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Rosa Luxemburg 18930700 Die politischen Aufgaben der polnischen Arbeiterklasse

Rosa Luxemburg: Die politischen Aufgaben der

polnischen Arbeiterklasse

[„Sprawa Robotnicza" Nr. 1, Juli 1893, nach Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied und Berlin 1971, S. 34-38]

Verblüffung und Grausen herrschen unter den Herren unseres Landes. Der Fabrikant und der Gendarm, der Polizist und der Meister sind starr vor Entsetzen. Denn da hat sich der polnische Arbeiter erhoben, erhoben hat sich der vielstimmige Riese und mit millionenfacher Hand hat er das Banner errichtet: zum Kampf!

Wo vor zehn Jahren Wohlstand und Gewinn der Fabrikanten in Ruhe und heiligem Frieden blühten, da ruft heute das aufgebrachte Volk: „Dieser Gewinn ist Unrecht und Ausbeutung!" Wo einst ein gefügiger und stumpfsinniger Ameisenhaufen emsig bei der Arbeit war, vom frühen Morgen bis in die Nacht, für ein paar Lumpen und ein trockenes Stück Brot, da steht heute trotzig und stolz die große Armee des polnischen Proletariats, durchdrungen vom Gefühl der Würde und Stärke, und kämpft um Brot und Freiheit.

In unserm ganzen Land hallt das Echo dieses Kampfes wider. Der erwachte Arbeiter hat sich gegen die erhoben, die von seiner Arbeit leben, hat sich gegen die Kapitalisten erhoben und fordert die Beseitigung der Ausbeutung.

Die Kapitalisten sind jedoch nicht zu Zugeständnissen bereit. Wenn wir um die heiligsten Rechte kämpfen, rufen sie gegen uns Militär und Gewalt zu Hilfe. Und die Regierung, die sich Beschützer der Verfolgten und Armen nennt, eilt ihnen tüchtig zu Hilfe. Wenn der Arbeiter nach Brot für seine Kinder ruft, nach Bildung und Hilfe für sich, erscheint die Regierung mit Bajonetten, um die Ausgebeuteten niederzuwerfen und die Ausbeuter zu unterstützen.

Für uns, die Arbeiter, ist diese Regierung ein Hindernis in unserem Kampf gegen die Ausbeutung.

Aber unsere Stärke nimmt immer mehr zu. Die Regierung sieht das und will dem Kampf mit uns ausweichen. Sie will uns einschläfern und zähmen. Daher legt sie die heuchlerische Maske der Freundschaft an und wirft uns mit in unserem Blut getränkter Hand kleine Zugeständnisse vor. Sie beschenkte uns mit einer erbärmlichen Fabrikinspektion, die uns nicht vor der Ausbeutung schützen kann. Sie setzt eine Kommission ein, die sich um unsere Angelegenheiten kümmern soll, aber das geschieht nur auf dem Papier.

Aber wir durchschauen diese Maske. Wir kennen den „Freund", der uns heute streichelt. Wir wissen noch, wie er uns vor zwei Jahren in Żyrardów und vor einem Jahr in Łódź gestreichelt hat1 – Wir wissen, wie er heute Hunderte unserer Freunde in der Zitadelle streichelt.

Heute begreifen wir schon, dass das, was uns die Regierung gibt, sie uns nicht aus Freundschaft für uns gibt, sondern aus Angst vor der Bewegung der Arbeiterklasse.

Die heutigen Zugeständnisse der Regierung sind bei unserer Not und bei unseren Bedürfnissen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wir müssen schrittweise und beständig eine tatsächliche Verbesserung unseres Lebens erringen. Aber unsere Eroberungen sind nur dann sicher, wenn sie durch Landesgesetze geschützt werden. Dann werden diese Eroberungen dem Vorteil der ganzen Arbeiterklasse dienen und nur dann werden sie nicht durch einen zeitweiligen Misserfolg im Kampf verlorengehen.

Durch Regierungsgesetz müssen ein kürzerer Arbeitstag und Kontrollen unter Beteiligung der Arbeiter eingeführt sowie alle gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen beseitigt werden.

Aber damit nicht genug. Wenn die Fabrikanten unsere Arbeit ausbeuten, müssen wir das Recht haben, uns dagegen zu wehren. Wir müssen das Recht haben, um die Verbesserung unseres Daseins zu kämpfen. Dieses Recht haben wir heute nicht. Die Regierung erlaubt uns nicht, für höhere Löhne zu streiken, sie erlaubt uns nicht, uns in Vereinen zu organisieren, um unsere Angelegenheiten zu besprechen. Sie erlaubt uns nicht, uns zu versammeln, um unser Unglück zu erörtern. Sie erlaubt uns nicht, offen und laut von unserem Elend und unserer Unterdrückung zu reden. Sie erlaubt uns nicht, solche Zeitungen und Bücher zu drucken oder auch nur zu lesen, in denen wir guten Rat für uns finden könnten. Sie erlaubt uns sogar nicht, in der eigenen Sprache zu lernen oder frei zu reden! Mit einem Wort, wenn die Fabrikanten das Recht haben, uns auszubeuten, so haben wir nicht das Recht, uns zu wehren.

Wird uns die heutige Regierung die für uns unerlässlichen Rechte geben? Wird sie uns erlauben, unsere Interessen zu verteidigen? Wird sie uns erlauben, uns in aller Öffentlichkeit zu organisieren und um ein besseres Dasein zu kämpfen? Geben wir uns keiner Täuschung hin! Eine Regierung, die hundertfach bewiesen hat, dass sie in Wirklichkeit auf der Seite der Ausbeuter und Reichen steht, wird sich niemals um Leben und Gesundheit der armen Volksmassen kümmern. Eine Regierung, die sich nur durch Gewalt und Schrecken hält, die alle unterdrücken muss, um zu überleben — eine solche autokratische Regierung wird niemals unsere Arbeiterbestrebungen unterstützen. Heute versucht sie, uns wie einen Hund zu zähmen und an die Leine zu nehmen. Aber wenn wir Rechte für uns fordern werden, wenn wir uns selbst weiterhelfen und gegen unsere Ausbeuter kämpfen wollen, wird die zaristische Regierung die Maske der Heuchelei abwerfen und sie wütend zertreten.

Denn eine Regierung, die allmächtig herrschen will, muss das Volk in Elend und Dumpfheit halten. Arbeiter, die um Freiheit, Bildung und Wohlstand kämpfen, sind die größten Feinde des Despoten. Wir dürfen also nicht vergessen, dass das Zarentum das größte Hindernis für die Arbeiterbewegung ist und dass dieses Hindernis beseitigt werden muss.

Früher waren die Arbeiter im Ausland in einer ähnlichen Lage wie wir heute. Sie wurden genauso durch autokratische Regierungen geknebelt, genauso standen diese ihnen auf Schritt und Tritt als Hindernisse im Kampf um eine bessere Zukunft im Wege. Vor diesem Hindernis angekommen, wurden die Arbeiter gewahr, dass sie es entweder zerschlagen oder aber auf den Kampf und eine bessere Zukunft verzichten müssen. Deshalb zerschlugen sie die Selbstherrschaft, erlangten eine verfassungsmäßige Regierung und erkämpften alle Rechte, nach denen wir streben.

Und erst jetzt, da die Arbeiter politische Rechte besitzen, können sie sich auf immer breiterer Basis organisieren und Aufklärung betreiben. Da sie an der Gesetzgebung ihres Landes Anteil nehmen, können sie die Regierung beeinflussen und sie allmählich ihren Bestrebungen näher bringen Aber diese Bestrebungen machen nicht bei einer kleinen Verbesserung ihres Daseins halt. Die Arbeiter im Ausland haben ein großes Ziel vor sich. Durch Reformen und Gesetze versuchen sie, den großen Augenblick schneller herbeizuführen, in dem sie mit gewaltigem Ansturm das Steuer.der Regierung ergreifen werden, um die gegenwärtige Herrschaft des Kapitalismus zu beseitigen und das sozialistische System zu errichten, in dem es weder Ausbeuter noch Ausgebeutete geben wird.

Und wir, die polnischen Arbeiter, dürfen nicht vergessen, dass die augenblickliche Verbesserung unseres Daseins nicht unser ausschließliches Ziel ist. Ihre wichtigste Bedeutung beruht darauf, dass sie uns dem Endziel näher bringt: durch Rechte und Freiheit nähern wir uns dem Augenblick, in dem die Welt der Ausbeutung und Not zugrunde gehen wird und dafür Brüderlichkeit und Gleichheit herrschen!

Darum also müssen wir die autokratische Regierung beseitigen. Wir müssen für uns eine Regierung erlangen, die vom ganzen Volk gewählt ist, eine Regierung, die auf die Stimme des ganzen Volkes hört und ihm Freiheit, Schutz und Rechte gibt. Schwierig ist der Kampf, der uns erwartet. Aber er übersteigt nicht unsere Kräfte. Die despotische russische Regierung scheint ein Riese zu sein, aber dieser Riese steht auf tönernen Füßen. Seine Hauptstütze sind die ländlichen Massen, aber diese Massen sind heute Millionen von Bettlern, fast ohne Land, ohne Vieh, ohne Zukunft. Die Regierung saugte Jahrhunderte hindurch Abgaben aus ihnen heraus, bis sie sie vollständig ausgesaugt hatte. Dem Hungrigen presst sogar die Peitsche nichts mehr ab, aber ohne Abgaben kann die Regierung nicht leben, wie der Blutegel nicht ohne fremdes Blut.

Heute ziehen diese Massen ohne Zukunft von den Dörfern in die Städte, um zu verdienen, und gelangen in die Reihen der Fabrikarbeiter. Hier lernen sie, sich zusammenzuschließen und um ein besseres Schicksal zu kämpfen.

Der russische Arbeiter ist unser Bruder im Unglück und unser Genosse im Kampf. Er beginnt genauso wie wir zu begreifen, dass der Kampf mit der zaristischen Regierung unvermeidlich ist. Auch ihn hat die Not schon aufgeweckt und er will kämpfen. Deshalb wird sich der russische Arbeiter mit uns gegen den gemeinsamen Feind vereinigen.

Dann wird dieses Zarentum, das uns, Polen und Russen, zu gemeinsamer Knechtschaft zusammen geschmiedet hat, umkommen von der Hand seiner vereinten Feinde — des Arbeitervolkes Polens und Russlands!

Der Hilfe also gewiss, hissen wir das Banner des Kampfes, um für uns zu erobern: allgemeines Wahlrecht, das Recht, die Beamten zu wählen, Streik-, Organisations- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Rede, der Sprache und des Druckes.

Für unser Land eine vom ganzen Volk gewählte Regierung zu erlangen und diese Regierung für unsere Arbeitersache auszunutzen – das sind unsere gegenwärtigen politischen Aufgaben.

11 Gemeint ist die blutige Unterdrückung der großen Maidemonstrationen von 1891 und 1892.

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