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Karl Liebknecht 19161105 Nicht die alte Leier, sondern das neue Schwert!

Karl Liebknecht: Nicht die alte Leier, sondern das neue Schwert!

Aus „Spartacus“, 5. November 1916

[Spartacus, Nr. 2, 5. November 1916. In: Spartakusbriefe. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 247-251. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 323-327]

Wird es dem Reichstag gelingen, der Stimme der Vernunft, dem Verlangen eines endlichen Völkerfriedens nachdrückliches Gehör zu verschaffen und die baldigste Beendigung des Krieges herbeizuführen?" seufzte der „Vorwärts" am 28. September. Und nach der Kanzlerrede vom 28. September über die politische Lage und die Kriegsziele wimmerte er zerschlagen: „Wie auch die spannungsvoll harrenden Hörer zu den Kriegsfragen stehen mochten …, sie alle waren erschienen, um den fiebernden Puls der Zeit zu fühlen, um dabei zu sein, wenn von den Lippen des verantwortlichen deutschen Reichskanzlers Entscheidendes über die Geschicke der Nationen gesagt würde … Aber die Harrenden und Hoffenden erlebten wieder einmal eine Enttäuschung. Sie vernahmen keine neue Botschaft, kein befreiendes Wort."

Hoffen und harren auf den Reichskanzler: Harren und hoffen auf den deutschen Reichstag! Hoffen und harren, Enttäuschung und Jammergestöhn – das war der Weisheit letzter Schluss für den „Vorwärts", als er noch Hauptorgan der Arbeitsgemeinschaft war.1 Jammergestöhn, wohlgemerkt, über den Kanzler, den Reichstag – nicht über sich selbst und seine Politik des aschgrauen Elends.

Stehen wir so zum Reichstag, zum Parlamentarismus? Gewiss nicht. „Lieber ein Stück Unterfutter von einem alten Weiberrock" sein, als von der Partie dieser vorwärtslichen Spittelhelden.

Wir haben lang genug geharrt;

Man hat uns lang genug genarrt!

Jetzt greifen wir nach unserm Recht.

Jetzt stellen wir uns zum Gefecht!

Bethmann quoll in jener Rede über in verlogener und hetzerischer Heuchelei über Rumäniens Treubruch, er wiederholte die Komödie der Friedensbereitschaft zum sechsten Mal und bekannte sich demonstrativ zum Glauben seiner grimmigen Gegner aus dem Agrarierlager, derselben Junius Alter und Kapp, die er am 5. Juni zur unbändigen Begeisterung der Scheidemänner radikal zu verbrennen schwur, weil sie seine Kriegswut in Zweifel gezogen hatten.

Was wollen die unverbesserlichen, die innere Politik mit der Kriegführung vermengenden Demokraten"; „wir kämpfen nicht gegen die russische Reaktion" – sagen die Piraten um Kapp und Junius Alter. „In die inneren Zustände der anderen Länder mischen wir uns nicht ein. Wie Russland seine inneren Verhältnisse regeln will, ob autokratisch oder konstitutionell, das ist Russlands Sache" – betete der Kanzler nach. „England ist der Hauptfeind" – lehrt das Gesetz der Kapp-Piraten. „Darum ist England der selbstsüchtigste, der hartnäckigste und der erbittertste Feind" – schwört der Kanzler nach. Der Staatsmann, der gegen England nicht jedes taugliche Kampfmittel anwendet, verdient, verjagt und angeklagt zu werden – drohen die Kapp-Piraten. Er „verdient, gehenkt zu werden" – übertrumpft sie der Kanzler und schüttelt sich vor Widerwillen über den Verdacht „veralteter Verständigungsneigung". Zum Teufel mit dem Gedanken der Demokratisierung Deutschlands, fluchen die Kapp-Piraten. „Freie Bahn für alle Tüchtigen, das sei unsere Losung", echot der Kanzler dem preußischen Junkerparlament nach: „eine an sich völlig nichtssagende rhetorische Wendung" – wie das Agrarierblatt, die „Deutsche Tageszeitung", quittierte.

Diese Kanzlerrede war allerhand – selbst für das sanftlebigste Fleisch. Genug, sollte man meinen, um milde Limonade in gärend Drachengift zu verwandeln. Aber die Limonade der Arbeitsgemeinschaft brodelte nicht auf. Mucksmäuschenstill saßen die artigen Schulbuben. Bei den stärksten Herausforderungen – kein lispelnder Hauch des Widerspruchs, während brausender Beifall den Kanzler umtönte.

Heilig sei der gute Ton im Parlament! Keine Szenen heraufbeschwören. Ordnung über alles. In einigen Wochen vielleicht, an der gehörig eingerichteten Stelle, wird – wenn die Mehrheit keinen Strich durch die Rechnung macht – auch die Arbeitsgemeinschaft ihr wohlgegliedert Zunftsprüchlein sagen, mit guten Manieren und würdigen Worten, wie sich's für eine respektable Opposition gebührt. Und – wir hörten im Oktober 1916 aus Haases Munde die dutzendste Friedenssehnsuchts- und Verständigungsrede.

Fassen wir die Aufgaben des parlamentarischen Kampfes so auf, wie die Kämpen von der Arbeitsgemeinschaft ihn führen?

Gewiss nicht! Wir sind weder harrende Narren noch parlamentarische Droschkengäule, die stets die alten Straßen traben, vor jeder Neuerung der parlamentarischen Taktik scheuend, noch Musterknaben des guten Tons und trocknen Tons, den wir mit allen politischen Philistern, Schlafröcken und Filzpantoffeln dorthin wünschen, wo der Pfeffer wächst.

Um was geht es in diesen Tagen? Kein Augenzwinkern hilft darüber hinweg – um alles! Um Sein oder Nichtsein des Proletariats als politischer Faktor! Um den Besitz der gesellschaftlichen Macht! Um die Macht über Krieg und Frieden! Um die Schicksale der sozialen Revolution selbst!

Wir stehen vor der Wahl: Kampf oder schimpfliche Kapitulation. Ein Drittes gibt es nicht. Wer dem Kampf ausweicht, kapituliert. Wer vom Kampf redet, aber ihn nicht wagt, höhnt den bitteren Ernst der Zeit, indem er ihn mit faden Grimassen nachäfft. Der ist nicht für uns, der ist wider uns.

Nicht in Sitzungen und Konferenzen fällt die Entscheidung, sondern in den Fabriken, auf den Straßen, im Heere. Dem Proletariat lebt nur ein Erlöser: das Proletariat selbst.

Das Parlament kann ihm kein Erlöser sein – trotz aller „Vorwärts"-Brunst, am wenigsten das erbärmlichste aller Parlamente, der deutsche Reichstag.

Und doch kann es der revolutionären Bewegung wichtige Hilfe leisten. Aber nicht als Gesetzesfabrik, nicht als Schwatztheater und Gebetsmühle einer parlamentarischen „Opposition", sondern indem es vom Klassenkämpfer, der sein parlamentarisches Mandat nur für diesen Zweck erworben hat, zur revolutionären Tribüne verwandelt wird, von der er den Feuerbrand ins Gebälk der herrschenden Ordnung und den Schlachtruf in die Massen schleudert.

Keine Worte, die nur Worte sind! Ein Ruf, ein Kampfschrei allein, der die Öffentlichkeit aufscheucht, das Proletariat alarmiert, ist schon ein Gewinn. Die schönste Rede dagegen, die das Meer der sozialen Leidenschaften nicht aufwühlt und sich ängstlich scheut, auch nur ein Geschäftsordnungswässerlein zu trüben, ist vom Übel. Und mag sie von radikalsten Worten und prinzipiellsten Darlegungen wimmeln: sie bleibt ein Irrlicht über dem Sumpf.

Die Männer von der Arbeitsgemeinschaft wollen den parlamentarischen Status quo, die alte Leier.

Ihre ganze Tätigkeit im Reichstag legt davon Zeugnis ab. Auch die eben verflossene Tagung – und nicht nur der 28. September, wo die Haasesche „Stimme der Vernunft" erschallte und Ledebours Vision der weltparlamentarischen Menschheitserlösung aufstieg, sondern nicht minder die Schutzhaft-Debatte2 –, der parlamentarische „Erfolg" der Arbeitsgemeinschaft. Dittmann bewegte sich im Grunde genommen, trotz des radikalen Kleides, auf dem Boden des hergebrachten parlamentarischen Kretinismus. Statt den Reichstag anzuklagen, rief er ihn um Hilfe an. Statt durch Art und Richtung seiner Angriffe den Kriegsblock von Westarp bis David und die ganze bürgerliche Welt zum Geständnis der Wahrheit, nämlich ihrer Spießgesellenschaft mit der Säbeldiktatur und zur Solidarisierung mit ihr zu zwingen, erwarb er den Segen Paasches, Scheidemanns und der ganzen bürgerlichen Welt. Die Beseitigung der „Missstände" wurde zu einer „gemeinsamen Angelegenheit aller Parteien". Das Volk kann ruhig schlafen – der Reichstag wacht; die Sache ist in besten Händen.

Der Antrag auf Liebknechts Enthaftung bestätigt noch schlagender unser Urteil. Schaut hinter die trutzigen Helmvisiere der Kämpen. Nur in einem Sinne konnte diese Parlamentsaktion ernste Bedeutung gewinnen: wenn sie im Geiste unserer eingekerkerten und verschickten Freunde zu einem Hilfsmittel der außerparlamentarischen Massenaktion gestaltet wurde.

Gerade das aber tat die Haase-Schar nicht. Dreimal hatte sie schon die „wilden Streiks" verleugnet. Und mit hölzernen Kindersäbeln statt mit stählernen Flammenschwertern zog sie in die Bahn.

Die außerparlamentarische Tatenlosigkeit der Arbeitsgemeinschaft trägt ihr gerüttelt Maß von Mitschuld, wie an den Opfern der Schutzhaft, so an Liebknechts Geschick. Parlamentarische Reden können diese Schuld nicht sühnen. Stadthagens Rede wurde zur pathetischen Deklamation an den Reichstag. Statt den Reichstag neben der Militärjustiz und der Regierung an den Pranger zu stellen und zum Fenster hinaus an die Massen zu appellieren, wie es Rühle später im Namen Liebknechts tat.

Ohne klare Grundsätze, ohne politische Orientierung, ohne die Kraft und den Willen zur vollen Ausnutzung der parlamentarischen Möglichkeiten ist die Arbeitsgemeinschaft im Reichstag vollends und grundsätzlich zur Unfruchtbarkeit verdammt, da ihr der Mutterboden des außerparlamentarischen Kampfes fehlt.

Wohin wir blicken, wohlgefälliges Nichtstun, das sich von dem offenen und bewussten Referierungsoffiziösentum der Scheidemänner durch noch größere Gefährlichkeit unterscheidet, soweit das Proletariat das parlamentarische Schattenspiel für ernsten Klassenkampf nimmt und auf Hilfe vom Reichstagshimmel hofft und harrt.

Welcher Sozialist das Parlament heute nicht als Werkzeug in den Dienst der Massenaktion stellt, macht es zur plappernden Spinnstube oder zu Schlimmerem. Welcher Sozialist es heute nicht benutzt, um das Vertrauen, die Hoffnung der Arbeiterklasse, wie auf Regierung, Reichskonferenzen, Partei- und Gewerkschaftsinstanzen, so auch auf den Reichstag und auch auf die parlamentarischen Scheinaktionen der sozialistischen Abgeordneten der Opposition systematisch und in der Wurzel auszurotten, ist ein Irreführer, kein Führer des Proletariats. Und welcher sozialistische Abgeordnete heute, da der Belagerungszustand alle anderen Tribünen verschlossen hat, im Parlament diese heiligsten Pflichten nicht erfüllt, er mag sich drehen und wenden, wie er will, er macht sich zum Mitschuldigen des Belagerungszustandes.

Fort mit dem alten Geleier – wir brauchen das neue Schwert!

1 Der sozialdemokratische Parteivorstand hatte im Oktober 1916 ein Verbot des „Vorwärts" durch das Oberkommando in den Marken ausgenutzt, um sich in statutenwidriger Ausschaltung des Zentralvorstandes der Berliner Wahlvereine und der Berliner Presskommission des „Vorwärts" diese Zeitung anzueignen und eine sozialchauvinistische Redaktion einzusetzen. Bei diesem Gewaltakt berief sich der Parteivorstand auf die Weisung des Oberkommandos in den Marken, die das Wiedererscheinen des „Vorwärts" von einer personellen Veränderung in der Leitung der Redaktion abhängig machte.

2 Am 24., 25. und 30. Mai 1916 war im Reichstag von einigen Abgeordneten der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft gegen die von den obersten Militärbefehlshabern rigoros gehandhabte „Schutzhaft" Stellung genommen worden. Die Debatten über die widerrechtliche „Schutzhaft" endeten am 4. November 1916 mit der einstimmigen Annahme eines Gesetzentwurfs, der den „Schutzhäftlingen" eine geringfügige Verbesserung ihrer Lage zusicherte.

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