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Rosa Luxemburg 19020422 Die Ursache der Niederlage

Rosa Luxemburg: Die Ursache der Niederlage

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 22. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 334-336]

Wir haben also in Belgien eine Niederlage; es ist unnütz und zwecklos, es zu vertuschen. Wir pflegen zwar zu behaupten: für uns Sozialdemokraten gibt es keine Niederlagen. Und diese Behauptung ist in einem bestimmten Sinne vollkommen wahr. Es kann nämlich dem kämpfenden klassenbewussten Proletariat von keiner feindlichen Macht der Welt eine Niederlage bereitet werden. Erliegt die Sache der Sozialdemokratie auch für einen Augenblick der Übermacht des Feindes, so reckt sie sich im nächsten Augenblick um so gewaltiger in die Höhe, und das, was die triumphierende bürgerliche Welt in ihrem momentanen Siegestaumel für unsere Niederlage hielt, erweist sich sehr bald als unser Sieg. So war es mit der Niedermetzelung der Kommune, so war es mit dem Sozialistengesetz.

Aber eine Niederlage im vollen Sinne des Wortes ist es für uns, wenn wir nicht der Übermacht der Gegner erliegen, wenn wir, ohne es zu einer Machtprobe überhaupt kommen zu lassen, vor dem entscheidenden Kampfe uns für Besiegte erklären. Und das ist leider in Belgien jetzt der Fall gewesen.

Wir sind geschlagen!" erklärte Vandervelde den Arbeitermassen im Volkshause am Freitag abend, nach der Verwerfung der Verfassungsrevision im Parlament.

Noch nicht!" antwortete man ihm aus der Menge.

Was tun?" fragte weiter der belgische Parteiführer.

Siegen auf der Straße!" rief man zur Antwort aus dem Haufen.

Es ist zu früh oder zu spät," sagte darauf Vandervelde. „Wir Sozialisten müssen das Wort des Evangeliums aufnehmen: Du wirst nicht töten!" „Aber", führte der Führer weiter aus, „der Kampf wird fortgeführt, hartnäckiger, grandioser, fester denn je. Der Streik wird, wenn er fortdauert, von endgültiger Wirksamkeit sein. – Das Wort gehört dem König. – Wir warten, Gewehr bei Fuß."

Die Fortsetzung des Generalstreiks war also die von den sozialistischen Führern gleich nach der parlamentarischen Niederlage ausgegebene Parole. Am Freitag beschloss noch der Generalrat der Arbeiterpartei einstimmig die Fortsetzung des. Generalstreiks. Am Sonnabend schrieb noch das Zentralorgan der belgischen Sozialdemokratie, der Brüsseler „Peuple":

Wenn die belgischen Arbeiter fest und um jeden Preis entschlossen sind, die Niederlage nicht zu akzeptieren, solange sie noch Atem in der Brust, Energie im Herzen haben, so sagen wir ihnen: Legt die Waffen nicht ab! Trotz Leiden, Opfern, Drohungen des Elends, haltet aus in dem heiligen Streik des allgemeinen Wahlrechts! Bleibt aufrecht stehen, damit man euch wenigstens unter dem Drucke der liberalen Bourgeoisie und aller offiziellen Vertreter des Handels und der Industrie die legale Befragung des Landes über das Allgemeine Wahlrecht zugesteht.

Leiden, Opfer, Elend, wir wollen sie mit euch teilen, und ein wunderbarer Elan der Solidarität unter verschiedenen Klassen und Nationen beginnt sie ja bereits zu mildern!

Genossen, gebt nicht nach! Setzt den Generalstreik fort und erhebt überall einen mächtigen Ruf nach der Parlamentsauflösung!

Die Auflösung des Parlaments ist freilich keine Lösung! Aber die Auflösung, das ist die Revisionsfrage, gestellt in ihrer ganzen Größe vor dem Lande am 25. Mai, und wir haben die unerschütterliche Sicherheit, dass dies doch den endgültigen Sieg des allgemeinen Wahlrechts bedeuten würde!

Wir alle, die wir so die Buren bewundert haben, belgische Arbeiter, werden wir es denn nicht verstehen, ihnen in moralischer Größe, in der Selbstaufopferung gleichzutun?

Die Fortsetzung des Generalstreiks, das ist die Rettung des allgemeinen Wahlrechts, das ist die künftige Revanche, das ist der schließliche Sieg des Volksrechts, trotz alledem!

Es lebe der Generalstreik!

Es lebe das allgemeine Wahlrecht!

Es lebe die Parlamentsauflösung!"

Das war die Sprache, das war die Losung des Brüsseler Parteiorgans noch am Sonnabend! Und Sonntag früh beschließt der Generalrat der Partei, – den Streik plötzlich aufzulösen, die „mit Gewehr bei Fuß" stehenden 350.000 Arbeiter nach Hause zu schicken!

Ein krasserer Widerspruch zwischen den Worten Vanderveldes im Volkshause, zwischen den Brandartikeln des „Peuple" und dem darauffolgenden Beschluss des Parteivorstandes kann wohl nicht gedacht werden, ein plötzlicherer Umfall von einem Tag auf den anderen ist wohl in der Geschichte der modernen Arbeiterkämpfe nicht erlebt worden.

Was war denn geschehen? Welche plötzlich eingetretene neue Wendung in der Sachlage hatte jene schroffe Frontänderung herbeigeführt und die Parteiführer mit einem Male zur Umkehr blasen lassen? Wurde die erwähnte Parlamentsauflösung etwa proklamiert? Oder machten sich etwa in den Reihen der streikenden Massen bereits Zeichen der Ermüdung und der Demoralisation bemerkbar? Oder aber gingen die Mittel des Kampfes zur Neige und galt es, dem äußersten Elend vorzubeugen?

Nichts von alledem! Der so viel Mal um die Auflösung des Parlaments angeflehte König schwieg und schweigt immer noch. Die streikenden Arbeitermassen aber waren noch am Sonnabend, noch am Sonntag im Zustande der größten Begeisterung, des heroischen Entschlusses, der glühendsten Kampfbereitschaft. Die kleine von uns aus dem Bericht des „Peuple" herausgerissene Szene der grandiosen Volksversammlung vom Freitag Abend zeigt uns die Arbeiterschaft strotzend vor Kraft, zitternd vor Ungeduld, um in den Kampf zu treten, entschlossen zu allem. Und was die Mittel betrifft, so begannen ja die Unterstützungen erst in kräftiger Welle zu fließen, der Opfermut der Arbeiterschaft in Belgien selbst, in Deutschland, überall, nahm erst einen kolossalen Anlauf, und die belgischen Genossen konnten mit Sicherheit noch auf eine lang währende Hilfe des internationalen Proletariats rechnen.

Was also war die Ursache der unerklärlichen Kapitulation? Die einzige Antwort darauf gibt uns das am Sonnabend Abend von den Progressisten-Liberalen in ihrer Vorstandssitzung angenommene Manifest, in dem es heißt:

Der Generalrat der Progressistischen Föderation …. beschwört die Arbeiterklasse, auf die Provokationen der Regierung mit politischer Klugheit zu antworten und, um keinen Vorwand zu neuen Repressalien und neuen Massakers zu liefern, den Generalstreik einzustellen, dessen Zweck erreicht ist, da er mit Augenscheinlichkeit den festen Willen der Arbeiterklasse gezeigt hat, das gleiche Wahlrecht zu erringen."

Dies war also die klare Ursache der Frontänderung der belgischen Parteiführer. Die Masse wollte ausharren. Sie war zu jedem Opfer bereit. Die Führer erklärten selbst die Fortsetzung des Generalstreiks für absolut notwendig, aber die Bourgeoisie beschloss: Waffen nieder! Und die Sozialisten parierten aufs Kommando der „Alliierten".

Die belgische Niederlage ist also das Werk der Liberalen. Die auf einem Kompromiss von Anfang an beruhende Allianz mit den Liberalen hat die Sozialisten zu deren willenlosem Werkzeug gemacht. Dank der Allianz wurden die Sozialisten in dem erschütternden Drama der letzten Wochen in Belgien nur zum Medium (Mittel), durch das die Liberalen das Proletariat an der Leine führten, bis sie es – zur Niederlage geführt haben.

Es ist ein trauriges Ergebnis, aber auch dieses wird schließlich nicht so traurig sein, wenn es den belgischen Genossen und uns allen als Warnung, als Lehre dient!

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