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Karl Liebknecht 19181121 Das, was ist

Karl Liebknecht: Das, was ist

Artikel

21. November 1918

[Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 6, 21. November 1918. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 604-607]

Zwischen der bisherigen politischen Form und dem bisherigen sozialen Inhalt der deutschen Revolution klafft ein Widerspruch, der Lösung heischt und in dessen Lösung sich die weitere Entwicklung der Revolution vollziehen wird. Ihre politische Form ist die einer proletarischen Aktion, ihr sozialer Inhalt der einer bürgerlichen Reform.

Freilich: Ihre politische Form war in erster Reihe eine militärische Aktion, die nur mit manchem Körnlein Salzes proletarisch genannt werden kann; ihre Antriebe waren zum großen Teil nicht proletarische Klassennöte, sondern mehr oder weniger allgemein-gesellschaftliche Gebrechen; der Sieg der Arbeiter- und Soldatenmassen war nicht so sehr ihrer Stoßkraft zu verdanken als dem inneren Zusammenbruch des früheren Systems; die politische Form der Revolution war nicht nur proletarische Aktion, sondern auch Flucht der herrschenden Klassen vor der Verantwortung für den Gang der Ereignisse; Flucht der herrschenden Klassen, die mit einem Seufzer der Erleichterung die Liquidation ihres Bankrotts dem Proletariat überließen und so der sozialen Revolution zu entgehen hoffen, deren Wetterleuchten ihnen den Angstschweiß auf die Stirn treibt.

Die heutige „sozialistische" Regierung möchte jenen Widerspruch lösen durch Zurückschrauben der proletarischen Form auf den bürgerlichen Inhalt; Aufgabe des sozialistischen Proletariats ist, den rückständigen Inhalt auf die höhere Stufe der fortgeschritteneren Form zu erheben; die Revolution zur sozialen Revolution zu steigern.

Das deutsche Proletariat besitzt heute die politische Macht."

Hält dieser Satz den Tatsachen stand? Wohl in allen größeren Städten Deutschlands sind Arbeiter- und Soldatenräte gebildet; daneben aber nicht selten auch Bürgerräte und dergleichen. In den kleineren Städten ist oft alles beim alten geblieben oder nur dekorativ gewandelt. Zahlreiche „Bauernräte" sind entstanden, sie liegen nirgends in den Händen des ländlichen Proletariats, meistens in denen des mittleren oder großen Grundbesitzes.

Die Arbeiterräte sind keineswegs überall nur dem Proletariat entnommen und dessen eindeutige Vertreter; wir wissen Fälle, in denen die Arbeiter den geschickt sich anbiedernden Unternehmer oder andere feiste Bourgeois sich haben aufschwatzen lassen. Häufig sind die gewählten Arbeiter nur sehr unvollkommen aufgeklärt, nur sehr wenig klassenbewusst oder aber sehr unsicher, unentschlossen, kraftlos, so dass sie entweder gar keinen revolutionären Charakter tragen oder ihre politische Macht gegenüber den Faktoren des alten Regimes nur scheinbar ist. Immer mehr regen sich zudem die Angehörigen aller möglichen bürgerlichen Berufe, um sich als Auch-Arbeiter vorzustellen, und schicken ihre Vertreter in die Arbeiterräte, die so zu einem allgemeinen Volks-Parlament mit beruflicher Gliederung nach den Wünschen des Herrn von Heydebrand1 zu werden drohen.

Mit den Soldatenräten steht es noch ungünstiger. Sie sind der Ausdruck einer aus allen Klassen der Gesellschaft zusammengesetzten Masse, in der zwar das Proletariat bei weitem überwiegt, aber keineswegs das zielbewusste, klassenkampfbereite Proletariat; sie sind oft geradewegs von oben herab, durch das Eingreifen der Offiziere, auch hochfeudaler Kreise, gebildet, die so in schlauer Anpassung ihren Einfluss auf die Soldaten zu bewahren suchten und sich zu ihren Vertretern haben wählen lassen.

Nimmt man hinzu, dass die sozial minder differenzierten Soldatenräte nach dem ganzen Wesen der Revolution naturgemäß heute noch weit stärkeren Einfluss besitzen als die Arbeiterräte; dass der ganze bürgerliche Staats- und Verwaltungsapparat und auch die militärische Maschinerie von der „sozialistischen Regierung" nach Kräften aufrechterhalten oder wiederhergestellt worden sind und eine wirksame Kontrolle der Arbeiter- und Soldatenräte darüber nur schwer durchführbar ist; dass die gewaltige wirtschaftliche Machtstellung der besitzenden Klassen nicht angetastet ist und manche ihrer sozialen Machtstellungen, z. B. ihre überlegene formale Bildung, auf absehbare Zeit fast uneinnehmbar sind; dass vor allem der größte Teil der Lebensmittel in den Händen des antiproletarischen, antisozialistischen Grundbesitzes ist, so erkennt man, dass von wirklich politischer Herrschaft des Proletariats heute nur mit stärksten Vorbehalten geredet werden kann.

Allerdings, die gegenwärtige Regierung des Sechs-Männer-Kabinetts und der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates sind von den Großberliner Arbeiter- und Soldatenräten gewählt, deren innere Reife heute etwa dem Reichsdurchschnitt entsprechen dürfte; aber das ist nur Fassade. Politische Macht besteht nicht in formalen Aufträgen oder irgendwo beschlossenen Vollmachten, sondern in der festen Innehabung so starker realer Machtmittel, dass die Machtstellung vor allen Anschlägen gesichert ist.

Die Zentralen der Staatsgewalt waren am 9. November in den Händen der Arbeiter und Soldaten; niemand hätte sie auch hindern können, wichtige wirtschaftliche Machtmittel zu ergreifen. Statt dessen haben sie sich auch die bereits eroberten politischen Machtmittel seit dem 9. November mehr und mehr wieder entgleiten lassen. Täuschen wir uns nicht. Auch die politische Macht des Proletariats, soweit sie ihm am 9. zugefallen war, ist heute schon zum großen Teil zerronnen und zerrinnt von Stunde zu Stunde weiter.

Parallel mit diesem Prozess der Schwächung des Proletariats geht der höchst intensive Prozess der Sammlung aller Todfeinde des Proletariats. Auf dem Lande wie in den Städten organisiert sich die Gegenrevolution mit immer offenerem Zynismus. Aus Schleswig-Holstein und anderen Provinzen hören wir, wie sich Landräte, Amts- und Ortsvorsteher, Gendarmen, Kommunalbeamte, Lehrer, Anwälte, Fabrikanten, Bauern und alle wohlhabenden Schichten zu einem täglich festeren und umfassenderen Block zusammenschließen, dessen Gefährlichkeit um so größer ist, je mehr das Landproletariat seinen Einflüssen überlassen und zugänglich ist.

Ein Aushungerungskrieg und – wenn es darauf ankommt – eine Vendée gegen die proletarischen Zentren der Revolution ist in deutlicher Vorbereitung.

Die Gefahr wächst reißend. Es ist keine Zeit zu verlieren, soll das Proletariat nicht in wenigen Wochen vor einem Trümmerhaufen seiner Hoffnungen stehen. Die arbeitenden Massen müssen dem Prozess ihrer weiteren Schwächung sofort Halt gebieten; sie müssen der Regierung, die diesen Prozess fördert, sofort in den Arm fallen: Bis hierher und nicht weiter!

Sie müssen das Eroberte fest in den Fäusten halten: sie müssen zur Eroberung der übrigen Machtpositionen schreiten, um die herrschenden Klassen endgültig niederzuzwingen und die Herrschaft des Proletariats zur Wahrheit und Wirklichkeit von Fleisch und Bein zu gestalten.

Zaudern heißt das noch zu Gewinnende mitsamt dem bisher Gewonnenen verlieren. Zaudern zögert den Tod heran – den Tod der Revolution. Die Gefahr ist riesengroß und dringend.

1 Ernst von Heydebrand und der Lasa (1851–1924), konservativer Parlamentarier. Die Red.

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