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Rosa Luxemburg 19020404 Eine taktische Frage

Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 4. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 315-319]

Als in unseren Reihen vor einigen Jahren die Frage der Allianzen mit bürgerlichen Parteien besonders lebhaft diskutiert wurde, da pflegten sich die Verteidiger politischer Bündnisse auf das Beispiel der belgischen Arbeiterpartei zu berufen. Ihre Allianz mit den Liberalen im langjährigen Kampfe um das allgemeine Wahlrecht sollte als Exempel dazu dienen, um die zeitweilige Notwendigkeit und politische Unverfänglichkeit von Bündnissen zwischen der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Demokratie zu demonstrieren.

Der Beweis war schon damals verfehlt, denn wem die ständigen Schwankungen und die wiederholten Verrätereien der belgischen Liberalen an ihren proletarischen Kampfgenossen nicht bekannt waren, der konnte durch die Erfahrungen Belgiens nur zu dem größten Pessimismus in Bezug auf die Unterstützung der Arbeiterklasse seitens der bürgerlichen Demokratie geführt werden. Heute liefern uns die Beschlüsse des jüngsten Parteitags der belgischen Sozialdemokratie einen neuen und sehr wichtigen Beitrag zur Beurteilung der Frage.

In diesem Augenblick steht das belgische Proletariat bekanntlich vor einem wichtigen Wendepunkt in dem seit fünfzehn Jahren mit äußerster Zähigkeit geführten Kampfe um das allgemeine Wahlrecht. Es schickt sich an, einen erneuten Ansturm gegen die klerikale Herrschaft und das Pluralwahlsystem vorzunehmen. Die lendenlahme liberale Bourgeoisie rafft sich unter dem Drucke der entschlossenen Arbeiterschaft gleichfalls zu einer Aktion auf und bietet der Sozialdemokratie die Hand zur gemeinsamen Kampagne.

Die Allianz wird aber diesmal wie ein regelrechtes Tauschgeschäft abgeschlossen: die Liberalen verzichten auf das Pluralwahlsystem und nehmen das allgemeine, gleiche Wahlrecht (ein Mann – eine Stimme) in Kauf, die Sozialdemokratie soll dafür das Proportionalwahlsystem als verfassungsmäßig verbürgten Wahlmodus in Kauf nehmen und auf die Forderung des Frauenstimmrechts sowie auf revolutionäre Mittel im Kampfe um das Wahlrecht verzichten. Die Brüsseler Föderation der Arbeiterpartei hatte bereits die Bedingungen der Liberalen in der Hauptsache angenommen, der Osterkongress der Sozialdemokratie Belgiens hat das politische Geschäft durch seine Zustimmung perfekt gemacht.

Es ist somit klar, und diese einfache Tatsache lässt sich nicht hinwegdisputieren, dass die Allianz oder richtiger der Kompromiss mit den Liberalen zu einem Verzicht der Sozialdemokratie auf einen ihrer Programmgrundsätze geführt hat. Freilich versichern die belgischen Genossen, dass sie nur „einstweilen" die Forderung des politischen Frauenstimmrechts fallen lassen, um sie nach dem Siege des allgemeinen Wahlrechts für Männer wieder aufzunehmen. Allein die Auffassung ist bis jetzt für die Sozialdemokratie aller Länder neu, wonach ihr Programm eine Art Menu darstellt, dessen einzelne Gerichte nur nach der Reihe verspeist werden. Und wenn die jeweilige politische Situation es mit sich bringt, dass die Arbeiterpartei in jedem Lande zeitweilig mehr agitatorisches Gewicht auf bestimmte ihrer Forderungen als auf die übrigen legt, so bleibt doch die Gesamtheit unserer Forderungen die ständige Grundlage unseres politischen Kampfes. Zwischen der zeitweiligen geringeren Betonung eines Programmpunktes und seiner ausdrücklichen, wenn auch zeitweiligen Aufopferung als Kaufpreis für eine andere Programmforderung liegt die ganze Strecke, die den grundsätzlichen Kampf der Sozialdemokratie von den politischen Manipulationen der bürgerlichen Parteien trennt.

Um eine Aufopferung des Frauenstimmrechts in Belgien handelt es sich aber tatsächlich. Die vom Brüsseler Kongress angenommene Resolution sagt zwar nur lakonisch: „Die nächste Verfassungsrevision soll auf das allgemeine Stimmrecht der Männer beschränkt werden." Allein, es ist zu erwarten, dass die Klerikalen während der Revision den formellen Gesetzentwurf des Frauenwahlrechts hineintragen, um einen Zankapfel zwischen die Liberalen und die Sozialdemokratie zu werfen; und für diesen Fall empfiehlt die Brüsseler Resolution den Abgeordneten der Arbeiterpartei, „dieses Manöver zu vereiteln" und „die Allianz der Anhänger des allgemeinen Wahlrechts aufrecht zu erhalten", das heißt auf gut deutsch: gegen das Frauenwahlrecht zu stimmen!

Die sogenannte Prinzipienreiterei ist gewiss eine üble Sache, und es würde uns nie einfallen, von irgendeiner Arbeiterpartei zu verlangen, dass sie um des abstrakten Programmschemas willen auf naheliegende praktische Vorteile verzichte. Allein hier, wie stets, sind es bloß Illusionen und nicht wirkliche praktische Vorteile, denen man die Prinzipien aufopfert. Hier, wie sonst, ist es bei näherem Zusehen bloß eine Einbildung, dass das Festhalten an unserer grundsätzlichen Politik für uns ein Hindernis zum irdischen Glück wäre.

In der Tat! Man behauptet, dass, falls die belgische Sozialdemokratie auf ihrer Forderung des Frauenstimmrechts beharren würde, dies zum Bruch mit den Liberalen und zur Gefährdung der ganzen Kampagne führen müsste. Wie wenig ernst jedoch die Arbeiterpartei im Grunde genommen die Bundesgenossenschaft der Liberalen und ihre Bedingungen nimmt, beweist das stillschweigende Achselzucken, mit dem sie die dritte Bedingung der Liberalen: den Verzicht auf revolutionäre Kampfmittel hingenommen hat. Es verstand sich für die belgische Sozialdemokratie von selbst, dass sie sich in Bezug auf die Mittel des Kampfes in keiner Weise die Hände binden lässt. Und zwar ließ sie sich dabei von der einzig, richtigen Überzeugung leiten, dass die eigentliche Kraft des Kampfes, die sichere Bürgschaft des Sieges nicht in der Unterstützung der schlotterbeinigen liberalen Bürgermeister und Senatoren, sondern in der Kampfbereitschaft der proletarischen Masse, nicht im Parlament, sondern auf der Straße liegt.

Es wäre auch gar sonderbar, hätte gerade die belgische Arbeiterpartei die geringsten Zweifel über diesen Punkt, nachdem sie ihre bisherigen Siege, die Abschlagszahlung des Pluralwahlsystems zum Beispiel, nur dem denkwürdigen Massenstreik und den drohenden Straßendemonstrationen der Arbeiterschaft verdankt. Ebenso wie damals wird aber die erste kühnere Regung des belgischen Proletariats auch diesmal auf die „liberale" Bourgeoisie wie ein Donnerwetter wirken, vor dem sich die „Alliierten" der Sozialdemokratie mit bewährter Geschwindigkeit ins Mauseloch des parlamentarischen Verrats verkriechen und das allgemeine Wahlrecht den Arbeiterfäusten überlassen wird. Auch diese schöne Aussicht ist für die belgische Arbeiterpartei nichts weniger als ein Geheimnis.

Wenn sie also trotzdem ruhig die dritte Bedingung des liberalen Pakts stillschweigend unter den Tisch schiebt und sich offen zu jeder Eventualität bereitet, so zeigt sie dadurch mit aller Deutlichkeit, dass sie die „liberale" Unterstützung selbst für das nimmt, was sie tatsächlich ist: eine zufällige und vorübergehende Kameradschaft auf einer Strecke des gemeinsamen Weges, die man wohl auf dem Marsch akzeptiert, der zuliebe man aber nicht einen Schritt vom vorgezeichneten Wege abweicht.

Dies beweist aber logischerweise, dass auch der angebliche „praktische Vorteil", dem man das Frauenstimmrecht geopfert hat, nur ein Popanz ist. Und es stellt sich dabei heraus, was auch anderwärts, auch bei uns, daheim, regelmäßig beobachtet werden kann, dass jedes Mal, wo luftige Kompromissobjekte auf Kosten unserer Grundsätze auftauchen, es sich in Wirklichkeit nicht um die eingebildeten „praktischen Errungenschaften", sondern um die Aufopferung von Programmforderungen handelt, die unseren „praktischen Politikern" im Grunde genommen an sich Hekuba, formalistischer Plunder sind, der nur solange mitgeschleppt und nachgebetet wurde, als er keine praktische Bedeutung hatte.

Das Frauenstimmrecht wurde in den Reihen der belgischen Sozialdemokratie nicht nur als Programmpunkt stets und allgemein an erkannt, sondern die Arbeitervertreter im Parlament votierten einstimmig dafür im Parlament im Jahre 1895. Allerdings hatte die Frage bis jetzt in Belgien wie sonst in den europäischen Ländern gar keine Aussicht auf Verwirklichung. Heute droht sie zum ersten Mal zu einer Frage der Tagespolitik zu werden und nun stellt es sich plötzlich heraus, dass in den Reihen der Arbeiterpartei durchaus nicht eine Meinung über die alte Programmforderung herrscht. Ja, noch besser, nach der Äußerung Dewines auf dem Brüsseler Kongress „nimmt die ganze Partei in der Frage des Frauenstimmrechts eine ablehnende Haltung ein"!

Das überraschendste Schauspiel bietet aber die Beweisführung der belgischen Sozialdemokraten gegen das Frauenstimmrecht. Es sind dies ganz dieselben Argumente, deren sich jetzt der russische Zarismus, denen sich weiland das deutsche Gottesgnadentum bediente, um sein politisches Unrecht zu rechtfertigen: „Das Volk ist noch nicht reif zur Ausübung des Wahlrechts…" Als ob es für das Volk eine andere Schule der politischen Reife geben könnte, als die Ausübung der politischen Rechte selbst! Als ob die männliche Arbeiterklasse nicht auch erst allmählich den Stimmzettel als Waffe ihrer Klasseninteressen zu gebrauchen gelernt hat und noch immer lernen muss!

Im Gegenteil, von der Hineinbeziehung der proletarischen Frauen in das politische Leben muss jeder klar Denkende über kurz oder lang nur einen mächtigen Aufschwung der Arbeiterbewegung erwarten. Nicht nur eröffnet diese Perspektive ein enormes neues Feld für die agitatorische Arbeit der Sozialdemokratie. Auch in ihr politisches und geistiges Leben müsste mit der politischen Emanzipation der Frauen ein starker frischer Wind hinein wehen, der die Stickluft des jetzt philisterhaften Familienlebens vertreiben würde, das so unverkennbar auch auf unsere Parteimitglieder, Arbeiter wie Führer, abfärbt.

Allerdings, in der ersten Zeit könnten ganz fatale politische Ergebnisse, wie die Stärkung der klerikalen Herrschaft, die Folge des Frauenstimmrechts in Belgien sein. Auch würde die gesamte Organisation und Agitation der Arbeiterpartei gründlich umgestaltet werden müssen. Mit einem Wort, die politische Gleichberechtigung der Frauen ist ein kühnes und großes politisches Experiment.

Allein, merkwürdigerweise lassen sich alle diejenigen, die für die „Experimente" in der Art Millerands1 die größte Bewunderung haben und den Mut dieser Experimente nicht hoch genug einschätzen können, nicht mit einem Worte des Tadels für die belgischen Genossen, die vor dem Experiment mit dem Frauenstimmrecht zurückschrecken, vernehmen. Ja, gerade der belgische Führer Anseele, der sich seinerzeit beeilte, als der Erste „dem Genossen" Millerand seine Glückwünsche zu dessen „kühnem" ministeriellen Experiment darzubringen, ist heute der entschiedenste Gegner aller Versuche mit dem Stimmrecht der Frauen in seinem eigenen Lande. Hier haben wir u. a. einen Beleg dafür, welcher Art jener „Mut" ist, den uns die „praktischen Politiker" gelegentlich empfehlen. Es ist dies offenbar nur der Mut, opportunistische Experimente mit der Preisgabe der sozialdemokratischen Prinzipien zu machen. Wenn es sich aber um eine kühne Anwendung unserer Programmforderungen handelte, so zeigen dieselben „praktischen Politiker" nicht die geringste Lust, durch Mut zu imponieren, und suchen vielmehr nach Vorwänden, um den betreffenden Programmpunkt „vorläufig" und unter „großem Schmerz" im Stich zu lassen.

1 Vergl. Gesammelte Werke, Band III, 1925. Seite 257 ff.

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