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Rosa Luxemburg 19020409 Purzelbäume der Taktik

Rosa Luxemburg: Purzelbäume der Taktik

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 9. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 320-322]

Die Verhandlungen der belgischen Kammer über die Wahlrechtsänderungen werden voraussichtlich in nächster Woche beginnen. Die Regierung selbst hat gestern diesen Zeitpunkt vorgeschlagen und der Führer der Linksliberalen, Huysmans, hat sich dem Vorschlag des Ministerpräsidenten angeschlossen.

Die Bewegung für die Verfassungsänderung hat, rein äußerlich betrachtet, in Belgien alles auf den Kopf gestellt. Sie hat die politisch rückständigste Partei, die Klerikalen, veranlasst, die revolutionärste aller Verfassungsänderungen, die Einführung des allgemeinen Frauenstimmrechts, zu fordern. Dagegen hat die programmatisch- revolutionäre Partei der Sozialisten das Eintreten für die Gewährung des Wahlrechts an die Frauen aus taktischen Gründen abgelehnt und, um die Verwirrung voll zu machen, wenden sich jetzt gar die sozialistischen Republikaner an die Intervention der Krone. Der sozialistische „Peuple" spielt ganz unbefangen den König Leopold für die sozialistischen Wahlrechtsanträge gegen die Regierung aus und spricht, selbstverständlich nach einigen Reserven im Sinne des republikanischen Programms, die Hoffnung aus, „dass gegen die Verbohrtheit der klerikalen Regierung seitens des Königs ein Wort des Friedens, der Weisheit und der Gerechtigkeit gesprochen werde". „Wir sind und bleiben Republikaner, aber sicher ist, dass durch ein solch versöhnendes Wort mehr für die Erhaltung der Monarchie getan würde, als durch die devoten Handlungen unserer Afterpatrioten. Wir messen den Reformen, die wir für das Volk fordern, viel zu große Wichtigkeit bei, als dass wir auf die Form einen besonderen Wert legten, selbst wenn es sich um die Form der Regierung handelt. Es gibt konservative, reaktionäre, beziehungsweise imperialistische Republiken, die weiter nichts waren und vielleicht noch nichts anderes sind als Oligarchien der Finanziers oder des Konfessionalismus: warum sollte man sich in dieser Periode der Entwicklung des Übergangs und des Ausgleichs nicht auch mit einer konstitutionellen Monarchie abfinden, welche sich in loyaler Weise einer ehrlichen und weitgehenden demokratischen Politik anpasste und die in keiner Weise versuchen würde, die Vorwärtsentwicklung aufzuhalten."

Die Berufung unserer belgischen Parteigenossen auf die Periode des Überganges und der Entwicklung hat gewiss manches für sich. Insbesondere die geschichtliche Erfahrung, dass in Zeiten der politischen Umwälzung sehr häufig die Parteien ihre Rollen zu vertauschen scheinen und konservative Parteiführer revolutionäre Programme durchführen, um regierungsfähig zu bleiben, während die oppositionellen Parteien ihre Absicht durchschauen und dieser politischen Prinzipienfälschung äußersten Widerstand entgegensetzen. Schon Arnold Ruge hat seinerzeit darauf hingewiesen, wie in dem großen englischen Machtkampf zwischen Tories und Whigs die Tories nur dadurch sich am Ruder halten konnten, dass sie das Programm der Whigs durchführten.

Später haben in Deutschland Bismarck und in England Disraeli fast gleichzeitig dieselbe Politik getrieben. Bismarck griff zum allgemeinen gleichen Wahlrecht mit dem ausgesprochenen Zweck, die Masse des deutschen Volkes, die er im Grunde für durchaus konservativ hielt, gegen die plutokratischen Bestrebungen der Bourgeoisie auszuspielen. Und in England machte Disraeli seinem toryistischen Parteigenossen die Wahlrechtserweiterungen mit der Begründung mundgerecht, „er wolle so tief graben, bis er wieder auf eine konservative Schicht stoße".

Die belgischen Klerikalen glauben nun, eine noch tiefer liegende konservative Bevölkerungsschicht gefunden zu haben: die Frauen. Und die Sozialisten widersetzen sich dieser Wahlrechtsänderung, deren Perfidie sie durchschauen, ebenso kurzsichtig als die Klerikalen sie befürworten. Denn zuletzt haben alle die konservativen Revolutionäre ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht, Bismarck würde heute das allgemeine gleiche Wahlrecht nie mehr geben, und die eifrigsten Hüter seiner Politik, die Konservativen und Scharfmacher, sind jetzt die geschworenen Feinde des Reichstagswahlrechts.

Aber auch die Hereinziehung der Krone als einer politischen Macht, die „über den Parteien" steht, ist nicht bloß prinzipiell, sondern auch taktisch höchst bedenklich. In Russland mag die Krone eine politische Macht, die ihren eigenen Schwerpunkt in sich selbst hat, repräsentieren; die Aufhebung der Leibeigenschaft ist seinerzeit wesentlich ein Akt des Despotismus gewesen. Allein der „König der Belgier", dessen Befugnisse rein verfassungsrechtlich äußerst bescheiden sind und dessen politische Macht noch viel winziger sein dürfte, ist kein Held für politische Aktionen, die auch unter demokratischen Formen immer den spezifisch cäsaristischen Geruch nicht los werden können. Der einzige, gewiss ungewollte Erfolg derartiger Purzelbäume kann nur der sein, König Cleopold1 für eine kleine Weile „populär" zu machen.

Der Appell unserer belgischen Parteigenossen an die Krone in dem Kampfe um die Verfassungsrevision steht auf derselben Höhe wie ihre Preisgebung des Frauenstimmrechts.

Die letzte Nachricht vom belgischen Verfassungskampf-Kriegsschauplatz lautet:

Brüssel, 8. April. Heute Abend kam es nach Schluss einer Versammlung, in der der sozialistische Abgeordnete Vandervelde eine Rede gehalten hatte, zwischen einer Masse von 1500 Sozialisten und der Polizei zu einem Zusammenstoß. Zwei Polizisten und ein Sozialist wurden verwundet. Ein Haufe der Manifestanten zog nach dem Palais des Prinzen Albert. Die Polizei sperrte die Straßen ab und schritt mit blanker Waffe ein. Drei Manifestanten wurden verwundet.

1 Spottname für Leopold II. mit Anspielung auf seine Maitresse Cléo

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