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Rosa Luxemburg 19020421 Steuerlos!

Rosa Luxemburg: Steuerlos!

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 21. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 331-333]

Die parlamentarische Phase des Kampfes in Brüssel ist zu Ende. Die Revision ist abgelehnt! Was nun? Fragt sich die gesamte klassenbewusste Arbeiterschaft der Welt, fragt sich jedermann, dessen Blut bei den stündlichen telegraphischen Nachrichten vom Kampfplatze rascher in den Adern rollt.

Wir schrieben in unserer vorletzten Nummer, die Stunde der Entscheidung würde im Laufe des Freitag nachmittags schlagen. An diesem Tage sollte nämlich in der Kammer der Antrag betreffend die Verfassungsrevision zur Abstimmung kommen. Die Situation schien wirklich den höchsten Punkt ihrer Spannung erreicht zu haben und eine neue Wendung im nächsten Augenblicke eintreten zu müssen. Darauf deutete auch die Haltung der sozialistischen Abgeordneten hin. Sie bekämpften die von der klerikalen Mehrheit bereits am Donnerstag beabsichtigte Ablehnung des Revisionsantrags mit solcher Verzweiflung, sie drohten mit so furchtbaren Folgen im Falle der sofortigen Erdrosselung der Diskussion über den Antrag, dass jedermann dabei voraussetzen musste: Hinter der Ablehnung der Revision stehe ein äußerster Entschluss der sozialistischen Partei im Hintergrund, der Schluss der parlamentarischen Phase würde sofort eine neue Phase des Kampfes eröffnen.

Und nun? Welches ist die Konsequenz, die die sozialistischen Führer aus der Ablehnung der Verfassungsrevision in der Kammer am Sonnabend gezogen? Welchen Entschluss haben sie für die Fortsetzung des Kampfes nun gefasst? Gar keinen! Die mit solchem Schrecken, mit so furchtbaren Drohungen von ihnen erwartete Ablehnung war ruhig erfolgt, und nichts ist geschehen, keine neue Wendung im Kampfe, kein Schritt vorwärts. Die streikenden Massen draußen harren; man verwies sie bis jetzt immer noch auf die in der Kammer vor sich gehende Katzbalgerei, man spannte ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Erwartungen auf den Ausgang der Kammerverhandlungen, und nun diese Verhandlungen den wohlerwarteten Ausgang genommen, dauert dieselbe Unentschlossenheit, dieselbe Unbestimmtheit. Ja noch besser. Nun versuchen die Führer offenbar auch noch den Generalstreik, der ihnen unerwartet und allem Anscheine nach auch unerwünscht kam, sich vom Halse zu schaffen und die 300.000 Arbeiter, die auf eine Entscheidung warten, einfach nach Hause zu schicken.

Nach einem Privattelegramm des „Berliner Tageblattes" vom 19.. verlas Vandervelde in dem großen Meeting im Volkshause, das nach jener Abstimmung in der Kammer stattfand, die folgende Erklärung der liberalen Alliierten: „Die Liberalen grüßen die feste und ruhige Haltung der Streikenden, beschwören sie jedoch, die Arbeit wieder aufzunehmen, um nicht unnötig das: Schwerste zu erleiden. Die nächsten Wahlen würden den Sieg der Opposition bringen." Diese Erklärung belobte der sozialdemokratische Führer in Ausdrücken, die darauf schließen lassen, dass auch der Vorstand der Arbeiterpartei im nächsten Augenblick mit derselben Aufforderung an die Arbeiter herantreten wird. Wir brauchen wohl unseren Lesern nicht erst zu sagen: nach der Niederlage in der Kammer nun auch noch den Generalstreik jetzt auflösen, heißt, die ganze Bewegung für jetzt ersticken und den großen Anlauf, den sie genommen, die lärmende Ouvertüre, mit der sie begonnen, „in einem schüchternen Knurren" aufgehen zu lassen. Fasst der Generalrat der Arbeiterpartei wirklich den Entschluss, die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit aufzufordern, dann ist der Kampf für den Moment verloren. Und zwar schmählich verloren, vor der entscheidenden Schlacht, ohne den eigentlichen Kampf. Denn alles, was wir bis jetzt sahen, waren erst lauter Präliminarien, lauter Vorbereitungen, lauter Kräfteentfaltungen, Exerzierübungen, Waffenputzen. Zum Gebrauch der Kräfte, ist es nicht gekommen, das Messer soll in die Scheide gesteckt werden, bevor es gebraucht, die angesammelte Energie in leere Luft verpufft werden, bevor sie sich entladen konnte.

Eine Lächerlichkeit wäre es, von Berlin oder Leipzig aus, das richtige Kräfteverhältnis in Belgien abzuschätzen und entscheiden zu wollen, ob es angebracht wäre, jetzt die Losung zu einer Straßenrevolution auszugeben. Möglich, dass jetzt im offenen Zusammenstoß mit der bewaffneten Gewalt das Volk unterliegen müsste. Es fällt uns deshalb nicht ein, den belgischen Führern etwa den Vorwurf zu machen, dass sie nach dem Erschöpfen der parlamentarischen, der gesetzlichen Mittel nicht den Appell an die Gewalt machen.

Aber irgendeine Führung, irgendeine klare und konsequente Taktik müssten sie jedenfalls haben. Und ihr Handeln zeigt das direkte Gegenteil davon. Da ist bloß eine Reihe von Zügen und Gegenzügen zu bemerken, ein chaotisches Tasten, ein unentschlossenes Hin- und Herwanken.

Wollten die belgischen Führer sich bloß auf den parlamentarischen Kampf beschränken, so hätten sie nicht sofort und so viel mit „äußersten Mitteln", mit Revolution und mit Blutvergießen, mit Lebensopfern drohen und die Massen auf die Beine bringen sollen.

Wollten sie sich hingegen auf die Masse, auf die außerparlamentarische Aktion stützen, dann waren ihre krampfhaften Anstrengungen unbegreiflich, den parlamentarischen Kampf möglichst in die Länge zu ziehen und, nun er ausgegangen, die Aktion der Massen schleunigst zu ersticken.

Erwarten sie im Ernst eine liberal-sozialistische Mehrheit, bei etwaigen Neuwahlen auch noch unter dem geltenden Pluralwahlsystem, wie es in der zitierten liberalen Erklärung heißt, so bleibt es unerklärlich, weshalb sie in der Kammer schwiegen und sich jeder Meinungsäußerung enthielten, als die Liberalen bereits vor einer Woche die Kammerauflösung und Neuwahlen forderten. Und noch unerklärlicher ist es, weshalb sie das ganze jetzige Rumoren, diese ganze mit so vielen Opfern verbundene Bewegung ins Leben gerufen, da es doch nur galt, ruhig die paar Jahre bis zu den regelmäßigen Neuwahlen zu warten, um die klerikale Mehrheit zu zerschmettern.

Halten aber die belgischen Führer (wie auch wir), die Besiegung der Klerikalen unter dem heutigen Wahlsystem für ausgeschlossen, also auch das schöne Versprechen der Liberalen für ein bloßes Geschwätz, für ein bloßes Mittel, die aufgeregte Arbeiterschaft nun zum Aufgeben des Generalstreiks zu bewegen, so ist es unbegreiflich, weshalb sie diese falschen Vorspiegelungen der Liberalen mitmachen und den Arbeitern die einzige richtige Waffe, die selbständige Massenaktion, aus der Hand reißen wollen.

Sollte endlich der ganze Kampf von vornherein in gesetzlichen Schranken bleiben, dann sehen wir nicht ein, wozu überhaupt der Generalstreik inszeniert wurde, denn seine Wirkungslosigkeit auf die klerikale Mehrheit, sobald ihm das drohende Gespenst der möglichen Revolution benommen wurde, stand von vornherein fest.

War man aber entschlossen, nötigenfalls, nach Erschöpfung der gesetzlichen Mittel, andere zu Hilfe zu nehmen, dann ist es rätselhaft, weshalb eben der Generalstreik aufgelöst werden soll, just nachdem er seine Wirkungslosigkeit in gesetzlicher Form bewiesen hat. Es ist notwendig, sich alle diese Fragen vorzulegen und überhaupt die innere Logik der Vorgänge in Belgien zu analysieren, weil es uns – o, möchten wir doch unrecht behalten! –, scheinen will, dass die Bewegung in Gefahr ist, einfach im Sande zu verlaufen.

Die Taktik unserer Brüder in Belgien einer ernsthaften kritischen Analyse zu unterziehen, scheint uns aber angesichts der ungeheuren Tragweite des Moments für das internationale Proletariat mehr angebracht, als das in uns armen Sterblichen allen steckende Stück Hurrakanaille bloß Laute des Entzückens ausrufen zu lassen, und alles, was wir und andere Sozialisten tun, unbedingt herrlich, großartig und entzückend zu finden.

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