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Rosa Luxemburg 18960400 Neue Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich

Rosa Luxemburg: Neue Strömungen in der polnischen

sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich

[erschienen in Die Neue Zeit (Stuttgart), 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, I u. II: S. 176-181, III u. IV: S. 206-216, nach Gesammelte Werke, Band 1/1, Berlin 1970, S. 14-36]

I

In den letzten Jahren macht sich in der sogenannten polnischen Frage eine sehr interessante Wendung geltend, die dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen konnte.

Die Sympathien der sozialistischen Welt für die freiheitlichen Bestrebungen Polens sind sehr alten Datums, fast so alt wie die moderne sozialistische Bewegung selbst. Schon 1848, nachdem die verschiedenen bürgerlichen Parteien Westeuropas ihre Hingabe an die polnische Sache verraten hatten, machte das internationale sozialistische Proletariat die Unabhängigkeit Polens zum Postulat seiner auswärtigen Politik. Diese Aufnahme der polnischen Losung in ihr auswärtiges Programm war für die Sozialisten ein Protest gegen die bürgerliche Völkerschacherpolitik und die nationale Unterdrückung, vor allem aber gegen das Russland Nikolaus' I., das einen einzigen starren Fels der Reaktion bildete und jede revolutionäre Bewegung Europas zu erwürgen bereit war. Nachdem jedoch die Hoffnungen auf eine unmittelbare Revolution in Permanenz aufgegeben waren, bekam auch die Losung der Wiederherstellung Polens einen weniger praktischen Charakter, und ihre eventuelle Realisierung wurde hauptsächlich von einer günstigen Wendung in der europäischen Politik, von einem europäischen Kriege und dergleichen erwartet. Liegt doch die Mitwirkung in der internationalen Politik der bürgerlichen Staaten heute und für absehbare Zukunft außerhalb der Machtsphäre des Proletariats.

Die sozialistische Bewegung in Polen selbst entstand erst zu Beginn der achtziger Jahre. Diese verhielt sich aber von Anfang an zu der Forderung der Wiederherstellung Polens nicht nur gleichgültig, sondern geradezu feindselig – aus Gründen, die hier auseinanderzusetzen uns zu weit führen würde. Das bezieht sich sowohl auf die Sozialisten Russisch-Polens wie auf diejenigen Preußisch- und Österreich-Polens, insofern dort schon vor 1890 von einer Arbeiterbewegung die Rede sein kann. Die Unabhängigkeit Polens stand, von einer sozialistischen Gruppe im Ausland, „Pobudka", abgesehen, die mit der Arbeiterbewegung in keiner Berührung sich befand, einzig und allein im Programm derjenigen sehr schwachen bürgerlichen Richtung, die in Polen die patriotische genannt wird – wohlgemerkt nicht in dem in Westeuropa üblichen Sinne des Wortes, nicht im Sinne der privaten Vaterlandsliebe, sondern im Sinne eines bestimmten politischen, auf die Wiederherstellung eines polnischen Staates abzielenden Programms. Die Beziehungen zwischen dieser Richtung und der Arbeiterbewegung in Polen selbst lassen sich kurz durch das Schlagwort charakterisieren: hie Sozialismus, hie Patriotismus!

Die Verhältnisse blieben in der Hauptsache unverändert, als sich in Deutschland und Österreich eine organisierte sozialdemokratische polnische Bewegung einbürgerte. Gleich bei ihrem ersten Auftreten (1890) haben sich die galizischen und deutsch-polnischen Sozialisten durchaus auf gemeinsamen politischen Boden mit der österreichischen bzw. deutschen Sozialdemokratie gestellt. Ein gemeinsames Programm – hier das Erfurter [1891], dort das Hainfelder [1888] –, eine gemeinsame Organisation, eine gemeinsame Taktik, das war die Stellung der polnischen Sozialisten in Deutschland wie in Österreich. Von speziellen politischen Aufgaben der polnischen Sozialisten, etwa mit Bezug auf die polnische Unabhängigkeit, war keine Rede.

Freilich machten sich schon sehr bald immer mehr sich akzentuierende Symptome bemerkbar, die geeignet waren, diese klaren Verhältnisse in nationalistischer Richtung zu trüben und zu verwirren.

1891 auf dem Brüsseler Internationalen Kongress trennten sich die polnischen Delegierten von ihren respektiven politischen Kampfgenossen, um eine besondere polnische Delegation zu bilden, was sie merkwürdigerweise damit begründeten, dass ihr Zusammensitzen „im Interesse der Entwicklung des Sozialismus in Polen und der internationalen sozialistischen Politik" liege.

1892 auf dem Wiener Parteitag erachteten es die galizischen Sozialisten für nötig, in Bezug auf die soeben votierte und auch von ihnen angenommene Parteiorganisation Vorbehalte zu machen, indem sie erklärten, dass sie angesichts der besonderen Lage ihres Landes sowie ihrer Pflichten den außerhalb Österreichs lebenden Stammesgenossen gegenüber nicht so eng mit der Gesamtorganisation verbunden sein könnten, wie das die Statuten verlangen.

1893 endlich schieden die Sozialisten Preußisch-Polens aus der Organisation der deutschen Sozialdemokratie aus, um sich zu einer besonderen Polnischen Sozialistischen Partei zu vereinigen. Sie hielten das, wie sie selbst erklärten, für notwendig, einmal, um den Verleumdungen, denen sie sich wegen ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Partei seitens der polnischen Bourgeoisie ausgesetzt sahen, ein Ende zu machen, und zweitens, um desto wirksamer die Sprachfreiheit gegen die Germanisationsbestrebungen der Regierung verteidigen zu können.

Trotz alledem blieb aber die politische Stellung der polnischen Sozialisten in Deutschland und Österreich dem Wesen nach noch immer die alte. Man konnte über das bezeichnete Vorgehen der polnischen Parteien so oder anders denken, die Motivierung desselben stichhaltig oder haltlos finden, eines stand aber fest: Durch Erwägungen rein praktischer, untergeordneter Natur hervorgerufen, berührte jenes Vorgehen den entscheidenden Punkt, das politische Programm, nicht. Denn solange Sozialisten auf Grund eines gemeinsamen Programms in den gleichen politischen Verhältnissen wirken, stellen sie in ihrer Tätigkeit auch dann mehr oder minder ein einziges Ganzes dar, wenn sie in verschiedenen Parteiorganisationen vereinigt sind.

Das politische Programm der galizischen und preußisch-polnischen Sozialisten blieb aber dasjenige der österreichischen bzw. deutschen Sozialdemokratie. Die ersteren ließen auf allen ihren Konferenzen das gemeinsame Hainfelder Programm unverändert, die letzteren erklärten auf dem Kölner Parteitag [1893] durch ihren Delegierten Nikulski, dass sie trotz der Sonderorganisation das Erfurter Programm beibehielten. Auf ihrem zweiten Parteitag (Weihnachten 1894 zu Breslau) haben sie denn auch die vom konstituierenden Parteitag beschlossene Programmrevision aufgegeben und somit den Status quo ante beibehalten.

Erst in der allerletzten Zeit wird in Polen eine Tendenz immer lauter, das alte „patriotische" Programm mit der sozialistischen Bewegung unmittelbar zu verbinden. Diese Richtung, die am genauesten die sozialpatriotische genannt werden kann, hat sich zum ersten Male im Jahre 1893 in der Form eines diesbezüglichen Programmprojekts (in der polnischen Zeitschrift „Przedświt", herausgegeben in London, 1893, Mainummer) vernehmen lassen. Im Juli 1895 erschien aber in London ein in französischer Sprache verfasstes Blättchen „Bulletin officiel du parti socialiste polonais", worin schon entschieden erklärt wird, die galizischen und deutsch-polnischen Parteien streben die Wiederherstellung Polens an. Und eben durch diesen Umstand, d. h. durch die vollständige Programmverschiedenheit mit der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, erklärt nun nachträglich das Bulletin die Handlungsweise der galizischen und deutsch-polnischen Sozialisten in den letzten Jahren: die Vorbehalte der ersteren auf dem Wiener Parteitag von 1892, die Sonderorganisation der letzteren etc.

Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass die kategorischen Behauptungen und Erklärungen des Bulletins den Tatsachen – wenigstens in formaler Hinsicht – nicht entsprechen, da ja die genannten Parteien nie etwas über die Annahme eines ganz neuen Programms haben verlauten lassen noch auch diesen Gegenstand auf ihren Kongressen – der einzigen in solchen Fällen kompetenten Instanz – debattiert haben. Die hier und da gefallenen Äußerungen, die in mehr oder minder unbestimmter Weise Sympathien für die Wiederherstellung Polens durchblicken lassen, können offenbar nicht in Betracht kommen, wo es sich um die Annahme eines neuen Parteiprogramms handelt.

Andererseits ist es aber ebenso unzweifelhaft, dass gegenwärtig innerhalb der polnischen sozialistischen Bewegung in Österreich und Deutschland Tendenzen vorhanden sind, die, vorläufig im Stillen arbeitend, unter Umständen eine entscheidende Wendung in den Programmen der betreffenden Parteien herbeiführen können. Eben die jetzt im Londoner Bulletin offen ausgesprochenen sozialpatriotischen Tendenzen werfen ein ganz neues Licht auf die früheren Symptome in der polnischen Bewegung, wie die polnische Sonderorganisation in Deutschland, die Vorbehalte der galizischen Sozialisten und dergleichen, die, seinerzeit durch ganz untergeordnete praktische Rücksichten motiviert, so unbeachtet in der Parteipresse blieben. Jetzt kann man wenigstens das Ziel erkennen, zu dem alle diese scheinbar unbedeutenden Symptome bewusst oder unbewusst führten, ebenso wie den inneren Prozess vermuten, zu dem sich diese verschiedenen, äußerlich ohne Zusammenhang vorgenommenen Schritte zusammen ketten.

Angesichts dieses von einem Teile der polnischen Sozialisten durchgemachten Mauserungsprozesses gewinnt die polnische Frage für die sozialistische Bewegung ein ganz neues Interesse und muss von einem ganz neuen Standpunkt betrachtet werden. Hier kommen nämlich die alten Sympathien der sozialistischen Welt für die Unabhängigkeit Polens gar nicht in Betracht. In jenem Falle war sie nur ein Postulat der auswärtigen Politik des Proletariats, nun soll sie zum Programm der inneren Politik, des alltäglichen Kampfes eines Teiles des Proletariats werden und somit einen rein praktischen Charakter annehmen. Bis jetzt wurde die entscheidende Rolle in der Lösung der polnischen Frage der europäischen Diplomatie zugewiesen – das Proletariat seinerseits konnte vorläufig nicht viel mehr tun, als dieser erhofften Lösung seine Sympathie entgegenbringen. Nun soll die polnische Unabhängigkeit von dem polnischen Proletariat selbst, von seinem Klassenkampf verwirklicht werden; und es handelt sich hier wohlgemerkt nicht etwa um die Befreiung der Polen als einer Nation durch den endgültigen Sieg des Proletariats, durch die alles befreiende sozialistische Umwälzung, sondern um die staatliche Unabhängigkeit der Polen im Rahmen der bestehenden Ordnung, also um einen unabhängigen polnischen kapitalistischen Klassenstaat. Diesen Klassenstaat soll sich das polnische Proletariat zur nächsten politischen Aufgabe seines Klassenkampfes stellen, ganz wie das österreichische die Erringung des allgemeinen Wahlrechts, wie das belgische die Abschaffung des vote plural und dergleichen. In diesem Falle sind es nicht mehr Sympathien, sondern Interessen, Klasseninteressen einerseits und die positive Möglichkeit, d. h. materielle Kräfte zur Lösung der Aufgabe, andererseits, die allein maßgebend sind.

Somit ist auch eine ganz neue Begründung dieser Aufgabe erforderlich. An Polen war ein ungeheures völkerrechtliches Verbrechen vollzogen worden, andererseits war vor dem Russland Nikolaus' I. irgendeine Schutzmauer notwendig. Dies genügte, um das internationale Proletariat zur Aufnahme der polnischen Losung in sein auswärtiges Programm zu bewegen. Aber zur Aufnahme derselben Losung in das unmittelbare praktische Programm des polnischen Proletariats genügen diese Gründe nicht mehr. Hier treten alle diejenigen Gesichtspunkte in ihr Recht, welche auch für alle anderen Forderungen der sozialdemokratischen Programme maßgebend sind. Also vor allem der Zusammenhang dieser Forderung mit der objektiven ökonomisch-politischen Entwicklung der polnischen Länder und den materiellen Mitteln, die dem Proletariat von dieser Entwicklung selbst zur Lösung seiner Aufgabe zur Verfügung gestellt werden sollen. Diese Gesichtspunkte sind es, die einzig und allein bestimmen können, ob denn die Wiederherstellung Polens wirklich ein Klasseninteresse des polnischen Proletariats bildet und ob es dieselbe zu verwirklichen auch imstande ist. Auf die Begründung der neuen Richtung, wie sie vielfach in der polnischen Presse und auch im Bulletin, Nr. 1, in der französischen Sprache gegeben wird, können wir hier nicht näher eingehen. Es mag genügen, nur ganz allgemein zu bemerken, dass sie auf rein utopischem Boden steht und mit der Denkweise der Sozialdemokratie nicht das Mindeste gemein hat. Denn für Russisch-Polen fußt diese Begründung auf einem Vergleich zweier nicht existierender Verfassungen – der eventuellen Verfassung des unabhängigen Polens und der künftigen russischen Verfassung, wobei die Priorität der ersteren zugesprochen wird. Für Galizien und Preußisch-Polen wird aber die Notwendigkeit der Wiederherstellung Polens im Interesse des Proletariats damit begründet, dass diese beiden Länder angeblich von deutschen Kapitalien überschwemmt werden, was die durch diese fremden Kapitalien ausgebeuteten polnischen Arbeiter der Gefahr aussetzt, „den Hang zu einer nichtproletarischen Politik der reinen nationalistischen Opposition zu bekommen"A; diese Gefahr des Nationalismus soll durch die Annahme des politischen Programms der Nationalisten beseitigt werden. Im ersten Falle ist es also eine Prophezeiung, im zweiten eine Befürchtung, die das ganze Programm begründen sollen. Solche nicht aus der wirklichen sozialen Entwicklung, sondern einfach aus der Luft gegriffenen und dem polnischen Proletariat angedichteten „Klasseninteressen" stellen natürlich eine ganz künstliche Konstruktion dar und lassen das im Wesen nationalistische Programm nur mit knapper Not als ein sozialistisches Arbeiterprogramm erscheinen.

Wenn wir aber auf die Begründung des Programms nicht eingehen, so wollen wir jedoch die beiden praktisch wichtigsten Seiten der Frage – die Realisierbarkeit des Programms ebenso wie die eventuellen praktischen Folgen der Annahme desselben seitens der polnischen Sozialisten in ihrer Agitation – etwas näher untersuchen.

II

Man braucht nur einige allgemein bekannte Tatsachen aus dem gesellschaftlichen Leben Polens zusammenzustellen, um ein ungefähres Bild der polnischen sozialen Verhältnisse zu zeichnen, welches mit zwingender Logik auf die Undurchführbarkeit der Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaats durch die Aktion des polnischen Proletariats schließen lässt. „Der polnische Adel, die polnische Geistlichkeit und Bourgeoisie fühlen sich wohl im Hundeloch und fangen an, die insurrektionelle Fahne abzuschwören"B, so sagen die Sozialpatrioten selbst. Soweit haben sie auch ganz recht: Sie konstatieren nur die allgemein bekannte Tatsache der Regierungstreue der herrschenden Klassen in allen drei Teilen Polens. Nun haben sie aber leider unterlassen, aus diesen sehr richtigen Beobachtungen auch richtige Schlüsse zu ziehen.

Die politische Physiognomie der Bourgeoisie ist hier wie stets der getreueste Spiegel der Interessen des Kapitalismus im Lande. Übersetzen wir die politische Erscheinung der Regierungstreue der polnischen herrschenden Klassen in allen drei Annexionsstaaten in die Sprache ihrer materiellen Interessen zurück, so gelangen wir zu dem untrüglichen Schlusse, dass die Wiedervereinigung Polens nicht im Interesse seiner ökonomischen Entwicklung liegen kann, die sich eben in der polnischen Bourgeoisie verkörpert.

In Deutschland z. B., wo die politische Einigung gerade eine Lebensbedingung der kapitalistischen Entwicklung bildete und bereits auf dem Boden der Kleinstaaterei durch den Zollverein vorbereitet wurde, sehen wir die Bourgeoisie schon sehr früh für die politische Einigung eintreten. Ganz anders im gegenwärtigen Polen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den drei Teilen Polens sind so geringfügig, dass sie für das ökonomische Leben derselben kaum in Betracht kommen. Dagegen beherrschen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen jedem Teile Polens und seinem betreffenden Annexionsstaat die gesamte Wirtschaft des ersteren, insofern diese eine moderne Gestalt angenommen. Die polnische Bourgeoisie schwärmt denn auch für nichts weniger als für die Wiedervereinigung Polens und für nichts mehr als für die ökonomische Ausbeutung der günstigen Bedingungen, die ihr die Zugehörigkeit zu den Annexionsstaaten darbietet, so des enormen Arbeitsmarkts und der protektionistischen Zollpolitik in Russland, des Getreidemarkts in Deutschland, der beständigen Nachfrage nach Rohstoffen in Niederösterreich und Böhmen etc.

Und obwohl Russisch-Polen ein großindustrielles Land ist, während in Galizien und Preußisch-Polen der Großgrundbesitz die tonangebende, herrschende Klasse darstellt, was natürlich in vielen Beziehungen die sozialen Verhältnisse hier und dort verschieden gestaltet haben mag, so stimmen jedoch in dem entscheidenden Punkt, auf den es hier ankommt, alle drei polnischen Länder vollkommen überein, und der galizische und preußisch-polnische Junker hält ebenso fest an dem Annexionsstaat wie der russisch-polnische Großbourgeois. Wenn also in Deutschland zwischen den zersplitterten Ländern die ökonomische Attraktion, sozusagen die zentripetalen Tendenzen des Kapitalismus, wirkte, geht die ökonomische Entwicklung in Polen in gerade entgegengesetzter Richtung oder, genauer, in drei verschiedenen Richtungen – zur Verschmelzung jedes seiner Teile mit dem betreffenden Annexionsstaat führend. Am meisten hat sich dieser Einverleibungsprozess in Russisch-Polen geltend gemacht, die anderen Teile Polens erliegen aber, wenn auch langsam, demselben Prozess. Somit steht die Wiederherstellung Polens, weit entfernt, das Ergebnis seiner gesellschaftlichen Entwicklung zu sein, vielmehr in direktem Widerspruch zu derselben.

Schon angesichts des Gesagten stellt sich die Eroberung der Unabhängigkeit Polens durch die Kraft des polnischen Proletariats als eine Aufgabe dar, wie sie schwerer keinem anderen Proletariat in der Welt je zugefallen ist. Hier handelt es sich nicht mehr um die Erringung gewisser, wenn auch noch so weitgehender politischer Zugeständnisse, wie z. B. einer Verfassung in Russland oder des allgemeinen Wahlrechts in Österreich – Zugeständnisse, die keineswegs der kapitalistischen Entwicklung dieser Länder widersprechen, im Gegenteil, selbst ihr natürliches Ergebnis sind. Nein, die Sozialpatrioten geben unserem Proletariat eine viel härtere Nuss zu knacken. Während bisher neue Staatengebilde von den besitzenden Klassen in ihrem eigenen Interesse geschaffen wurden, und zwar unter Benutzung der Volksklassen als eines unbewussten Werkzeugs, soll hier das bewusste Proletariat selbst einen neuen Klassenstaat ins Leben rufen. Ja noch mehr, es soll dahin, ihrem Willen und Interesse zuwider, mit Gewalt seine sich dagegen mit Händen und Füßen wehrende Bourgeoisie, genauer seine drei Bourgeoisien, verpflanzen, dabei die gegebene Richtung der ökonomischen Entwicklung seiner Länder vergewaltigend. Um also die Unabhängigkeit Polens zu erobern, müsste das Proletariat nicht nur die Gewalt der drei mächtigsten Regierungen Europas brechen, sondern auch stark genug sein, die materiellen Lebensinteressen seiner Bourgeoisie zu bezwingen. Mit anderen Worten, es müsste trotz seiner Stellung als geknechtete Klasse zugleich die Stellung einer herrschenden Klasse einnehmen und seine Herrschaft dazu gebrauchen, um durch Schaffung eines neuen Klassenstaats mit Bewusstsein wieder ein Werkzeug seiner ferneren Unterdrückung zu schaffen.

Schon bei der bloßen Formulierung dieses Problems drängt sich von selbst der Gedanke auf: Ist das polnische Proletariat einmal imstande, die Wiederherstellung Polens trotz der Regierungen der Annexionsstaaten und der polnischen Bourgeoisie durchzusetzen, dann wird es ja auch imstande sein, die sozialistische Umwälzung in Angriff zu nehmen. Der zur Erfüllung der ersteren Aufgabe erforderliche Grad von Macht und Klassenbewusstsein ist zur Erfüllung der letzteren zweifellos hinreichend; gilt es doch hier, die ökonomische Entwicklung nur zu benutzen, während es dort sie zu brechen gilt. Die sozialistischen Parteien aller Länder haben sich bereits über eine ähnliche Frage ausgesprochen. In den Debatten über den Generalstreik im Kriegsfall, wo es sich um etwas viel Einfacheres, bloß um einen passiven Widerstand gegen den Beschluss der bürgerlichen Regierungen handelte, sprachen sich die internationalen Kongresse dahin aus, dass das Proletariat nicht imstande sei, im Rahmen der bestehenden Ordnung die wichtigsten Funktionen des Klassenstaats zu paralysieren. Ist aber das Proletariat nicht einmal imstande, die herrschenden Klassen am Kriegführen und an der darauf folgenden Umänderung der politischen Karte Europas zu hindern, so ist es offenbar um so weniger imstande, den Lebensinteressen der herrschenden Klassen zuwider selbst neue Staaten zu schaffen und bestehende zu zerstückeln. Somit erweist sich das Programm der Sozialpatrioten vom Standpunkt seiner Realisierbarkeit aus als ebenso utopisch, wie es seiner theoretischen Konstruktion nach ist.

III

Die Unhaltbarkeit und praktische Undurchführbarkeit eines Programms braucht unter Umständen dessen wenigstens zeitweilige Annahme noch nicht auszuschließen. Zur Charakterisierung des sozialpatriotischen Programms gehört daher auch noch die Kennzeichnung jener Veränderungen, welche die Tätigkeit der polnischen Sozialisten infolge seiner Annahme erfahren müsste. Wir sagen „müsste", denn ihre bisherige Tätigkeit kann in dieser Beziehung – und das ist sehr wichtig, im Auge zu behalten – nicht in Betracht kommen. Bisher haben die Sozialisten Galiziens und Preußisch-Polens diese Forderung weder angenommen noch ihr in der Agitation eine irgendwie bedeutende Rolle zugewiesen. Die betreffenden Tendenzen kamen höchstens hier und da in einigen Schwankungen und Inkonsequenzen zur Geltung. Dagegen ist z. B. die bisherige Teilnahme der Sozialisten Preußisch-Polens an der Wahlagitation sowie der energische Kampf der galizischen Partei für das allgemeine Wahlrecht offenbar nur auf Rechnung des ihnen mit den deutschen und österreichischen Genossen gemeinsamen Programms zu setzen und keineswegs als die praktische Betätigung der Forderung der Unabhängigkeit Polens zu betrachten. Bei der Erörterung der möglichen praktischen Folgen dieser Forderung wollen wir jedoch keineswegs den Propheten spielen. Es kommt uns nur darauf an, aus den Eigentümlichkeiten dieses Programms selbst die logischen Konsequenzen zu ziehen, unsere Schlussfolgerungen an dem bereits vorhandenen Tatsachenmaterial auf jedem Schritt prüfend.

Vor allem würde die tatsächliche Annahme der fraglichen Forderung auf die Organisationsbeziehungen rückwirken. Die Zugehörigkeit polnischer Sozialisten zur deutschen und österreichischen Gesamtpartei würde unmöglich werden, sobald sie sich ein besonderes politisches Programm geben. Und die Anhänger des sozialpatriotischen Programms sind sich dessen durchaus bewusst. Sie führen z. B. die bereits geschaffene Sonderorganisation der deutsch-polnischen Sozialisten eben als einen unumstößlichen Beweis und eine direkte Wirkung der Annahme der Forderung der Wiederherstellung Polens an, obwohl dies den Erklärungen der dortigen Sozialisten tatsächlich widerspricht. In derselben Weise werden die 1892 gemachten Vorbehalte der galizischen Genossen in Bezug auf die Organisationsverbindung mit der österreichischen Partei von den Sozialpatrioten erklärt.C

Während also die Verschiedenheit des Programms die polnischen Sozialisten von der deutschen und österreichischen Organisation abtrennen müsste, muss ein gemeinsames polnisches Programm ebenso natürlich zur Vereinigung der Sozialisten aller drei Teile Polens in einer einzigen polnischen Partei führen. Und zwar wird letztere Schlussfolgerung bereits durch einige Tatsachen bestätigt. Auf den internationalen Kongressen bilden die polnischen Delegierten eine besondere nationale Delegation, die eine fiktive polnische Gesamtpartei vertreten soll und mit der deutschen und österreichischen auf dem Fuße der internationalen Solidarität verkehrt. Sie vergessen dabei, dass bei der Gruppierung der sozialistischen Vertreter nach „nationalen Delegationen" das Wort „Nation" als gleichbedeutend mit „Staat" gebraucht wird und dass die sozialistischen Delegationen nicht die Staaten der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern lediglich die der Gegenwart zu vertreten haben. Auch das zitierte Londoner Bulletin sucht sich den Schein eines Organs einer allgemeinen geeinigten polnischen Partei zu geben.

Die Entstehung von verschiedenen Parteien in gleichen politischen Verhältnissen und einer einzigen Partei in dreierlei verschiedenen Verhältnissen, Parteisolidarität zwischen Sozialisten verschiedener Staaten und internationale Solidarität zwischen Genossen in einem und demselben Staate – dies wäre also die nächste praktische Wirkung der Annahme des sozialpatriotischen Programms.

Schon diese einzige Wirkung schließt die Möglichkeit jeder ersprießlichen politischen Tätigkeit aus.

Da der politische Kampf des Proletariats eigentlich in der Demokratisierung und Ausnutzung der Staatsmaschine zugunsten seiner Klasseninteressen besteht, so muss er offenbar in Bezug auf seine Ziele und Aufgaben den jeweiligen politischen Einrichtungen in jedem Staate angepasst werden. Das polnische Proletariat lebt gegenwärtig, ungeachtet seiner gemeinsamen Nationalität, tatsächlich in drei verschiedenen Staaten mit durchaus verschiedenen politischen Einrichtungen. Seine gemeinsamen politischen Einrichtungen gehören der Vergangenheit oder im besten Falle der Zukunft an. Der gegenwärtig zu führende politische Kampf kann aber nur mit den Verhältnissen der Gegenwart rechnen, er muss sich also hier drei verschiedene Programme stellen und von drei verschiedenen Kampforganisationen geführt werden.

Eine sozialistische Partei, die gegenwärtig das polnische Proletariat aller drei Staaten unter einem gemeinsamen politischen Programm vereinigen würde, könnte offenbar dieses Programm keinem derselben anpassen, d. h., sie müsste das politische Milieu in allen drei Staaten einfach ignorieren. Es wäre ganz dasselbe, wie wenn man das gesamte Proletariat Deutschlands, Österreichs und Russlands in einer einzigen Partei mit einem gemeinsamen Programm vereinigen wollte. Die Absurdität eines solchen Unternehmens springt in die Augen. Und doch, wodurch unterscheidet sich von demselben der Plan einer allgemeinen polnischen Partei? Lediglich durch das in diesem Falle gemeinsame nationale Moment, welches jedoch für die Gemeinsamkeit des Programms gar nicht in Betracht kommt.

Wird aber das Programm den jeweiligen politischen Verhältnissen nicht angepasst, werden dieselben vom Programm ignoriert, so müssen sich die Programmverfasser darauf gefasst machen, ihrerseits von der lebendigen Wirklichkeit ignoriert zu werden. Ein gemeinsames Programm für das polnische Proletariat Deutschlands, Österreichs und Russlands kann auch nur die polnische Bewegung in allen drei Ländern in eine gemeinsame Sackgasse sich festrennen lassen.

In der Tat. Unter den gleichen politischen Bedingungen wirkend wie die deutsche und österreichische Sozialdemokratie, müssten die polnischen Sozialisten dennoch an eine andere politische Hauptforderung appellieren als jene Parteien – nämlich an die Wiederherstellung Polens. Um nun diese Forderung den polnischen Arbeitern mundgerecht zu machen, müssten sie zum Ausgangspunkt ihrer Agitation selbstverständlich die Eigentümlichkeit der Lage des polnischen Proletariats gegenüber derjenigen des deutschen und österreichischen nehmen, zwischen jenem und diesen eine Scheidegrenze zu konstruieren suchen. Eine solche Scheidegrenze könnte aber unmöglich in der Klassenlage der polnischen Arbeiter, die sich in nichts von derjenigen anderer Proletarier in Deutschland und Österreich unterscheidet, gefunden werden. Sie müssten also zu diesem Zwecke das einzig Unterscheidende, das nationale Moment, in den Vordergrund schieben. Sie würden somit notwendigerweise dazu gedrängt werden, die Leiden der polnischen Arbeiter in Deutschland, die in ihrer mit den deutschen Arbeitern gemeinsamen Klassenlage wurzeln, oft durch ihre besondere Lage als Angehörige einer eroberten Nation zu erklären suchen. So müssten sie die nationale Unterdrückung – eine an sich für die Arbeiter untergeordnete Erscheinung – zur Hauptsache emporheben. In Österreich aber, wo die Polen nationale Freiheit genießen, müssten sie direkt an das nationale Gefühl, an die historischen Überlieferungen und dergleichen appellieren.

Wie wäre dies auch anders möglich? Angesichts der mächtigen Bewegung der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich, in der alle Klassenbedürfnisse des Proletariats dieser Staaten, unabhängig von seiner Nationalität, zum Ausdruck kommen, würden die polnischen Sozialisten, um ihre Existenz als eine besondere Partei mit eigenem Programm behaupten zu können, notwendigerweise zu einer immer schärferen Betonung des nationalen Moments gedrängt werden. Die Parteiselbsterhaltung, die Gefahr, von dem allgemeinen Strom der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland und Österreich verschlungen zu werden, müsste sie also sozusagen zur Nationalisierung ihrer ganzen Agitation drängen. Außer der Hervorhebung des nationalen Moments bei gleichzeitiger Vertuschung des Klassenstandpunkts müssten sie auch allen wichtigsten Parteiaktionen, welche vermöge der gemeinsamen Verhältnisse dem polnischen und nichtpolnischen Proletariat gemeinsam sein müssen, einen besonderen nationalen Stempel aufdrücken. Letzteres geschieht denn auch bereits seitens der Sozialpatrioten, die instinktiv im Geiste des von ihnen aufgestellten Programms z. B. die bei den Reichstagswahlen von 1893 in Posen und Schlesien abgegebenen polnischen sozialdemokratischen Stimmen als eine national-polnische Kundgebung auslegen. „Soundso viel Wähler", sagen sie, „haben durch ihre Stimmabgabe für die polnisch-sozialistischen Kandidaten erklärt, fernerhin weder die deutsche Herrschaft noch die des nationalen Adels und der schwarzen Schar ertragen zu wollen."D Nicht minder bezeichnend, setzen sie die polizeilichen Verfolgungen der polnischen Arbeiterbewegung seitens der deutschen Regierung nicht sowohl auf Konto der Klassenpolitik dieser letzteren als auf Konto der nationalen Unterdrückung, indem sie diese Verfolgungen als „Anwendung der deutschen Gesetze in den eroberten Provinzen"E auffassen.

Den auffallendsten Beleg aber für unsere Schlussfolgerung hat ein Beschluss des letzten Parteitags der Sozialdemokraten Galiziens (in Nowy Sącz, 28. und 29. September 1895) gebracht. Es wurde nämlich beschlossen, um die Einheit des polnischen Proletariats in allen drei Teilen Polens zu manifestieren, eine für alle diese drei Teile gemeinsame Maifestschrift ausfertigen zu lassen, und zwar von der Londoner Gruppe, die das Bulletin herausgibt.F Nun sehen wir hier alle unsere oben gezogenen Schlüsse in prägnantester Weise bestätigt.

Die galizischen Sozialisten suchen der Hauptparteiaktion, der Maifeier, einen spezifisch polnischen Charakter aufzudrücken und grenzen sich so in dieser Hauptaktion von der österreichischen Gesamtpartei ab. Sie suchen ferner der Maifeier einen allgemein polnischen, einen von den so verschiedenen dreierlei politischen Verhältnissen unabhängigen Charakter zu verleihen und somit das gemeinsame nationale Moment in den Vordergrund, das verschiedene politische Moment in den Hintergrund zu drängen. Besonders bezeichnend ist das für Österreich, wo doch die Maifeier einen so vorwiegend politischen Charakter hat und haben muss und wo ihr angesichts der politischen Rechtlosigkeit der Massen eine so außerordentliche politische Bedeutung zukommt.

Wie kann aber in der Praxis eine solche von der galizischen Konferenz beschlossene Maiagitation aussehen? Soll in der betreffenden Maifestschrift an den Achtstundentag und vor allem an das allgemeine Wahlrecht – wie in ganz Österreich – appelliert werden? Offenbar nein, denn diese letztere Losung hätte gar keinen Sinn für Russisch- und Preußisch-Polen, für welche die Schrift auch bestimmt ist. Wird man an die Wiederherstellung Polens appellieren? Aber dann nimmt die galizische Partei eine ganz separatistische politische Stellung in Österreich ein. Wird am Ende nur der Achtstundentag gefordert werden? Dann wird die Maifeier jeder politischen Bedeutung überhaupt beraubt! Wir schließen hier natürlich den Fall aus, dass die fragliche Schrift nur eine einfache Zusammenfassung von drei unabhängigen Teilen für Russisch-, Preußisch- und Österreichisch-Polen mit dreierlei politischen Forderungen darstellen würde, denn die Belastung der Maifestschrift mit einem Agitationsmaterial, das nur für die beiden übrigen polnischen Länder Bedeutung hat, würde die Maiagitation in Galizien in solchem Maße erschweren, dass dieser Umstand der Aufmerksamkeit des Kongresses unmöglich entgehen konnte. Und da noch von der Broschüre speziell verlangt wird, dass sie auf das allen polnischen Arbeitern gemeinsame nationale Moment besonders Gewicht legtG, so wird damit in demselben Maße die enge Solidarität der galizischen Arbeiter mit den übrigen Proletariern Österreichs zurück- und der ihnen gemeinsame politische Kampf heruntergesetzt. Also Separatismus und Vertuschung des politischen Klassenstandpunkts – das bleiben immer die Folgen der Tendenz zum speziellen polnischen Programm.

Wenn nun die polnischen Sozialisten das Programm der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie für sich durch die Forderung der Wiederherstellung Polens ergänzen wollten, so würde sich daraus offenbar weder prinzipiell noch praktisch eine innere Einheit ergeben können. Eine solche Verquickung müsste vielmehr etwas rein Äußerliches bleiben.

Die verschiedenen Programmforderungen der sozialdemokratischen Parteien sind stets innerlich eng miteinander verbunden. Die Verwirklichung jeder derselben spornt das Proletariat zu einem noch energischeren Kampfe um die übrigen Forderungen an und schafft zugleich die objektiven Bedingungen zur Realisierung derselben. Dagegen kann zwischen der sozialpatriotischen Forderung und dem Programm der Sozialdemokratien Deutschlands und Österreichs ein solches Verhältnis nicht bestehen. Die allmähliche Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms, das Wachstum und die Erstarkung der Bewegung in Deutschland und Österreich und damit auch in deren polnischen Provinzen könnte nur zur Schwächung der Bewegung zugunsten der Wiederherstellung Polens in diesen Ländern führen, keineswegs zu deren Stärkung. In dem Maße, wie der Emanzipationskampf der Arbeiterklasse dort immer erfolgreicher, die Arbeiterklasse selbst immer einflussreicher würde, würden die polnischen Arbeiter ein immer geringeres Bedürfnis empfinden, im Interesse ihrer Befreiung die Schaffung eines selbständigen Staates anzustreben.

Ebenso wenig vermag die Erstarkung der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland und Österreich günstigere objektive Bedingungen für die Verwirklichung dieser Bestrebung zu schaffen. Das Wachstum der politischen Macht des Proletariats führt schließlich zu dessen Herrschaft im gegebenen Staate, keineswegs aber zur Zerstückelung dieses Staates. Der sozialdemokratische Kampf gibt dem Proletariat die Macht, den Staat als eine soziale Institution aufzuheben, ihn durch die sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, keineswegs aber die Macht, den gegebenen Staat im Rahmen der kapitalistischen Ordnung als einen politischen Körper zu zerreißen. Das Wachstum der politischen Macht des Proletariats ist immer die Widerspiegelung des gleichzeitigen Wachstums des Kapitalismus im gegebenen Lande, welch letzteres andererseits die politische Zentralisation, das engere Verwachsen der verschiedenen Landesteile, die Stärkung und Vervielfältigung der sie aneinander fesselnden Bande zur Folge hat. Das Proletariat vermag nur, diese zentralisierenden Wirkungen des Kapitalismus auszunutzen – zur Zusammenfassung seiner Kräfte und zur Demokratisierung des geeinigten Staates, es ist aber nicht imstande, sich jenen Wirkungen zu widersetzen und den verschiedenen Teilen des Staates ihre Unabhängigkeit wiederzugeben. So kann man im Voraus sagen, dass die Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich, indem sie das Proletariat in allen seinen Klassenbestrebungen riesig vorwärts treiben wird, jedoch gleichzeitig, weit entfernt, den österreichischen Staat dem Zerfall zu nähern, vielmehr seine Landesteile auf neuer Grundlage zusammenkitten wird.

Die Forderung der Wiederherstellung Polens kann somit kein harmonisches Ganzes mit den übrigen Forderungen und mit der Tätigkeit der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich bilden. Die Aufnahme dieser Forderung in das gemeinsame Parteiprogramm müsste in der Tätigkeit der polnischen Sozialisten ein beständiges Schwanken hervorrufen zwischen dem nationalistischen Standpunkt, dem Standpunkt der angeblich besonderen Interessen des polnischen Proletariats, und dem allgemeinen Klassenstandpunkt der respektiven Sozialdemokratien, wobei ihre Agitation auf dem einen Gebiet in keinem inneren Zusammenhang mit ihrer Agitation auf dem anderen stehen würde.

Auf welchen der beiden Standpunkte aber die polnischen Sozialisten den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit verlegen würden, ob auf den der spezifisch polnischen, nationalen Interessen oder auf den der gemeinsamen Klasseninteressen – das ist unschwer zu erraten.

Wir haben bereits gesehen, dass schon die Lage der polnischen Sozialisten neben der deutschen und österreichischen Partei sie auf den Weg des Nationalismus drängen müsste. Außerdem aber fallen dabei schwer ins Gewicht die besonderen sozialen Verhältnisse, in denen die polnischen Sozialisten zu wirken haben.

Angesichts der Herrschaft beinahe an mittelalterlichen Feudalismus erinnernder Zustände in Posen und Galizien, angesichts des Fehlens der Großindustrie sind die Sozialisten auf die Werbung von Anhängern hauptsächlich in Handwerkerkreisen angewiesen, welch letztere vom Kleinbürgertum, der tonangebenden städtischen Klasse, stark beeinflusst werden. Das Kleinbürgertum ist aber sowohl in Galizien wie in Posen der letzte, wenn auch ohnmächtige Hüter der Überlieferungen des reinen Nationalismus. In einem so beschaffenen sozialen Milieu wirkend und andererseits von der Gesamtbewegung in Deutschland und Österreich durch ein besonderes nationales Programm getrennt, könnten sich die polnischen Sozialisten unmöglich dem Einfluss dieses kleinbürgerlichen Nationalismus entziehen, der sie immer mehr dem mit der deutschen und österreichischen Partei gemeinsamen Klassenkampfe entfremden würde.

Dass auch die letzte Schlussfolgerung keine bloße Prophezeiung ist, beweist der Umstand, dass die Polnische Sozialistische Partei in Deutschland als einen der Gründe, die sie zum Austritt aus der deutschen Organisation bewogen hatten, die Verleumdung der bürgerlichen Patrioten anführte, welche sie ob ihrer Zugehörigkeit zur gesamtdeutschen Organisation tadelten.H Die gegenwärtige Sonderorganisation der polnischen Genossen in Deutschland erscheint somit schon zur Hälfte als ein Zugeständnis, gemacht unter dem Druck des kleinbürgerlichen Nationalismus. Und doch haben wir es hier wie auch bei dem charakteristischen Beschluss des galizischen Parteitags nicht mit der letzten, ja noch nicht mit der ersten Konsequenz der Annahme des sozialpatriotischen Programms zu tun. Vorläufig haben wir es hier nur mit einer Äußerung jener Tendenzen zu tun, die in der Tiefe der sozialistischen Bewegung Preußisch- und Österreichisch-Polens wirksam sind.

Sollten die polnischen Sozialisten in Deutschland dahin kommen, dieser Taktik konsequent zu folgen, dann müssten sie freilich aus einer gegen die Bourgeoisie kämpfenden zu einer nach der bürgerlichen Pfeife tanzenden Partei werden.

IV

Dies also die praktischen Folgen der ins Programm aufgenommenen Forderung der Wiederherstellung Polens. Seltsamerweise suchen die Verfasser eines solchen in seiner Konstruktion, wie wir erwähnt, und in seiner Ausführbarkeit, wie wir gezeigt, ganz utopischen Programms, das dazu in der Praxis auf reinen Nationalismus hinausläuft, dasselbe zu einem marxistischen par excellence zu stempeln. Sie glauben das nämlich dadurch tun zu können, dass sie sich bei jeder Gelegenheit auf die Sympathien berufen, welche Marx und Engels für die Idee der Wiederherstellung Polens ausgedrückt haben. Ganz besonders führen sie diejenige oft von den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus geäußerte Meinung ins Feld, die Wiederherstellung Polens sei als die Schutzmauer der europäischen Demokratie gegen den drohenden Einfall der russischen Reaktion notwendig.

Nun scheint uns aber, dass die Sozialpatrioten, welche sich mit Gefallen auf diese alte Meinung berufen, etwas gerade in den Arbeiten von Engels übersehen haben, was ihnen freilich weniger in den Kram passt, was jedoch für diese Frage von entscheidender Bedeutung ist. Engels hat nämlich mit gewohnter Gründlichkeit bewiesen, dass das jetzige Russland, angesichts des Mangels an Offizierkräften, der geistigen Eigentümlichkeiten des russischen Soldaten, der Beschaffenheit des russischen Beamtentums, vor allem aber angesichts seiner allgemeinen ökonomischen und speziell finanziellen Zerrüttung absolut unfähig ist, Europa mit einem Einfall zu bedrohen, dass es nicht einmal einen Verteidigungskrieg zu führen vermag und dass es überhaupt sozusagen am Vorabend eines politischen Bankrotts steht.I Das jetzige Russland ist also nicht mehr das Russland Nikolaus' I., vor dessen Einbrüchen man sich durch eine physische Mauer zu schützen hatte und das in seinem Innern gar keine Elemente der Entwicklung aufzuweisen hatte. In seinem Schoße vollzieht sich jetzt ein gewaltiger Umwälzungsprozess, der dem Absolutismus bald über den Kopf gewachsen sein wird, und versteht dieser nicht, rechtzeitig Konzessionen zu machen, so droht ihm die Gefahr, „wie ein Hühnerstall vom Erdbeben" umgestürzt zu werden.

Außerdem hätten die Anhänger des Sozialpatriotismus vor allem noch zu beweisen, ob bei dem heutigen allseitigen internationalen Verkehr und der gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeit aller Staaten voneinander eine rein physische Abgrenzung Europas von Russland auch von irgendwelchem Belang sein könnte. Zeigt doch das Beispiel Frankreichs, dass die russische Reaktion so lange Hände hat, dass sie auch über mehrere dazwischenliegende Staaten ihren Einfluss erstrecken kann.

Auch sind die von ihnen auf die künftige polnische Demokratie gesetzten Hoffnungen eigentlich Wechsel auf eine politische Bank, die noch gar nicht existiert und deren eventuelle Verwaltung – die polnischen besitzenden Klassen – sehr wohl die Zahlung verweigern und sich gar zum Bundesgenossen des „Erbfeindes", des russischen Zarentums ebenso wie die französische Republik, hergeben könnte.

Alle diese Berechnungen und Hoffnungen sind offenbar gänzlich Zukunftsmusik.

Jedenfalls mag man darüber dieser oder jener Meinung sein, aus den Äußerungen von Marx und Engels lässt sich höchstens die Wünschbarkeit der Wiederherstellung Polens ersehen. Die Sozialpatrioten vergessen aber, dass nicht alles, was wünschenswert, auch darum möglich, und nicht alles, was an und für sich möglich, auch speziell für das Proletariat möglich ist. Es waren aber keine anderen als gerade Marx und Engels, die die Arbeiterklasse zuerst gelehrt haben, nicht die bloße Wünschbarkeit, nicht den bloßen Willen, das Wünschenswerte zu erreichen, zum Triebrad all ihres Strebens zu machen, sondern als Kriterium desselben die wirklichen materiellen Verhältnisse der Gesellschaft in ihrer Entwicklung aufzufassen, die einzig bestimmen können, ob das Wünschenswerte auch möglich ist, und die das Mögliche auch historisch notwendig machen. Dass aber bei den so oft angeführten Äußerungen über die eventuelle Wiederherstellung Polens meistenteils nicht an die materielle Entwicklung Polens und eine daraus sich ergebende unmittelbare Aufgabe des Proletariats gedacht wurde, ist zweifellos, „Es wird eine gerechte Strafe für Preußen sein, wenn es dann (im Kriege mit Russland – R. L.) zu seiner eigenen Sicherheit ein starkes Polen wiederherstellen muss"J, sagt z. B. Engels. Nicht von dem polnischen Proletariat, nicht von seinem alltäglichen Klassenkampfe wird hier also gesprochen, sondern von Preußen, von der europäischen Diplomatie, von dem Kriege. Vom Kriege erwarten die Wiederherstellung Polens auch alle diejenigen, die sie als für Europa notwendig betrachten. Man mag nun über diese Erwartungen denken, wie man will, soviel ist jedenfalls klar:

Erstens, dass sie, mögen sie auch von Marx und Engels selbst ausgesprochen worden sein, doch nicht zu den Grundprinzipien, ja überhaupt nicht zu den Prinzipien der Sozialdemokratie gehören; und wenn man diese Äußerungen in Bezug auf die Wiederherstellung Polens etwa zu Dogmen des Sozialismus machen und so indirekt auf Marx und Engels die Verantwortlichkeit für das sozialpatriotische Programm übertragen will, so riskiert man eben, das Wort von Marx auf sich angewendet zu sehen: „Sie haben nie auf die Ehre Anspruch gemacht, eigne Ideen zu besitzen. Was ihnen gehört, ist das eigentümliche Missverständnis fremder Ideen, die sie als Glaubensartikel fixiert und als Phrase sich angeeignet zu haben meinen."

Zweitens, dass, solange Kriege sich nicht programmmäßig und zur Zufriedenheit der sozialistischen Parteien abwickeln, die Resultate zukünftiger Kriege nicht als Grundlage sozialistischer Programme dienen können.

Die auf einen zukünftigen Krieg gesetzten Hoffnungen können höchstens die Taktik der polnischen Sozialisten während des Krieges bestimmen, keineswegs aber ihr auf den täglichen Kampf berechnetes Programm. Auch nicht einmal diese Taktik lässt sich jetzt schon bestimmen, da uns sowohl der Moment des künftigen Krieges wie auch alle ihn begleitenden Umstände völlig unbekannt sind.

Die Äußerungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus können und dürfen somit nicht einmal als Fingerzeige für das praktische alltägliche Programm des polnischen Proletariats ausgelegt werden, weil sich dieselben nur auf die Eventualitäten der auswärtigen Politik und nicht auf den inneren Klassenkampf und die Ergebnisse des sozialen Entwicklungsgangs Polens beziehen. Überhaupt gehören diese Äußerungen ihrem Ursprung wie auch ihrem Charakter nach mehr in jene schöne Zeit, wo „Pole und Revolutionär – wenigstens in nationalem Sinne – identisch war", wo zwischen einem polnischen Aufstand und dem anderen das Land in beständiger Gärung sich befand. Jetzt gehört aber das eine wie das andere einer längst vergessenen Vergangenheit an, da sich seit jener Zeit in Russisch-Polen – dem Herzen Polens und dem Herd aller nationalen Erhebungen – keine geringere Tatsache vollzogen hat als die gänzliche Aufhebung der Hörigkeit und die Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie. Damit wurden auch die sozialen Verhältnisse Polens auf den Kopf gestellt. Der polnische „Revolutionär" von 1848 – der Adel – machte ökonomisch und politisch Bankrott. Auf die Bühne trat eine neue Figur – der Bourgeois, der nun die erste Geige führt, und zwar darauf nicht das Nationallied „Noch ist Polen nicht verloren", sondern die russische Hymne „Gott erhalte uns den Zaren" spielt.

Wenn trotz alledem die seit dreißig Jahren eingefrorenen Trompetentöne der polnischen Aufstände plötzlich im Jahre 1893 aufgetaut und zu den Ohren der Anhänger des Sozialpatriotismus gedrungen sind, so ist das lediglich einer Illusion ihres politischen Gehörs zuzuschreiben. In der wirklichen Natur geschah ein solches Wunder nicht. In der Wirklichkeit denkt jetzt keine der polnischen herrschenden Klassen an die Wiederherstellung Polens. Und das polnische Proletariat – das Proletariat kann eben auch nur auf dem Rade der Geschichte vorwärtskommen, nicht aber dasselbe nach rückwärts umdrehen.

Noch ein Wort. Die Herausgeber des Londoner Bulletins (der Auswärtige Verband polnischer Sozialisten), welche das sozialpatriotische Programm vertreten und die galizischen und preußisch-polnischen Sozialisten zur Annahme desselben drängen, behaupten von diesen beiden Parteien, sie haben die Forderung der Wiederherstellung Polens in ihr Programm ganz bestimmt aufgenommen, sie können es nur nicht offen heraus sagen, um sich nicht des Hochverrats schuldig zu machen.K Diese Parteien sollen somit in Bezug auf den Nationalismus eine Art politischer Kryptogamen sein, die ihr Programm zugleich haben und nicht haben – je nach den Umständen – und in deren Namen man immer sprechen kann, was man will, ohne dass sie zu protestieren brauchten. Das ist allerdings sehr schlau, aber Schlauheit in großen Dingen hat schon manchen den Hals gekostet, denn Verkleidung gilt auf dem Markte der Geschichte nicht. Was der polnischen Bewegung jetzt am meisten Not tut, ist gerade Klarheit in der politischen Stellung. Denn die Politik der Schwankungen hat nicht nur in Bezug auf das Programm, sondern im praktischen Leben der polnischen Parteien eine heillose Verwirrung geschaffen. Für die Sozialisten Galiziens beginnt die Verwirrung mit dem letzten Beschluss, betreffend die Maifeier. Für die polnischen Sozialisten Deutschlands datiert sie aber schon seit ihrer Sonderorganisation. Die beste Probe davon liefern eben ihre Beziehungen zu der deutschen Partei, die sie immer noch, seit 1893, nicht ins Klare zu bringen vermochten. Als sich die polnischen Genossen als eine selbständige Partei organisierten, haben sie zugleich beschlossen, sich an den Parteitagen der deutschen Sozialdemokratie durch einen Delegierten vertreten zu lassen. Auf dem Kölner Parteitag erschien auch ihr Delegierter Nikulski mit einem Antrag, der dahin ging, der Parteitag solle die sozialdemokratische Fraktion beauftragen, einen Gesetzentwurf über die Sprachfreiheit in den polnischen Provinzen im Reichstag einzubringen. Durch die Absendung eines Delegierten zum deutschen Parteitag wurde der Notwendigkeit, in einer engen Verbindung mit der deutschen Partei zu verbleiben, Ausdruck gegeben. Aber die polnischen Genossen scheinen bei ihrem Beschluss vergessen zu haben, dass es unmöglich ist, aus einer Partei ausgetreten zu sein und zugleich in ihr zu verbleiben oder, was auf dasselbe hinausgeht, einen Delegierten zum Kongress einer Partei zu schicken, der man nicht angehört. Auf dem Frankfurter Parteitag [1894] waren denn auch die polnischen Sozialisten nicht mehr vertreten. Zum Breslauer Parteitag [1895] haben sie wieder beschlossen, einen Genossen mit einem Bericht über die polnische Bewegung abzusenden, ob in der Eigenschaft eines Delegierten, ist aus dem Beschluss nicht zu ersehen. Jedoch vermissten wir in dem Protokoll des letzten Parteitags ebenso den polnischen Bericht wie den Genossen, der, sei es als Delegierter, sei es als Gast, die polnische Organisation als solche vertreten sollte. Und wäre es auch möglich, in den gegebenen Verhältnissen sich durch einen Delegierten vertreten zu lassen – was selbstverständlich jedem Begriff über Parteiorganisation widersprechen würde –, so bleibt dennoch die Frage offen: Welchen Sinn hätte eine solche Vertretung? Erachten die polnischen Genossen die Beschlüsse der deutschen Parteitage als auch für sie bindend, so ist es unbegreiflich, warum sie auf ihr Recht auf tätige Mitwirkung bei denselben ebenso wie auf die Unterstützung seitens der deutschen Partei durch ihren Austritt aus der letzteren verzichtet haben. Sind aber diese Beschlüsse für sie nicht maßgebend, dann ist auch die Vertretung an dem deutschen Parteitag offenbar nur eine leere Formalität.

Die polnischen Genossen in Deutschland empfinden also wohl die Notwendigkeit, sich der deutschen Bewegung anzuschließen, es sind aber eben die gekennzeichneten Schwankungen in der politischen Stellung, die sie daran verhindern und verhindern werden, für ihre Beziehungen zur deutschen Partei die entsprechende Organisationsform zu finden oder, besser gesagt, wiederzufinden.

In eine sehr ähnliche Lage müssen bald auch die galizischen Sozialisten geraten. Der letzte österreichische Parteitag [in Prag] hat einstimmig konstatiert – und das bildet gerade den Grundton seiner Verhandlungen –, dass die Partei angesichts der bevorstehenden Wahlreform in eine neue Epoche tritt, wo ihr neue und wichtige politische Aufgaben die Schaffung einer kompakten zentralisierten Organisation und einer einheitlicheren Politik unbedingt gebieten. Die erste Errungenschaft auf dem Gebiet der politischen Rechte hat also zur nächsten Folge die Zentralisierung und Vereinheitlichung der Partei gehabt. Jeder weitere Schritt auf derselben Bahn muss diese Tendenz nur noch verstärken. Auf diese Weise stehen die Interessen und die Entwicklung der österreichischen Partei in ihrer Gesamtheit und die sozialpatriotischen separatistischen Tendenzen der galizischen Organisation in einem direkten Widerspruch zueinander. Die Stellung der galizischen Sozialisten verwandelt sich dadurch notwendig in ein Sitzen auf zwei Stühlen, wie schon ihre Zustimmung zu den Beschlüssen des Parteitags in Prag und die Annahme eines dem Charakter derselben schroff zuwiderlaufenden Maibeschlusses auf der Landeskonferenz ein solches Sitzen darstellt. Die schließliche Lage derer, die auf zwei Stühlen sitzen wollen, wenn die Stühle immer weiter auseinander rutschen, ist leicht abzusehen.

Im Interesse der polnischen Bewegung liegt es also, allen diesen nationalistischen Schwankungen ein Ende zu machen. Ein materieller Boden zur Aufstellung eines spezifisch polnischen Arbeiterprogramms existiert in Deutschland und Österreich nicht, auch die nationalen Verfolgungen in Deutschland können keinen solchen abgeben. Im Gegenteil: Der einzige Weg, für alle Interessen des polnischen Arbeiters erfolgreich zu kämpfen, liegt für die polnischen Sozialisten darin, dass sie sich vollständig auf den Boden des gemeinsamen politischen Programms mit der deutschen resp. österreichischen Sozialdemokratie stellen und, die vorhandenen Staatsgrenzen als eine geschichtlich gegebene Tatsache hinnehmend, gänzlich auf die Utopie verzichten, durch die Kräfte des Proletariats einen polnischen Klassenstaat zu errichten. Dadurch nur können sie ihrerseits den Moment beschleunigen, wo der endgültige Sieg des Proletariats auch die polnische Nation gänzlich befreien wird.L

A Bulletin off., Nr. 1, S. 3.

B Bulletin off., Nr. 1, S. 4.

C Bulletin officiel, Nr. 1, S. 4: „Nos amis de ces deux parties de la Pologne (Galizien und Preussisch-Polen) ne peuvent pas arborer ouvertement leurs tendances séparatistes sans encourir des graves condamnations pour crime de haute trahison. Mais ils les ont suffisamment indiquées – au moins pour ceux, à qui ils s'adressent – par les réserves faites à propos de l'organisation du prolétariat polonais au congrès autrichien de 1893 par la constitution en Allemagne d'un Parti socialiste Polonais autonome et fédéré (?) seulement avec le parti allemand, au lieu d'une simple section de celui-ci, qui existait précédemment, et par les déclarations de son représentant au congrès de Cologne." Was das letztere speziell betrifft, so hat der polnische Delegierte Nikulski auf dem Kölner Parteitag nur erwähnt, seine Partei wolle die Unabhängigkeit Polens „im sozialistischen Sinne des Wortes" anstreben. Dass diese Worte nur die Befreiung der polnischen Nation durch den Sieg des Sozialismus und keineswegs ein unmittelbares politisches Programm bedeuten konnten, beweist schon der Umstand, dass Nikulski gleichzeitig erklärte, die polnische Partei habe das Erfurter Programm beibehalten. Die Redaktion der Londoner sozialpatriotischen Zeitschrift „Przedświt", der wir den Inhalt der Rede von Nikulski entnehmen (1893, Nr. 11. Im deutschen Protokoll des Kölner Parteitags ist sie nur abgekürzt wiedergegeben.), findet diese Äußerung des polnischen Delegierten, betr. das Erfurter Programm, ungenau. Uns kommt es jedoch hier nicht auf die Meinung dieser oder jener Redaktion an, sondern darauf, was der Delegierte wirklich erklären zu dürfen glaubte, und vor allem auf die Tatsache, dass die getane Äußerung von berufener Seite weder rektifiziert wurde noch auch rektifiziert werden konnte, da die polnischen Genossen in Deutschland auf ihren Konferenzen sich weder von dem Erfurter Programm losgesagt noch ein anderes Programm angenommen haben. Deshalb bleiben auch die Behauptungen des Bulletins mit den Tatsachen im Widerspruch.

D Bulletin off., Nr. 1, S. 7. Es ist überflüssig, erst zu betonen, dass dies nur eine freie Auslegung ist, da doch die Wahlagitation im Jahre 1893 in ganz Deutschland von der deutschen Partei geleitet wurde, und die deutschen sozialdemokratischen Wahlschriften enthielten bekanntlich kein Wort über die Wiederherstellung Polens.

E Bulletin off., Nr. 1, S. 7.

F Siehe den Bericht des galizischen Parteiorgans „Naprzód", abgedruckt in dem „Przedświt", 1895, Nr. 10 u. 11. Desgleichen die galizische Korrespondenz in „Le Socialiste", Organe du parti ouvrier, Nr. 41 vom 12. Januar 1896.

G Siehe die Rede von Daszyński in dem Bericht des Krakauer „Naprzód": „Das polnische Proletariat hat die Bedeutung der Maifeier gebührend zu schätzen gewusst, die für dasselbe noch diese Bedeutung hat, dass sie es in ein einziges Ganzes vereinigt. Die polnischen Arbeiter der drei Teile Polens empfinden an diesem Tage tiefer als je ihre Zusammengehörigkeit. Daher muss die Maifestschrift so redigiert werden, dass sie uns gerade diese Seite der Feier vor die Augen führt, sie muss daher auch für alle Polen gemeinsam sein!" Abgedruckt im Londoner „Przedświt", Nr. 10 u. 11, Jg. 1895. Siehe auch den Pariser „Socialiste" vom 12. Januar 1896.

H Siehe die Rede von Nikulski auf dem Kölner Parteitag, in dem Berichte des Londoner „Przedświt", 1893, Nr. 11, auch den von einem Anhänger der Sonderorganisation geschriebenen Leitartikel in der Züricher „Arbeiterstimme", 1895, Nr. 5.

I Fr. Engels: Kann Europa abrüsten? Nürnberg 1893, S. 18-23.

J l. c, S. 20.

KNos amis de ces deux parties de la Pologne ne peuvent pas arborer ouvertement leurs tendances séparatistes sans encourir des graves condamnations pour crime de haute trahison." Bulletin off., Nr. 1, S. 4.

L Nachdem der obige Artikel geschrieben war, ist uns in dem allemanistischen Organ „Le Parti ouvrier" in Paris der Entwurf einer Resolution zu Gesicht gekommen, die dem Internationalen Kongress in London, offenbar von sozialpatriotischer Seite, unterbreitet werden soll und die die Wiederherstellung Polens im Interesse des Proletariats für notwendig erklärt. Diese Resolution hat offenbar Daszyński im Auge gehabt, als er auf dem Prager Kongress einen „von den Polen gegen den Zarismus eingebrachten Protest" erwähnte. Durch eine Sanktion des internationalen Proletariats sollen somit die polnischen Parteien zur entschiedenen Aufnahme der sozialpatriotischen Forderung in ihr politisches Programm aufgemuntert werden. Angesichts dessen erscheint die kritische Beleuchtung dieses Programms vom sozialdemokratischen Standpunkt um so zeitgemäßer.

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