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Rosa Luxemburg 18950200 Der Kampf gegen den Sozialismus in Belgien

Rosa Luxemburg: Der Kampf gegen den Sozialismus in Belgien

[Erschienen in der „Sprawa Robotnicza" (Arbeitersache). Paris Februar 1895. Deutsch nach Gesammelte Werke Band 4 1928, S. 312-314]

In den beiden letzten Jahren waren anarchistische Anschläge außergewöhnlich häufig. Das ist nicht verwunderlich. In einer Gesellschaft, die so von oben bis unten durchfault ist, in einer Gesellschaft, in welcher Elend, Verfolgungen, Ausbeutung blühen und gedeihen, in einer derartigen Gesellschaft ist es nur zu sehr begreiflich, wenn sich Leute mit heißer Seele finden, Leute freilich, die nicht weit genug sehen, die nicht fähig sind, den alltäglichen, ständigen, unermüdlichen Kampf kaltblütig und mit Überlegung zu führen –, und die aus diesem Grunde mutige, sogar heldenhafte, jedoch fruchtlose, weil unvernünftige Taten vollbringen. Solche Taten sind die der echten Anarchisten. – Die Regierungen und die Polizei haben jedoch gelernt, diese Attentate zu ihrem Nutzen auszubeuten. Es unterliegt heute keinem Zweifel mehr, dass Polizeiagenten wiederholt in Frankreich, in Spanien, in Italien zu derartigen Attentaten angestiftet haben. Manchmal tun es die Spitzel aus eigenem Antriebe, um des materiellen Gewinnes willen, manchmal ist es wiederum sehr bequem für die Regierung, wenn durch terroristische Akte die öffentliche Aufmerksamkeit vom Verhalten der Regierung abgelenkt wird. So geschahen zum Beispiel in Italien, als die politischen Geschäfte des schuftigen Ministers Crispi am schlechtesten standen, ununterbrochen Bombenexplosionen, ja – sogar ein ungeschicktes Attentat auf seine Exzellenz selber wurde unternommen.

Um solche Beweggründe handelte es sich auch bei den Attentaten in Belgien, die jetzt 13 Personen auf die Anklagebank brachten, von denen zwei zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurden, zwei zu zehn Jahren, eine zu vier Jahren, zwei zu drei und eine (eine Frau) zu sechs Monaten.

Die Sache verhielt sich nach der Aufklärung durch den Prozess folgendermaßen: Im Frühling des Jahres 1894 bereitete sich die belgische Arbeiterbevölkerung zu einer großen politischen Aktion vor. Das allgemeine, wenn auch ungleiche Wahlrecht war endlich erkämpft worden; es handelte sich nun um die Anwendung dieser Waffe während der Wahlen. Die energische und zielbewusste, geschickte Agitation, die unseren belgischen Genossen einen so prächtigen Sieg einbrachte, erfüllte die Bourgeoisie, die Regierung und die Polizei mit Schrecken. Es musste unbedingt etwas geschehen, um die Aufmerksamkeit abzulenken, um die öffentliche Meinung gegen die Arbeiter einzunehmen. Nun, so ein Mittelchen fand sich: mal hier, mal dort begannen Bomben zu explodieren, die zwar keinen Schaden anrichteten und die größtenteils sogar noch mit brennender Lunte, ehe sie zur Explosion gelangten, gefunden wurden.

Die Öffentlichkeit schenkte diesen Begebenheiten jedoch keine Aufmerksamkeit, sie kennt diese Kunststücke bereits zu genau. Erst am 3. Mai erfolgte in Lüttich eine Explosion, durch die zwei Menschen, und auch diese bloß zufällig, verwundet wurden. Die Bombe war vor ein Haus gelegt worden. Der Hauseigentümer und sein Bruder kehrten aus dem Theater zurück, erblickten die glimmende Lunte, sie traten näher, die Bombe explodierte und verwundete sie im Gesicht.

Selbstverständlich rief dies keine kleine Panik hervor, jedoch beruhigte man sich bald, da die Untersuchung aufdeckte, dass alle diese Attentate von einem internationalen Spitzel und Provokateur, einem Polen von Geburt, mit Namen Jaholkowski, angestiftet worden waren. Dieser Schuft war in der Schweiz, in Frankreich, in London gesehen worden; er trat unter dem Namen eines Baron von Ungern-Sternberg auf, besaß Papiere auf diesen Namen, die er, nach der Meinung der einen, gestohlen oder, nach der Meinung anderer, aus der russischen Gesandtschaft erhalten hatte, besaß immer eine Menge Geld, suchte immer in revolutionäre Kreise einzudringen; unter der russischen und polnischen Emigration erschien er immer verdächtig und musste sich stets von einem Ort zum anderen verduften. Es stellte sich heraus, dass er der unmittelbare Urheber dieser Attentate war. Man begann nach ihm zu fahnden. Schon war ihm die Polizei auf der Spur, da plötzlich – war er verschwunden; er zeigte sich an einem anderen Ort und – verschwand; endlich wurde er angeblich in Rumänien gefasst und dort …. nicht etwa dem belgischen Gericht, sondern der russischen Regierung ausgeliefert. Der Hecht wurde bestraft, indem man ihn ins Wasser warf! Selbstverständlich versagte die russische Regierung der belgischen die Auslieferung und sandte nur seine Aussage, die er angeblich in einem russischen Gefängnis gemacht haben sollte. Es wurde entdeckt, dass er bedeutende Summen von der russischen Gesandtschaft in Paris erhalten hatte, dass er sich auch dem russischen Konsul in Amsterdam vorgestellt und ihm gesagt hatte, er sei von der russischen Regierung gesandt worden, die Revolutionäre im Auslande zu beobachten. Dies sagte der Konsul vor dem Untersuchungsrichter aus, als man ihn jedoch abermals verhören wollte, berief er sich auf das Gesetz, das den Konsuln gestattet, Zeugenaussage in politischen Angelegenheiten zu verweigern, und man ließ ihn in Frieden. – Angesichts dessen ist es heute unmöglich, die ganze Wahrheit zu erfahren, es bleiben nur Vermutungen. Die wahrscheinlichste, weil einfachste, ist folgende Vermutung: Jaholkowski ist, als russischer Spitzel, zu der belgischen Polizei in Beziehung getreten und hat dieser seine Dienste angeboten. Diese erteilte ihm den Auftrag (vielleicht war dieser nicht so weitgehend), er solle auch ihr Dienste erweisen, indem er Leute in anarchistische Attentate verwickelte. Er überredete also mehrere leichtgläubige Leute, die ihm halfen, Dynamit zu stehlen, Bomben zu fabrizieren, Attentate zu veranstalten. Diese Unglücklichen traf ein furchtbares Los. Der Spitzel dagegen sitzt in Russland und schnüffelt unter anderem Namen nach neuen Opfern im Auslande.

Dieser Prozess ist eine furchtbare Anklage gegen das heute herrschende Regime in allen Ländern. Er zeigt nachdrücklicher als vieles andere, dass die Regierungen nur mit Hilfe des Verbrechens den Sozialismus bekämpfen können, dass die gegenwärtige Ordnung nur noch durch das Verbrechen bestehen kann.

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