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Rosa Luxemburg 18930701 Über die Entnationalisierung

Rosa Luxemburg: Über die Entnationalisierung

(anlässlich des zehnten Jahrestages der Regierung von Generalgouverneur Hurko)

[„Sprawa Robotnicza" Nr. 1, Juli 1893, nach Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied und Berlin 1971, S. 39-43]

Am 7. Juni feierte unser Generalgouverneur Hurko den zehnten Jahrestag seiner „nützlichen Tätigkeit". Russische Regierungszeitungen zählten aus diesem Anlass verschiedene Tugenden und Verdienste des großen Herrn auf dem ehemaligen Königsschloss für „Vaterland und Zaren" auf. Auch wir können diesen wichtigen Augenblick nicht übergehen, weil der „große Herr" sich auch um uns, die polnischen Arbeiter, außerordentlich verdient gemacht hat.

Wem verdanken wir es denn, dass wir uns im eigenen Land fast auf Schritt und Tritt einer fremden Sprache bedienen müssen? Haben wir eine Angelegenheit bei Gericht, findet alles auf russisch statt. Muss man sich anmelden oder einen Pass besorgen, auf den Ämtern herrscht Russland. Schicken wir unsere Kinder zur Schule, werden sie in einer fremden Sprache unterrichtet, so dass sie nichts verstehen. Bei der Eisenbahn, in den Eisenbahnwerkstätten beginnt man, russisch zu sprechen, russische Formulare auszugeben. Aber obwohl wir Arbeiter weder an der hohen Wissenschaft, noch an den staatlichen Zeitungen Freude haben, sind auch wir immer davon betroffen, wenn die Bildung im Lande leidet, wenn Zeitungen in der Provinz geschlossen werden, wenn man unsere Gelehrten von den Universitäten treibt und uns dummes Gesindel auf den Hals schickt. So große Verdienste hat Herr Hurko uns gegenüber. Dafür sei ihm Ruhm und Ehre!

Aber man sollte ihm nicht zu viel Ehre machen — nicht er hat sich diese ganze Politik der Entnationalisierung ausgedacht und nicht er hat sie als erster ins Werk gesetzt. Unser Land und Litauen erinnern sich noch seiner edelsten Vorgänger Murawjow-Wieszatiel und anderer. Schon seit langem sehen wir die immer stärkere Russifizierung und Knebelung unseres Landes, und unser Herr Gouverneur hat nur die Ehre, der beste und eifrigste Diener des Zaren in diesen seinen Vorhaben und Absichten zu sein.

Woher hat die Zarenregierung solche Vorhaben, was will sie damit erreichen? — Wir sehen genau die gleiche oder eine noch schlimmere gewaltsame Russifizierung der Deutschen in Riga, Dünaburg und Dorpat, der Finnen und schließlich aller Völker, die ihr untertan sind. Überall will sie eine Sprache, einheitliche Behörden, eine Kultur einführen und sogar, wenn sie es schafft, eine Religion — den rechten Glauben. Die ganzen hundert Millionen Untertanen in eine große Herde zu verwandeln, die von der Zarenknute zusammengehalten wird und vor ihr zittert, das ist das Ideal unserer Regierung, das ist es, wonach sie trachtet, und darum russifiziert sie alle Länder. Wenn es im Staat verschiedene Völker, verschiedene Sprachen, verschiedene Kulturen gibt und die Regierung hat nur die Knute, dann kann er leicht auseinanderfallen. Wenn es allen schlecht geht, will jeder flüchten und wird in eine andere Richtung ziehen. Aber alle Völker und Länder zusammenzuhalten, damit sie nicht auseinanderfallen können und eine Einheit unter einer Peitsche bilden, danach trachtet immer so eine Regierung und nicht nur unsere, sondern ganz genauso machen es die deutsche, österreichische, ungarische und andere.

Und alle diese Regierungen treiben immer die gleiche Politik: überall die Reichen für sich gewinnen und zusammen mit ihnen die Armen knebeln das ist die beste Art, das Land an sich zu binden. Und so geht auch unsere Regierung vor.

Während sie alle Länder soweit wie möglich russifiziert, protegiert sie gleichzeitig überall die Herren – den Adel, die Fabrikanten, die Händler, die Bankiers — gegen das Arbeitervolk. Sie half ihnen eifrig, Fabriken in unserem Land zu gründen, sparte dafür nicht mit Millionen vom Volk aufgebrachten Steuergeldern, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu bereichern, und um sich danach mit ihnen die den Arbeitern abgepresste Beute zu teilen. Sie baute ihnen Eisenbahnen nach Russland, damit sie auf den russischen Märkten ihre Waren verkaufen. Die Regierung gründete ihnen Banken, Gesellschaften, Börsen, und wenn sie, wo sie kann, ihre eigene Sprache einführt, ist die Bourgeoisie doch bereit, dem Patriotismus und allen Idealen um des geliebten Groschen willen zu entsagen, und verbeugt sich noch und verteilt Handküsse. Aber wenn unser Arbeiter von seinem Ausbeuter ein etwas besseres Leben zu erlangen sucht, bittet der polnische Fabrikant genauso demütig um Kosaken und Gendarmen für seine polnischen „Brüder" wie die deutschen Scheibler oder Geyer1.

So ist alles wunderschön auf der Welt. Die Regierung will herrschen und Steuern schinden. Deshalb russifiziert und knebelt sie mit der einen Hand alles was lebt, und mit der anderen streichelt sie überall die Ausbeuter, damit sie sich nicht gegen ihre Macht auflehnen und mit ihr die Gewinne teilen, die sie dem Volk abgepresst haben. Die reichen Herren wollen auf fremde Kosten gut leben ohne zu arbeiten, also ertragen sie demütig den Despotismus und die Russifizierung der Regierung, damit sie ihnen hilft, sich zu bereichern, sie auf den russischen Märkten beschützt und die Arbeiter knebelt.

Aber wie sagt man: der Mensch denkt, Gott lenkt. Die Regierung und die Herren wollen etwas, aber etwas anderes kommt bei ihrer Politik heraus. Sie bedenken überhaupt nicht, dass das Arbeitervolk nicht diese Herde ist, mit der man machen kann, was man will. Die Not zwingt den Arbeiter, zu denken. Wenn er nur umherzublicken beginnt, so sieht er, dass alle gegen ihn sind. Wenn es nötig ist, ihm die Haut abzuziehen, vergisst der polnische Herr sein Polentum und hält demütig die russische Klinke. Wenn es nötig ist, ihn zu knebeln und zu verdummen, vergisst die russische Regierung ihren Polenhass und drückt den polnischen Herrn ans Herz wie die eigenen geliebten russischen Söhnchen der gleichen Sorte.

Der polnische Arbeiter sieht also, dass die kapitalistische Ausbeutung, die politische Unterdrückung und die Entnationalisierung, dass das alles ein und dieselbe Herrschaft über ihn in verschiedenen Formen ist, aber mit einem Ziel. Und so wird der Kampf gegen eine Form zum Kampf gegen verschiedene Formen. Indem wir nach einem besseren Leben streben, nach höherem Lohn, nach kürzerem Arbeitstag und nach Beseitigung aller Ausbeutung, können wir nicht den Kampf um eine gewählte Regierung, um politische Freiheit außer acht lassen. Und indem wir nach politischer Freiheit für unsere Arbeitersache streben, werden wir genauso gegen die Entnationalisierung kämpfen, weil wir eine Regierung erlangen müssen, die uns die größte Freiheit lässt, uns zu organisieren, uns in unserer Sprache untereinander zu verständigen und unsere eigenen Beamten selbst zu wählen.

Es gibt noch ein Ergebnis der Regierungspolitik, das für die Herren Hurko völlig unerwartet kommt. Während sie die polnischen Kapitalisten protegieren und sie zum Zweck der Entnationalisierung mit den russischen vereinigen, wie eine Sippschaft ihre Kinder, wird sich der unterdrückte polnische Arbeiter mit dem unterdrückten russischen Arbeiter verbinden, werden sich die Stiefsöhne gegen den grausamen Stiefvater verbinden. Der russische Arbeiter, der die Entnationalisierung und Knebelung anderer weder will noch nötig hat, weil er genau wie wir nach Freiheit streben muss, wird uns die Hand für eine bessere Sache geben als die, für die sich die Fabrikanten von Moskau und Łódź die Hände geben. Er wird uns die Hand geben für den gemeinsamen Kampf gegen jegliche Unterdrückung durch Kapitalisten und Regierung.

So ist der Arbeiter bei uns und überall der einzige Verfechter der ganzen Freiheit, der ökonomischen, politischen und nationalen, weil nur er allein nicht über andere zu herrschen trachtet und selbst seine Herren los werden will.

Als er von seinem Schloss am Zjazd2 im Mai 18923 nach Łódź telegraphierte: „Die Herren nicht schonen", dachte Herr Hurko überhaupt nicht daran, dass gerade die, auf die er schießen ließ, einmal seine ganze eifrige „Tätigkeit" und die seiner würdigen Vorgänger und ehrbaren Nachfolger zugrunde richten werden.

1Deutschstämmige Textilindustrielle in Łódź.

2 Straße in Warschau, an der das ehemalige Königsschloss liegt.

3 Gemeint ist die blutige Unterdrückung der großen Maidemonstrationen von 1891 und 1892.

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