so rein!". Und da erfolgt sofort in der „Norddeutschen Allgemeinen" ein kategorisches Dementi desselben Bethmann, der die eifrigen Anbiederungen seines Freundes Scheidemann mit eisiger Kälte abschüttelt! Ja, es kommt noch besser: Diese selbe brillante Breslauer Rede Philipp Scheidemanns, die als Broschüre die Herzen aller Volksgenossen für den Reichskanzler und für die Fortsetzung des Krieges gewinnen sollte, begegnete zunächst großen Schwierigkeiten bei der Herausgabe. Philipp Scheidemann musste wieder im Laufen von einem geheimrätlichen Vorzimmer zum andern ein Paar Stiefelsohlen durchlaufen, bis man ihm erlaubt hatte, seine patriotische Broschüre zu verbreiten. Ist es erhört?

Und nun gar die Tragikomödie mit der „Friedenspetition". Das patente Mittel gegen Friedensdemonstrationen und politische Massenstreiks, das die Männer des 4. August ausgeklügelt haben, ist in einigen Bezirken von den Militärkommandos verboten worden! Die alten Haudegen des Belagerungszustandes trauen nämlich dem Burgfrieden nicht ganz. Sie wissen, dass die Scheidemann und Genossen die Massen nicht mehr im Zügel haben und dass in Zeiten der allgemeinen Erregung und gewitterhaften Spannung die „bestgemeinten" Experimente manchmal ganz unerwartete Resultate zeitigen. Sie, die Träger der rohen Gewalt und der unverblümten Reaktion, erraten mit dem sicheren Instinkt der Herrschenden, dass „auf dem Markte der Geschichte" die Verkleidung nicht gilt. Sie verlassen sich deshalb lieber auf Polizei, Gefängnis und Zensur als auf die Schlaumeiereien der Scheidemänner. Und der arme Parteivorstand muss wieder von Vorzimmer zu Vorzimmer laufen und vor jedem „Diensthabenden" seine Weste aufknöpfen, sein verkanntes reines Herz bloßlegen, um das „kleine Missverständnis" zu zerstreuen und für die „Friedenspetition" den Segen sämtlicher Armeekorpskommandanten zu erbetteln!

Solche kleinen Missverständnisse sind übrigens schon anderen Petitionen und anderen Leuten passiert. Auch dem Popen Gapon z. B., der vor dem Ausbruch der russischen Revolution in Petersburg zarentreue Arbeitervereine gründete, um der revolutionären Agitation der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die zarische Regierung machte dem eifrigen Manne jede erdenkliche Schwierigkeit. Man löste seine Vereine auf, Gendarmen verhafteten seine treuen Schäflein. Und diese kleinen Missverständnisse endeten plötzlich in einem knallenden großen Missverständnis. Der Zug der „Bittenden", den der Pope Gapon am 22. Januar 1905 vor das Zarenschloss führte, um dort eine untertänigste Petition mit der Bitte um politische Freiheiten dem Väterchen Zar zu Füßen zu legen, wurde vom Militär Väterchens mit blauen Bohnen begrüßt, und die rührende Massenbitte verwandelte sich unversehens in eine blutige Massenmetzelei, die das Signal zum Ausbruch der Revolution gab.

Solche peinlichen Überraschungen erwachsen mitunter in Zeiten elektrischer Spannungen der Weltgeschichte, in denen leichte Harlekinaden und Karnevalsmasken manchmal plötzlich zu einer furchtbar tragischen Grimasse erstarren. Es wäre wirklich zum Lachen, wenn z. B. die braven Scheidemann, Ebert und Braun, von den genasführten Massen gedrängt, sich an die Spitze eines untertänigsten Bittzuges treuer Volksgenossen zum Reichskanzlerpalais stellten und, plötzlich mit blauen Bohnen traktiert, als erste Opfer eines revolutionären Massenkampfes in Deutschland aufs Pflaster fielen.

Oh sie innerlich nicht doch ein leises Unbehagen bei diesem Spielen mit dem Feuer beschleicht? Um den Frieden lässt sich nämlich bei der Säbeldiktatur beinahe so schlecht „bitten" wie um die politische Freiheit beim Blutzaren.

1 Anfang August 1916 rief der sozialdemokratische Parteivorstand zu einer Unterschriftensammlung für eine Friedenspetition an den Reichskanzler auf. Diese Petition wurde am 16. Dezember mit fast 900.000 Unterschriften überreicht. Mit diesem Manöver versuchte der PV, die Arbeiter von revolutionären Antikriegsaktionen abzulenken und sie für die von ihm unterstützte Durchhalte-Politik und für seinen Kurs auf einen imperialistischen Verständigungsfrieden zu gewinnen.

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