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Rosa Luxemburg 18961124 Zur Orientpolitik des „Vorwärts"

Rosa Luxemburg: Zur Orientpolitik des „Vorwärts"

[erschienen in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 273 vom 25. November 1896, nach Gesammelte Werke, Band 1/1, Berlin 1970, S. 69-73]

Dresden, 24. November

Eine Entgegnung auf die „Erklärung" des Genossen Liebknecht im „Vorwärts" vom 11. d. M., die ich am 14. d. M. an die Redaktion des „Vorwärts" geschickt habe, ist bis jetzt weder abgedruckt noch von der Redaktion irgendwie beantwortet worden, was wohl der Ablehnung gleichkommt. Ich hoffe, dass die Redaktion der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung" mir die Veröffentlichung der nachfolgenden Entgegnung nicht verweigern wird, um die von Liebknecht so streng kritisierte Stellungnahme in der Orientfrage, die ich in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung" vertrat, hier auch verteidigen zu können.

Kraft einer seltsamen Logik des Schicksals hat die an den „Vorwärts" gerichtete Interpellation einer Berliner Versammlung in der armenischen Frage zur Folge gehabt, dass Genosse Liebknecht mit meinen Artikeln in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung" über das nämliche Thema streng zu Gerichte zog und mich zum Schluss aus der orientalischen Frage ausgewiesen und in das Gebiet der „polnischen Gräuel" verbannt hat. Meine Artikel bieten nach Genossen Liebknecht einerseits nichts Neues, da es „dem jüngsten Abc-Schützen des Sozialismus klar sein" dürfte, „dass der armenische Aufstand mit wirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt", anderseits aber stellen sie nichts als eine sozialistische Schabionisierung der Angaben der Gladstoneschen und der russischen Presse dar, welche auch von jedem Genossen in Deutschland hätte fertiggebracht werden können.

Was den Zusammenhang der politischen und nationalen Bewegungen mit wirtschaftlichen Ursachen betrifft, so wage ich keinen Augenblick zu zweifeln, dass es dem Genossen Liebknecht überhaupt klar ist, da ja nach Liebknecht „sogar (?!) die Raubkriege der rückständigsten afrikanischen Stämme auf ökonomische Ursachen zurückzuführen" sind. Nur erscheint ihm offenbar der ökonomische Faktor „hinten in der Türkei" in einer eigentümlichen orientalischen Gestalt, nämlich nicht als die innere wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, sondern als der russische Rubel. Denn so lesen wir z. B. in einer Notiz des „Vorwärts" vom 6. September d. J. wörtlich: „Die nationalen und religiösen Gegensätze, von denen früher nichts zu verspüren war, spitzen sich mehr und mehr zu, und die Griechen und Armenier, die im Laufe der Jahrhunderte in den Besitz fast allen Reichtums und fast aller Ämter gekommen waren, sind auf einmal ,unterdrückt'! … Und das alles, seit die europäische Diplomatie sich in die türkischen Angelegenheiten eingemischt hat und in der Türkei ein Beuteobjekt und den Spielball politischer Intrigen erblickt." Oder in einer anderen Notiz, wo uns versichert wird, dass die Armenier samt und sonders ein lumpiges Volk sind, welches überall verhasst ist, in einer dritten, dass die Gräuel überhaupt nur auf dem Papier existieren, in einer vierten, dass Salisbury der einzige Mann wäre, im Orient Ruhe zu schaffen etc. etc. Der russische Rubel ist zweifellos an sich etwas rein „Ökonomisches". Wenn ihn jedoch der „Vorwärts" zum historischen Grundfaktor macht, so reduziert er die ganze moderne Geschichte des Orients auf eine einzige große Bestechung, auf ein diplomatisches Intrigenspiel, d. h. auf etwas, das nur in einem dichten Nebel, wo alle Katzen grau sind, für „ökonomische Verhältnisse" angenommen werden kann.

Es kam aber überhaupt gar nicht darauf an, die wohlfeile Entdeckung zu machen, dass der armenischen Bewegung irgend etwas „Ökonomisches" zugrunde liegt. Das wäre in der Tat nichts als eine „Schablone". Es kam darauf an, aus den bekannten, aber gewöhnlich zerstreut und ohne Zusammenhang dargestellten Tatsachen des sozialen Lebens der Türkei ihre ökonomische Entwicklung zu rekonstruieren, die innere Triebfeder derselben und die Richtung aufzuzeichnen und daraus einerseits die politischen Folgen, anderseits die Interessen der Sozialdemokratie im Orient abzuleiten, kurz – nicht die Geschichte der Türkei aus dem russischen Rubel, sondern umgekehrt den russischen Rubel aus der Geschichte der Türkei zu erklären, und nicht die Ereignisse in unsere verknöcherten Losungen einzuzwängen, sondern umgekehrt unsere Lösungen den lebendigen Ereignissen anzupassen. Von diesem Standpunkt ausgehend, musste man zu dem Schluss gelangen, dass der Zerfall der Türkei nur eine naturnotwendige Konsequenz ihrer inneren ökonomischen Zersetzung ist, die ihrerseits von der Geldwirtschaft und dem modernisierten Staatsapparat herbeigeführt wurde, dass uns ferner dieser Prozess, den wir nicht aufhalten können, sehr nützlich ist, da er uns in der von ihren christlichen Beschützern befreiten Türkei wie in den von türkischem Druck befreiten Balkanstaaten eine starke Waffe gegen die russischen Gelüste im Orient bereitet. – Es mag wohl sein, dass meine Artikel – wie Genosse Liebknecht meint – kein Licht auf diese Fragen geworfen haben, das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass der „Vorwärts" jedenfalls in dieser Richtung nur ein langes Sündenregister aufzuweisen hat. Die ganze Schwäche seiner Haltung scheint uns nämlich in dem zu liegen, worin der Genosse Liebknecht ihre stärkste Seite erblickt: Er hat die orientalische Frage – im Gegensatz zu uns – aus eigener Anschauung (worunter er den Umgang mit Karl Marx und die Schule des genialen Urquhart in London versteht), und zwar zur Zeit des Krimkrieges studiert. Seit dem Krimkriege sind aber volle vierzig Jahre verflossen, und manches hat sich seitdem im Himmel und auf Erden verändert. Russland ist seitdem aus einem naturalwirtschaftlichen zu einem kapitalistischen Land und aus einem politischen Aschenbrödel zum Herrscher Europas geworden. Die Türkei ist seitdem zur Geldwirtschaft übergegangen. Seitdem waren der Krieg von 1877 und der Berliner Kongress [1878]. Seitdem sind Rumänien, Serbien und Bulgarien, Bosnien und Herzegowina von der Türkei abgefallen. Die eigentliche ökonomische Zersetzung der Türkei, welche zu der politischen Auflösung geführt hat, ist erst nach dem Krimkriege zur vollen Entfaltung gekommen. Anderseits hat auch die russische Diplomatie erst aus der Erfahrung mit der Unabhängigkeit Bulgariens, Rumäniens, Serbiens, also erst in den 80er Jahren, die politische Lehre ziehen können, dass ihr die stufenweise Zerbröckelung der Türkei schädlich ist, dagegen die Integrität derselben bei der gegebenen inneren Zerrüttung bis zu gewisser Zeit große Dienste leisten kann. Die Lage der Dinge in der orientalischen Frage hat also sowohl in materieller wie infolgedessen in politischer Beziehung seit dem Krimkrieg eine Verschiebung um volle 180 Grad erlitten und eine direkt entgegengesetzte Stelle zu derjenigen von dazumal eingenommen. Da sich aber so die Dinge aus der Zeit des Krimkrieges zu ihrer eigenen Antithese entwickelt haben, mussten notwendig die Ideen aus jener Zeit in Gegensatz zu den heutigen Dingen und zugleich zu ihren eigenen ehemaligen Ausgangspunkten geraten.

Die ganze ehemalige orientalische Politik der Sozialisten war auf Russland abgezielt. Russland strebte weiland den Zerfall der Türkei an, die Sozialisten wahrten daher ihre Integrität. Heute will umgekehrt Russland einstweilen die Integrität der Türkei wahren. Da sich aber der „Vorwärts" in die alte Politik verbeißt und bei jeder Regung auf der Balkanhalbinsel für die Integrität der Türkei Alarm schlägt, so verfällt er in die folgende originelle Lage:

Erstens erscheint die Frontänderung Russlands vom Standpunkte der sozialistischen Politik von 1855 ganz unerklärlich, daher glaubt sie der „Vorwärts" für „falsche Vorspiegelung" ansehen zu müssen, und da ihm die alten russischen Intrigen im Kopfe sind, macht er beharrlich immer wieder das alte russische Diplomatenspiel in allen ihm heute direkt widersprechenden Ereignissen ausfindig.

Zweitens ist ihm die ganze wirkliche Entwicklung in der Türkei, welche zu Aufständen und zur Auflösung führt, nichts als eine unliebsame, störende Tatsache, daher wird sie einfach geleugnet. Die Metzeleien werden als eine Lüge, die Aufständischen als ein nichtswürdiges Volk und der Aufstand als ein Theaterstück erklärt.

Mit einem Wort: Aus lauter Feindschaft gegen Russland ist der „Vorwärts" in die gleiche Stellung mit der russischen Diplomatie geraten; indem er die eingebildeten Pläne Russlands zu durchkreuzen sucht, wird er zum unbewussten Befürworter seiner wirklichen Pläne, und da die wirklichen Ereignisse seine Einbildungen stören, so erklärt er einfach die Wirklichkeit für Einbildung.

Es mag sein, dass vom Standpunkte dieser Politik, d. h. vom Standpunkte des Krimkrieges, meine Auffassung der Orientfrage russenfreundlich erscheinen kann. Dass aber die Orientpolitik des Genossen Liebknecht vom heutigen Standpunkt „ein Dienst wider Willen dem ,Hort des europäischen Absolutismus'" ist, das scheint mir ganz zweifellos. Liebknecht und russenfreundliche Politik! – Das klingt wie ein schlechter Scherz. Aber solche schlechten Scherze weiß einem die Geschichte zu machen, denn es ist wiederum „jedem Abc-Schützen des Sozialismus klar", dass mit der Zeit „Vernunft wird Unsinn, Wohltat – Plage".

Genosse Liebknecht gibt mir am Ende zu verstehen, dass ich, indem ich mich mit der orientalischen Frage befasst habe, gewissermaßen in seine Domäne eingedrungen bin und dass ich besser täte, mich nur mit den Gräueln in Polen zu beschäftigen. Dies wäre jedenfalls eine neue, den Geschichtsschreibern bis jetzt unbekannte fatale Folge des Krimkrieges, dass in den Sachen, in welchen Genosse Liebknecht zu Zeiten desselben sich eine Meinung gemacht, keine Seele mehr den Mund auftun darf. Am allerwenigsten ist aber eine so strenge „Teilung der Gewalten" beim Genossen Liebknecht angebracht, der ja gerade uns polnischen Sozialdemokraten so arg in die Suppe gespuckt hat, indem er mit Redensarten aus der Zeit des Krimkrieges dem polnischen Nationalismus Vorschub leistete und so in einer unter polnischen Sozialisten strittigen Frage Partei ergriff, die er weder aus eigener noch aus fremder Anschauung, weder aus der Gladstoneschen noch aus einer anderen Presse kennt.

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