Karl Liebknecht: Leitsätze 28. November 1918 [Karl Liebknecht: Reden und Aufsätze. Hrsg. von Julian Gumperz, Hamburg 1921, S. 322–326. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 630-635] Die deutsche Revolution ist zwar in der Hauptsache ein Werk der deutschen Soldaten und Arbeiter, ihrem bisherigen Sinn und Ergebnis nach ist sie jedoch nur eine bürgerlich-politische Reformbewegung auf Beendigung des jetzigen Weltkrieges und Beseitigung der augenfälligsten politischen Vertreter des Systems, das zum Kriege geführt hat. Dieses kümmerliche Ergebnis kann nur gesichert werden durch die energische Anwendung der Macht des Proletariats, d. h. der proletarischen Soldaten und Arbeiter, die untrennbar zusammengehören; einer Macht, die durch die zweideutige Politik einer teils unsicheren und kraftlosen, teils bewusst verräterischen Regierung seit dem 9. November bereits zum großen Teil wieder verlorengegangen ist. Das klassenbewusste deutsche Proletariat kann sich jedoch mit jenem Ergebnis nicht begnügen. Sein Ziel ist kein Friede des Augenblicks, sondern der dauernde Völkerfriede. Es weiß, dass Kapitalismus und Imperialismus Krieg bedeuten. Es weiß, dass ein von irgendwelchem Imperialismus diktierter oder vereinbarter Macht- oder „Verständigungs"friede nur die Vorbereitung neuer Kriege sein wird; es weiß, dass weder das Gewinsel der Besiegten und die Menschlichkeit oder Gnade eines Wilson noch ein „Völkerbund" der herrschenden Klassen einen dauernden Frieden schaffen kann, sondern nur der Wille, die Macht und die siegreiche Tat des revolutionären Proletariats aller Länder. Das Proletariat seufzt jedoch nicht nur unter dem Krieg; auch im Frieden zehren wirtschaftliche Ausbeutung, soziale Zurücksetzung, politische Unterdrückung an seinem Mark. Die Stunde zur Ausrottung auch dieser gesellschaftlichen Grundübel ist gekommen, die Stunde zur Aufhebung der kapitalistischen Klassenherrschaft, zur Befreiung der Arbeiterklasse. Diese Befreiung kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, nicht aber das Werk der bürgerlichen Klassen, deren Lebensinteresse die Aufrechterhaltung der Lohnsklaverei und ihrer politischen und sozialen Herrschaft ist. Die gesamte gesetzgebende, vollziehende, richterliche Gewalt muss daher ungekürzt und ausschließlich in den Händen der städtischen und ländlichen Arbeiter einschließlich des nur scheinbar selbständigen kleinen Mittelstandes und der proletarischen Soldaten liegen, die allein in direkter Aktion, Macht gegen Macht die Zwingburg des Kapitals brechen können. Bürgerlich-demokratisches Parlamenteln in einer „Nationalversammlung" ist dazu unfähig. Eine Regierung, der – von den Massen der Arbeiter und proletarischen Soldaten gewählten – Arbeiter- und Soldatenräte ist für ganz Deutschland zu bilden. In Arbeiter- und Soldatenräten sind Nichtproletarier, insbesondere Offiziere, Unternehmer und andere Angehörige der herrschenden Klassen, grundsätzlich nicht wahlberechtigt und wählbar; bereits Gewählte dieser Art sind schleunigst zu entfernen. Die Arbeiter- und Soldatenmassen dürfen ihre Macht nicht in die Hände dieser Räte gleiten lassen; sie müssen diese unter dauernder Kontrolle halten und unablässig dafür sorgen, dass sie die wirklichen Vertreter der revolutionären Massen bleiben. A.- und S.-Räte, die das Vertrauen der Massen verloren haben, sind zurückzuberufen und zu ersetzen. Die bürgerliche Demokratie ist eine verfälschte Demokratie, da die ökonomische und soziale Abhängigkeit der arbeitenden Masse auch bei formaler politischer Gleichheit den herrschenden Klassen sachlich ein ungeheures politisches Übergewicht gibt und die ökonomische und soziale Abhängigkeit an und für sich wirkliche Demokratie ausschließt. So führt der Weg zur Demokratie über den Sozialismus, nicht aber der Weg zum Sozialismus über die sogenannte Demokratie. Eine „Nationalversammlung" kann höchstens am Schlusse, nicht aber am Anfang der jetzt einzuschlagenden Entwicklung stehen. Das Proletariat muss den herrschenden Klassen die politische Macht endgültig entwinden, indem es alle staatlichen Machtfunktionen grundsätzlich dem revolutionären Proletariat vorbehält und auch die übrigen staatlichen Funktionen so schnell wie möglich von politisch unzuverlässigen Elementen säubert. Alle nichtproletarischen revolutionären Funktionäre sind, bis sie entfernt werden können, einer dauernden scharfen Kontrolle durch Arbeiter und proletarische Soldaten zu unterstellen. Alle politischen, militärischen, richterlichen usw. Ämter sind durch Wahlen zu besetzen, zu denen nur die Arbeiter und proletarischen Soldaten wahlfähig sind. Eine von Grund aus proletarische, demokratische Organisation von Heer und Marine mit prinzipiell gleicher Löhnung und Ernährung ist durchzuführen als Überleitung zur allgemeinen Bewaffnung des revolutionären Proletariats. Sie wird auch die Schwierigkeiten der Demobilisation in freier Selbstbestimmung der Soldatenmassen zu überwinden vermögen. Die militärische Befehlsgewalt der Offiziere ist sofort aufzuheben. Das Proletariat muss den Kapitalisten ihre wirtschaftliche Macht, die tiefste und festeste Grundlage der Klassenherrschaft, entreißen, indem es die Arbeitsmittel, Vorräte und alle gesellschaftlichen Reichtümer aus dem Privatbesitz in den Besitz, die Verwaltung und Nutznießung der Gesamtheit überführt; ein Prozess, der zugleich die Aufhebung der kapitalistischen und die Durchführung der sozialistischen Wirtschaftsform darstellt. Hierzu sind die Großbetriebe in Rohstoffgewinnung, Industrie, Handel, Verkehr, Bankwesen, Landwirtschaft ebenso wie die gesamte Rüstungsindustrie sofort reif; während auf dem Gebiete des Mittelstandes in Stadt und Land das vielfach bereits hochentwickelte Genossenschaftswesen einen schnellen, gangbaren Weg weist. Gerade der Krieg hat gezeigt, wie rasch unter schwierigsten Umständen bei energischem Willen tiefste Eingriffe in das kapitalistische Wirtschaftsgetriebe ohne Desorganisation möglich sind. Das Proletariat vermag, wenn es von revolutionärem Geiste durchglüht ist, weit stärkere und edlere Energien für seine eigenen Ziele zu entfalten, als es für die imperialistischen Mordziele eingesetzt hat. Die Kriegswirtschaft bietet viele technisch-praktische Ansätze und Handhaben zur Durchführung des Sozialismus, die von denen, welche meist nicht laut genug den „Sozialismus, wohin wir blicken" lobpreisen können, heute, wo sie den Sozialismus verwirklichen könnten, missachtet oder vergessen werden. Besteuerung, Annullierung der Kriegsanleihe und sonstigen Staatsschulden unter Freilassung eines Betrags von 5000 Mark für jede Person, kommen als Mittel allmählicher Sozialisierung in Betracht. Die Versuche des Kapitals, sich der Sozialisierung durch Flucht oder Verschwendung zu entziehen, sind zu vereiteln. Das Vermögen der Dynastien ist sofort in den Besitz der Gesellschaft zu überführen. Die sozialen Machtstellungen der herrschenden Klassen fallen meist zugleich mit den politischen und wirtschaftlichen. Die Unterlegenheit an Wissen und Schulung kann das Proletariat in revolutionären Zeiten durch verzehnfachten Eifer und von Begeisterung und gutem Willen erzeugte Intuition weit schneller wettmachen, als nach dem Schneckentempo des alltäglichen Schulbetriebs zu gewärtigen ist. Zur Eroberung aller dieser Positionen muss das Proletariat seine politische, seine soziale und vor allem seine ökonomische Macht in Massenaktionen einsetzen. Der Streik ist seine wichtigste Waffe zur Erringung der proletarischen und wirtschaftlichen Emanzipation. Neben ihm steht in entscheidenden Momenten die bewaffnete Massenaktion. Erfolgreiche revolutionäre Massenaktionen sind nur möglich, Wenn die Masse des Proletariats Ziel und Weg klar erkennt, von Opfer- und Tatbereitschaft erfüllt ist und die technischen Mittel zur Durchführung besitzt. Vereinigung wesensgleicher, in Ziel und Weg übereinstimmender Kreise ist das Gebot. Verschwommene äußerliche Scheineinigkeit innerlich verschiedenartiger, in Ziel und Weg abweichender Elemente ist vom Übel. Durch Klarheit und innere Übereinstimmung zur Einigkeit. Unmöglich ist ein Zusammenarbeiten mit den Regierungssozialisten, die Mitschuldige am Krieg sind, die Internationale und den Klassenkampf verraten und abgeschworen haben, auch heute noch eine Politik der Interessenharmonie von Kapital und Arbeit treiben, der Revolution bis zum letzten Augenblick geifernd und gehässig entgegengewirkt haben und nach der Revolution den Schutz des kapitalistischen Privateigentums, die Verhinderung der sozialen Revolution und den Raub der politischen Errungenschaften der Revolution betrieben haben. Statt alles daranzusetzen, um die Massen der Arbeiter und Soldaten so schnell wie möglich wieder in den Schlafrock der bürgerlichen Ordnung zu stecken, müsste die Regierung alle ihre Kraft auf die volle Entfaltung des revolutionären Geistes in den Massen richten, um so die Revolution zu befestigen und voranzutreiben. Die revolutionäre Propaganda ist angesichts dieser Pflichtvergessenheit der Regierung die doppelte Pflicht jedes kämpfenden Sozialisten. Dabei ist besonders Nachdruck zu legen auf die Aufklärung und Revolutionierung der jetzt von den Fronten zurückkommenden geschlossenen Armeen, die in den Händen der verbrecherischen Offiziere eine ungeheure Bedrohung der Revolution bilden. Bewaffnung der revolutionären Masse des Proletariats in Arbeitskittel und Uniform, Entwaffnung der anderen Bevölkerungsteile ist Vorbedingung für Abwehr der gegenrevolutionären Machenschaften und Niederwerfung der herrschenden Klasse. Wenn die heutige Regierung die Massen des Proletariats, die allein die Stütze der bisherigen und die Träger der sozialen Revolution sein können, entwaffnet und die Angehörigen der herrschenden Klassen bewaffnet oder nicht entwaffnet, so kennzeichnet sie auch damit ihre Verständnislosigkeit für das Wesen der Revolution, ihre Unfähigkeit, ihr Misstrauen gegen die Massen, ihren gegenrevolutionären Charakter. Eine Arbeitermiliz und eine Rote Garde müssen sofort geschaffen werden, soll die Gegenrevolution nicht siegreich und die soziale Revolution nicht schwer gefährdet sein. Zur endgültigen Eroberung der sozialen Machtstellungen ist eine tief einschneidende soziale Gesetzgebung, eine grundlegende Umgestaltung des Wohnungs-, Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungswesens (Einheitsschule) notwendig, um alle menschlichen Kräfte der Gesellschaft zu entfalten und zu beschirmen. Die Arbeiter und die proletarischen Soldaten, die heute nur noch Soldaten der Revolution sein dürfen, gehören unlösbar zusammen; kein Misstrauen, keine Eifersucht darf sie trennen. Der Arbeiter von heute ist der Soldat von gestern und morgen, und der proletarische Soldat von heute möge nie vergessen, dass er Arbeiter war und wieder sein wird. Misstrauen zwischen Arbeitern und proletarischen Soldaten wird nur gesät von Agenten der herrschenden Klassen, die sich als Wölfe im Schafskleid unter die proletarischen Soldaten mischen. Die sozialistische Gesellschaftsordnung und der dauernde Völkerfriede können nur international verwirklicht werden. Darum muss die soziale Revolution sich über Deutschland hinaus verallgemeinern und zur Tat des Proletariats aller Länder werden. Aber die Weltrevolution kann nur auf einem Wege kommen – über die soziale Revolution Deutschlands. Nur auf diesem Wege, nicht auf dem des Bittens und Bettelns bei dem Ententeimperialismus sind auch die Ernährungs- und Rohstoffschwierigkeiten für Deutschland zu lösen: Dem deutschen Volke werden die Bedingungen seiner Existenz und Wohlfahrt von einer zuverlässigeren, vertrauenswürdigeren Macht gewährleistet werden: von den mit ihnen solidarischen revolutionären Massen der französischen, englischen, italienischen, amerikanischen Arbeiter und von den bereits heute hilfsbereit stehenden russischen Brüdern. Wir fürchten den feindlichen Imperialismus so wenig, wie wir den deutschen Imperialismus fürchteten. Weltrevolution des Proletariats gegen Weltimperialismus ist unser Feldgeschrei; die alle Völker in brüderlicher Gemeinschaft umfassende sozialistische Weltrepublik ist unser Ziel. |
Karl Liebknecht > 1918 >