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Karl Liebknecht 19180400 Gegen die Freiheitsstrafe

Karl Liebknecht: Gegen die Freiheitsstrafe

Ein Entwurf, Zuchthaus Luckau, Frühjahr 1918

[Karl Liebknecht: Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus, Berlin-Wilmersdorf 1919, S. 127-131.Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 391-396]

Man müsste die Gefangenen mit den Menschen, der Gesellschaft verknüpfen. Statt dessen trennt man sie radikal von den Menschen, schneidet sie vollends von der Gesellschaft ab, und selbst von ihrer Familie entfernt man sie. Man müsste sie mit den allgemeinen Interessen verbinden, verflechten – statt dessen entfremdet man sie, selbst ihre Kenntnisse, immer weiter von diesen Interessen durch künstliche, gewaltsame Isolierung: keine Kunde von der Außenwelt, außer dem Persönlichsten; keine Zeitungen (im Krieg Ausnahme für Kriegsnachrichten).

Man müsste ihnen die idealen Interessen näher bringen, sie damit tränken – injizieren –, statt dessen wird die geistige Beschäftigung – Lektüre usw. – als „Vergnügen" betrachtet (statt sie als Bildungs- und Erziehungsmittel zum System zu erheben) und als lästig. Die Freizeit, die für die „Zucht" (Selbstzucht) jedenfalls nicht minder wichtig als die Arbeitszeit, wird so knapp wie irgend möglich zugeschnitten.

Man müsste sie systematisch an Selbständigkeit gewöhnen („Erregen" der Selbständigkeit, vgl. Wilh. Meisters Lehrjahre V. 16), statt dessen zerbricht man dem, was an Selbständigkeit in ihnen steckt, systematisch alle Knochen, lenkt sie, drängt sie, soweit unzerstörbar, ins Unterirdische, Heimliche, in die niedersten Regionen, die guten Keime mit den schlechten korrumpierend, pervertierend, vergiftend.

Man müsste sie an („freien") Verkehr mit edlen, pädagogisch gewandten Menschen gewöhnen – ihnen solchen Verkehr zum Bedürfnis machen, statt dessen werden sie nur der schädlichsten gegenseitigen Beeinflussung, der gegenseitigen Verderbnis ausgesetzt (Schiebungen – noch das Harmloseste), im Übrigen fast stets nur als Objekt behandelt; die Beamten treten ihnen, von Ausnahmen abgesehen, nicht nahe, sind zumeist auch pädagogisch ganz unfähig (à la Militär). Schematismus und Massendrill statt individueller Behandlung. Misstrauen auf Schritt und Tritt statt Vertrauen.

Man müsste sie an Offenheit und Vertrauen gewöhnen und so alles Gute herauslocken und pflegen. Statt dessen werden sie zur Heimlichkeit – Heuchelei, Verstocktheit, zu unterirdischem Seelenleben und auch zu unterirdischer Führung des äußeren Lebens, zu einer höchst giftigen Heimlichkeit dressiert, gedrängt durch die schematische Behandlung.

Man müsste die Rudimente ihres Selbstvertrauens behüten und planmäßig ausbauen, statt dessen wird es planmäßig zerdrückt, ausgerottet.

Man müsste sie individuell behandeln und erziehen – statt dessen werden sie schematisch gepresst und geschliffen.

Man müsste sie an eine Lebensführung gewöhnen, wie sie exemplarisch auch für das Leben in der Freiheit ist – statt dessen kommandiert man eine Tageseinteilung, die (abgesehen von der Arbeit) ganz anormal, ja unmöglich ist – ein Hemmschuh jedes wertvollen Tätigkeitsdranges, eine Erstickung aller strebsamen Regungen, und fördert durch frühes und langes Ins-Bett-zwingen, durch lange Dunkelheit (im Krieg künstliches Licht äußerst gespart) alle erdenklichen Lotterneigungen.

Man müsste diese an sich sozial geschwächten Individuen zum freien Kampf ums, Dasein stärken, kräftigen, aufmuntern – statt dessen werden sie korrumpiert, ihre Kräfte untergraben. Man müsste alle Keime von Selbständigkeit in ihnen pflegen – statt dessen werden sie zertreten, so dass sie sich in der wieder gewährten Freiheit wie unvernünftige, Kinder aufführen, sie zum Austoben benutzen.

Selbst ihre Arbeit ist gar oft Pfuscharbeit für Schmutzkonkurrenz – keine ordentliche Lehre.

Man sollte sie eng an die Familie ketten – statt dessen löst man sie auch von ihr, zum schweren Schaden meistens auch der Familie.

Man sollte sie für ihre Familie sorgen, arbeiten lassen, statt dessen verkommt die Familie.

Man sollte ihre solidarischen, sozialen Neigungen locken und kräftigen, statt dessen wird niedrigste, kleinlichste Selbstsucht großgezogen, selbst ein großzügiger Egoismus durch Verkrüppelung ins Kleinste, Gequetschteste noch tiefer verschandelt.

Man sollte ihnen nach der Entlassung alle Wege ebnen, alle Tore öffnen – zum Empfang des einprozentigen, reuigen Sünders (mehr Freude im Himmel über einen davon als über 99 Gerechte!!) – statt dessen bleiben sie stigmatisiert, finden keine Arbeit, die Arbeiter weigern oft Zusammenarbeit mit ihnen – auch die „Fürsorge" zeigt die ganze Hilflosigkeit der heutigen Gesellschaft im Kampf gegen das Verbrechen, fesselt und stigmatisiert und ist in ihrer heutigen Form ein Krebsschaden, eine Kette, die der Entlassene am Fuß schleppt (nicht viel besser als Polizeiaufsicht) – byzantinische, heuchlerische, kriechende, devote, bigotte, scheinheilige, anschmiererische Kreaturen erzeugend, fördernd – keine Charaktere, die eben nur durch Stählung als Produkt eines eigenen Kampfes, nicht durch süßliche Gnädigkeit und Wohlwollen, nur durch Veredelung des Trotzes, nicht durch Knickung aller Rippen und Zerrung aller Sehnen entwickelt werden können, nur in eigener Arbeit des Kriminellen, nicht von oben herab wie ein Segen, nur aktiv, nicht passiv, nur sozusagen revolutionär im Kriminellen selbst, nicht aufgeklärt – despotisch durch obrigkeitliche Beglückung. Inwieweit könnte auch hier Selbsthilfe, Organisation etc. der Entlassenen selbst auch nützen? Diesen durch Kampf gegen die Ursachen des Verbrechens zur aktiven Regeneration verhelfen?

Kurz: Die soziale Schwächung der Kriminellen wird statt behoben oder gemildert vielmehr mächtig verschlimmert und durch die soziale Schwächung oder gar Zerstörung der hilflos gebliebenen Familie ins Rettungslose gesteigert – Circulus vitiosus der Freiheitsstrafe – am meisten gerade der von Krohne, Finkelburg u. a.1 sonst oft Einsichtsvollen gerühmten, wenigstens bevorzugten – langfristigen – Einzelhaft. (Außerdem: Schmutz- und Schleuderkonkurrenz, Pfuscharbeit etc.) Keine Rede meist auch nur von technischer Schulung für einen künftigen Beruf, gar vielfach sogar Zerstörung vorhanden gewesener und vor der Strafe praktizierter Fertigkeiten – durch Entwöhnung (mangelnde Übung) oder Pfusch-Korruption – besonders verderblich für Jüngere, beruflich noch nicht Konsolidierte, die so beruflich oft völlig wurzel- und haltlos bleiben oder werden, und für Ältere – der Ausgangsschwelle sozialer Verwertbarkeit Nahestehende.

Man zwingt sie zur Arbeit, aber in einer Weise, die die Arbeit statt zu einer Lust zu einer Last machen muss – Hausordnung: Der geringe Verdienst lohnt diese kaum! Nur Geschenk – kein Recht – erst nach drei Jahren Eigenverwendung zulässig und erst bei über 30 Mark nur 1 Mark pro Monat. Also ganz wertlos für die meisten Fälle. Disziplinarstrafen: Ketten, Prügel (noch praktisch), Simulationsriecherei. Arztversorgung: Lazarettgehilfe!! (Keine Ahnung!!)

Man erzwingt eine gewisse Regelmäßigkeit des äußeren Lebens, aber eine unnatürliche und peinliche, die in der Freiheit nirgends Gewohnheit, Selbstverständlichkeit, ja nur Möglichkeit sein oder werden kann, vielmehr so, dass diese „Ordnung" nach der Entlassung schleunigst wieder abgelegt werden muss und also mit Recht nur als eine lästige Fessel empfunden wird.

Man verhindert gewisse verwerfliche Handlungen, aber mit Mitteln, die diese Verhinderung nicht zu einer Art freier Entschließung entwickeln, sondern das Unterlassen stets nur als erzwungen, als peinlichen, widerwillig erduldeten Zwang empfinden lassen, weit davon entfernt, sie zu einem Ausfluss freien, selbständigen Willens oder auch nur zu einem Verhalten der Gewohnheit werden zu lassen.

Man müsste einem Weiterfressen des Übels vorbeugen – statt dessen wird nur allzu leicht (es ist alles darauf angelegt) dem einen Sünder die ganze Familie in den Abgrund nach geworfen, während die Strafanstalt selbst einen kriminellen Seuchenherd (Ansteckungsherd) erster Klasse bildet und alle Fehler und Laster der Schwachen, der Gedrückten, Getretenen, Rechtlosen wie auf einem Mistbeete noch hinzu gezüchtet werden (Kriecherei, Heimtücke, Angeberei, Misstrauen, Neid, Lügenhaftigkeit), alle Energie nach Kräften ertötend oder doch dämpfend, drückend, stumpfend – statt die falsch gerichtete geschickt nur in rechte Bahn zu lenken! Alle Initiative nach Kräften ausrottend, ausbrennend, die Gefangenen nur als willenlose Werkzeuge in der souveränen Gewalt anderer, der Beamten, ohne jede Selbstbestimmung behandelnd und so gewöhnend.

Und auch im Übrigen alles darauf angelegt, diese unseligen Menschen für den Kampf ums Dasein in der Freiheit wehrlos statt wehrhaft, hilflos statt kräftiger zu machen.

So bleiben alle Versuche der „Resozialisierung" des Verbrechers durch die Freiheitsstrafe nicht nur fruchtloses, aussichtsloses Bemühen, ein verzweifelter prädestiniert vergeblicher Kampf, echteste Sisyphusarbeit und bestenfalls ein frommer Wunsch „humaner" Schwärmer, sondern das Prototyp eines Circulus vitiosus. Sie können nicht verhindern, dass das Übel, das man beseitigen möchte, nicht nur nicht beseitigt oder auch nur verringert [wird]; es wird vergrößert und vom Schuldigen auf Unschuldige übertragen, die, in vermehrtes Elend und Verachtung versinkend, um so leichtere Beute nicht nur der körperlichen Verderbnis und geistig-seelischer Zerrüttung, sondern auch des Verbrechens, der Prostitution werden.

Das Verbrechen als soziale Erscheinung kann nicht isoliert, sondern nur im sozialen Gesamtzusammenhang, aus dem es – als der Eiter aus einer schwärenden Wunde der Gesellschaftskonstitution – geflossen ist und dauernd fließt, und nur mit sozialen Mitteln bekämpft werden – durch Beseitigung seiner Ursachen, Verstopfung seiner Quellen, durch Bekämpfung des Elends in allen Gestalten, der Unwissenheit, der Verwahrlosung, durch Vermehrung der Selbständigkeit, der freien Energie und des offenen Selbstgefühls.

Dabei kann alle „Erziehung" und psychisch-geistige Einwirkung nur dann ein ernstes, bleibendes Resultat zeitigen, wenn die sozialen Vorbedingungen dazu geschaffen werden.

1 Bürgerliche Juristen, die vor dem Weltkrieg verschiedene Arbeiten über das Gefängniswesen veröffentlicht hatten. Die Red.

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