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Karl Liebknecht 19181025 Tagebuch

Karl Liebknecht: Tagebuch

[IML, ZPA, NL 1/26. Maschinenschriftliches Manuskript, die Überschrift handschriftlich.. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 580-585]

25. 10. 18. Der erweiterte Parteivorstand (mit Beirat) der USP beschließt, L. (Liebknecht) in den Parteivorstand zu berufen. L. ist bereit, der Berufung zu folgen, falls die USP auf einem sofort einzuberufenden Parteitag ihr Programm und ihre Taktik im Sinne der Gruppe „Internationale" ändern und durch entsprechende Gestaltung ihrer Leitung sichern würde. Nach längerer Verhandlung erklärt L., sich über die neueste Entwicklung der USP, von der behauptet war, dass sie zu einer vollständigen Übereinstimmung mit den Anschauungen der Gruppe „Internationale" geführt habe, näher unterrichten und, falls diese Prüfung zu einer anderen Stellungnahme führe, davon Mitteilung machen zu wollen; ersucht aber den P-V für alle Fälle, auch zu seinem Vorschlag Stellung zu nehmen. - Diese Angelegenheit ruht seitdem.

Am 26. 10. Sitzung des Arbeiterrats.1 Beschluss: Bei den bevorstehenden Aktionen mit Spartakusgruppe zusammenzuarbeiten, separate Maßnahmen nur in gegenseitigem Einverständnis zu unternehmen; Erweiterung des Arbeiterrats durch Arbeitervertrauensleute der Spartakusgruppe und mehrere Mitglieder der Spartakuszentrale (für Arbeiterrat und Vollzugsausschuss des Arbeiterrats). Wenn nationale Verteidigung2 proklamiert wird, soll aufs Ganze gegangen werden. „Alles oder nichts!"

28. 10., nachmittags. Däumig und Barth3 auf L.s Bitte bei L., der eigene Initiative fordert, zunächst, falls nichts Stärkeres für möglich gehalten wird, falls die nationale Verteidigung etc. nicht kommt usw., mindestens Versammlung mit Demonstrationen am 3. 11. D. und B. sind für Versammlungen, aber haben Bedenken gegen Demonstrationen.

28. 10., abends. Arbeiterrat: Auf Antrag L.s für 3. 11. Tagesversammlungen mit Demonstrationen beschlossen für den Fall, dass keine größere Aktion möglich ist. Unter Abweichung von der „Alles oder nichts“ – d. h. Nichts-Taktik. Wir müssen die Initiative behalten, dürfen nicht stillsitzen, bis die Feinde die nationale Verteidigung machen. Die angeblichen früheren Erfahrungen, dass Demonstrationen die Stimmung verderben, gelten nicht für die jetzige revolutionäre Zeit, in der alles nur voran peitschend wirken muss (vgl. die Demonstrationen vom 16. und 23. 10. und vom 27. 10. nach den Sonntagsversammlungen4). Wird ein stärkerer Schlag, wird alles möglich, so ist alles zu tun. Der Beschluss soll nur verhindern, dass nichts geschieht, und sichern, dass alles geschieht. Er wird gegen energischen Widerstand Barths, Däumigs und Müllers5 gefasst.

30. 10. Berliner Zentralvorstand der USP lehnt Sonntagsdemonstrationen ab. „Alles oder nichts" – also nichts. Unsere Auffassung, dass es zwischen den bisher üblichen Demonstrationen und dem revolutionären Endkampf Möglichkeiten, Zwischenstufen gäbe, in denen sich das Heranreifen der Bedingungen für den Endkampf beschleunigen kann, wird wiederum, wie auch bei anderen Beratungen, als revolutionäre Gymnastik ironisiert und abgelehnt. L. wendet sich gegen die mechanische Auffassung, die zu viel Gewicht auf die technische Vorbereitung legt. Die Massenbewegung ist das allein Wesentliche. Große Massen auf den Straßen sind auch gegen Militär und Polizei das Stärkste, selbst wenn unbewaffnet. Sie erschweren den polizeilichen oder militärischen Waffengebrauch und sind der stärkste Druck zur Fraternisierung oder doch Demoralisation der bewaffneten Macht.

1. 11., abends. Spartakussitzung. Beratung unserer Stellung zur großen Aktion.

2. 11., früh. Vollzugsausschuss des Arbeiterrats: Am 4. 11.6 soll aufs Ganze gegangen werden. Wir energisch dafür.

2. 11. Nachmittagsbesprechung mit Bucharin etc., die unsere Lage mit der ihrigen im Juli 1917 vergleichen usw.

2. 11., abends. Arbeiterrat: Ungünstige Stimmungsberichte der Obleute. Nachtsitzung. Die technische Vorbereitung für Montag7 wird unmöglich. Antrag des Vorstandes: „Die Sache zu verschieben; Arbeiterrat solle Mittwoch, den 6. 11.8, wieder zusammentreten. Es seien noch technische Vorbereitungen nötig, Organisation usw. zu ergänzen." Es wird festgestellt, dass der Arbeiterrat fast nur die Metallindustrie und diese nicht vollständig umfasst. Wenn „alles", so wir dabei; wenn „nichts", so nicht. Für den Fall, dass nicht „alles" beschlossen werden sollte, so unser Antrag,9 um jedenfalls zu retten, was zu retten ist:

Spätestens am Dienstag, früh 9 Uhr, in einen Massenstreik einzutreten mit daran anschließenden bewaffneten Demonstrationen unter den im Verlauf der Aktion sich steigernden Parolen: Sofortiger Frieden und Aufhebung des Belagerungszustandes – Deutschland sozialistische Republik – Bildung einer Regierung der Arbeiter- und Soldatenräte."

Selbstverständlich auch Flugblätter etc. an Soldaten. Weiterer Antrag von anderer Seite: Sympathie-(Solidaritäts-)Streiks gegen die Einberufungen.

Beschluss – bei dem nur die Obleute, Arbeitervertreter abstimmen:

Alles" mit 19 gegen 22 Stimmen abgelehnt; unser Antrag gegen 2 Stimmen abgelehnt. Solidaritätsstreiks abgelehnt, Vertagung auf Mittwoch beschlossen.

3. 11., früh. L. bei Ledebour10, Däumig usw., um doch noch für Sonntag oder Montag Arbeiterrat zu berufen, um frühere entscheidende Aktionen durchzusetzen.

In 2 Sitzungen engerer Körperschaften am 3. 11. wird dies abgelehnt – warten usw. Dabei wird dann L. von den beiden Vorsitzenden Barth und Müller erklärt: Die Verschiebung sei nach ihrer Ansicht nützlich; es seien noch technische Vorbereitungen zu treffen usw. Selbst wenn die Abstimmung der Obleute eine Mehrheit für „alles" ergeben hätte, sei die Aktion ausgeschlossen gewesen – da man für diese die Gesamtstimmung wenigstens des weit überwiegenden Teils der Arbeiterschaft brauche.

Am 4., 5. usw. L.s Verlangen nach Losschlagen vor Montag (11. Nov.) abgelehnt. Donnerstag, Freitag etc. seien Lohnzahlungstage. Da seien die Arbeiter nicht herauszubringen. L.s Ansicht, dass das für die revolutionäre Zeit nicht gelten könne, wird als unpraktisch abgelehnt.

Am 5. 11., nach Bruch mit Russland,11 bei D. und dann in Sitzung des Exek.ausschusses nochmals Beschleunigung angeregt – vor allem auch wegen Kiel12 usw. – abgelehnt.

Am 6. 11. Arbeiterrat: Dringender Antrag L.s, am 8. (freitags) loszuschlagen. Es kommt weder auf die „technischen" Vorbereitungen noch auf die Masse von Flugblättern (d. h. der zur Aktion aufrufenden, von den Mitgliedern des Aktionsausschusses unterschriebenen) entscheidend an; wenige Exemplare für jeden Betrieb genügen, wenn der Inhalt zündet. Weitere Zögerung höchst bedenklich – wegen der Bewegung im Reiche, der Desorganisations- und Spitzelgefahr sowie der Gefahr, dass sich die Scheidemänner der Bewegung bemächtigen – abgelehnt.

Am 7. 11. Sitzung des PV der USP und Beirat mit Vollzugsausschuss. Wir (Liebknecht und Pieck) fordern, [man] soll je schneller, desto besser vorgehen, auch wenn vor Berlin. Es stellt sich heraus, dass der Provinz durch Berliner Kuriere bestellt war, nicht vor Berlin vorzugehen, und dass darum Aktion im Rheinland, wo sie für Samstag geplant – verschoben.

Die Versammlungen zur Feier der russischen Revolution z. ü., die verboten sind, beantragt Liebknecht, durch Zusammenleiten der Heranströmenden nach einer Stelle zu einer großen Kundgebung zu gestalten. Der Antrag wird gegen L.s und des Düsseldorfers Stimme abgelehnt – „alles oder nichts"; die Redner sollen nicht. versuchen, trotz des Verbots zu reden; sie sollen überhaupt nicht zu den Versammlungsplätzen gehen; es soll nichts gehindert, aber auch nichts getan werden. Man will abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. L.s Vorschlag wird als Forcierung bezeichnet. Düsseldorf erhebt gegen Berlin den Vorwurf, dass es das, was es von der Provinz fordere13, selbst nicht tut.

Allen Forderungen auf Beschleunigung der Aktion wurde seit dem 3. 11. von Däumig, Barth, Müller usw. stereotyp entgegnet: Jetzt sei alles auf den 11. November vorbereitet; es sei technisch unmöglich, die Revolution früher zu machen! Alle Proteste Liebknechts gegen diese grob-mechanische Auffassung prellen ab, bis die objektiven Verhältnisse die superklugen Revolutionsfabrikanten überrannten.

Am 8. 11., früh. Frankel bei Liebknecht, der ihm darlegt, dass unmöglich weiter gewartet werden kann; sonst kommen uns die Regierungssozialisten noch zuvor, die Massen sind nicht mehr zu halten. Durch Polizei wird die geplante Vollzugsausschusssitzung gestört – Däumig verhaftet, Liebknecht abgetrieben; Zusammentreffen Liebknechts mit Herzfeld und Dittmann14, denen Liebknecht gleichfalls seine Forderung, sofort loszuschlagen, mitteilt. „Die Regierungssozialisten werden uns sicher noch zuvorkommen und uns vor der Geschichte und uns selbst in alle Ewigkeit blamieren!"

Endlich ward am 8. 11. einstimmig sofortige Aktion auf 9. 11. festgesetzt, aber abgelehnt, ein unterschriebenes Flugblatt (Aufforderung) dazu zu machen. Dennoch werden am 9. früh 2 Flugblätter herausgegeben – 1. eines von Liebknecht und Meyer unterzeichnet (ohne des durch die Polizei abgesprengten L.s Zutun, aber mit seiner nachträglichen Billigung, obwohl es nicht alles Nötige enthält)15; 2. eines von Barth, Ledebour, Liebknecht, Müller, Pieck usw. unterzeichnet.16 So kam am 9. November die Revolution – trotz aller Brems- und Verwirrungsversuche des „Vorwärts" usw.

1 Gemeint ist eine Sitzung der revolutionären Obleute Berlins, auf der Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck und Ernst Meyer als Vertreter der Spartakusgruppe in den Vollzugsausschuss der Obleute delegiert wurden. Die Red.

2Nationale Verteidigung – Die herrschenden Kreise in Deutschland versuchten noch im Oktober 1918 trotz der offenkundig gewordenen militärischen Niederlage, durch ein „allgemeines Volksaufgebot" die allerletzten Reserven zu mobilisieren, um den Krieg weiterführen zu können. Durch militärische Einberufungen in großem Umfang wollten sie gleichzeitig die anwachsende revolutionäre Bewegung in Deutschland ersticken.

3 Ernst Däumig (1866–1922), Mitglied des Vorstandes der USPD, führender Vertreter der revolutionären Obleute, Mitglied des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte. – Emil Barth (1871–1941), Mitglied der USPD, seit Frühjahr 1918 Vorsitzender der revolutionären Obleute, wurde im Dezember 1918 abgesetzt; während der Novemberrevolution Mitglied des Rates der Volksbeauftragten. Die Red.

4 Demonstrationen im Oktober – Am 16. Oktober 1918 (im Original 15. 10.) hatten 5000 bis 6000 Berliner Arbeiter für den Frieden demonstriert und den Sturz der Regierung sowie die Freilassung Karl Liebknechts gefordert. Die Polizei war mit blanker Waffe gegen die Demonstranten vorgegangen.

Am 23. Oktober war Karl Liebknecht nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin von etwa 20 000 Arbeitern, Frauen und Soldaten begeistert empfangen worden. Am 27. Oktober hatte Karl Liebknecht in fünf öffentlichen Versammlungen in Berlin gesprochen. Bei den anschließenden Demonstrationen war es wiederum zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen.

5 Richard Müller (geb. 1890), Mitglied der USPD, führender Vertreter der revolutionären Obleute in Berlin, einer der Vorsitzenden des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte. Die Red.

6 In der Quelle: 3. 11. Die Red.

7 4. November. Die Red.

8 In der Quelle: 5. 11. Die Red.

9 Antragsteller waren Karl Liebknecht, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck. Die Red.

10 Georg Ledebour (1850–1947), Mitbegründer der USPD, deren Vorstandsmitglied bis 1919, Mitglied des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, ab 5. Januar 1919 einer der Vorsitzenden des Revolutionsausschusses der Berliner Arbeiter (siehe dazu S. 673). Die Red.

11 Bruch mit Russland – Am 5. November 1918 wurden von der deutschen Regierung die diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland abgebrochen. Das sowjetische Botschaftspersonal musste noch in der Nacht zum 6. November Berlin verlassen. Den Vorwand für diesen Willkürakt hatte eine von dem sozialdemokratischen Staatssekretär Philipp Scheidemann ausgeheckte Provokation geliefert. Am Abend des 4. November war auf dem Bahnhof Friedrichstraße eine angeblich zum sowjetischen Kuriergepäck gehörende Kiste „zerbrochen", in der dann programmgemäß Aufrufe zur Revolution in Deutschland gefunden wurden.

12 Kiel – Am 3. November 1918 hatten in Kiel bewaffnete Matrosen, Arbeiter und Soldaten für die Befreiung der Ende Oktober wegen Dienstverweigerung verhafteten Matrosen demonstriert. Ein Feuerüberfall auf die Demonstranten war mit dem bewaffneten Aufstand beantwortet worden. Am 4. November befand sich die gesamte zivile und militärische Gewalt in Händen der Arbeiter- und Soldatenräte.

13 Otto Franke (1877-1953), während des ersten Weltkrieges einer der engsten Mitarbeiter Karl Liebknechts und Wilhelm Piecks; war in der Leitung der revolutionären Obleute tätig; Karl Liebknecht als ständiger Begleiter beigegeben. Die Red.

14 Siehe S. 320, Fußnote 1 u. S. 427. Die Red.

15 Siehe S. 591/592. Die Red.

16 Siehe Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Beihe II, Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 326- Die Red.

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