Der industrielle Absatz Polens

5. Der industrielle Absatz Polens

Aus dem Vorhergehenden wurde klar, dass die russischen Absatzmärkte die eigentliche Triebfeder der heutigen großindustriellen Entwicklung Polens bilden. Es wäre deshalb interessant, genauere Angaben über den Umfang des Absatzes polnischer Waren in Russland zu erfahren, solche lassen sich jedoch nur schwierig ermitteln. Wie in der Statistik aller Staaten, besteht auch in derjenigen Russlands ein großer Mangel an Daten über den inneren Warenverkehr. Nur mittelbar und annähernd lässt sich hier ein Überblick gewinnen. Die im Jahre 1886 veranstaltete offizielle Enquete ergab, dass von den 141 größten Fabriken, die insgesamt ein Drittteil der ganzen Produktion darstellen,

37 Fabriken mit 7 061984 Rbl. ausschließlich für Polen produzieren,

27 Fabriken mit 7480645 Rbl. ausschließlich für Russland produzieren,

11 Fabriken mit 13 224 589 Rbl. vorwiegend für Polen produzieren,

34 Fabriken mit 22 824 013 Rbl. vorwiegend für Russland produzieren,

32 Fabriken mit 19311695 Rbl. zur Hälfte für Polen und Russland produzieren.A

Wenn wir den Ausdruck „vorwiegend" als gleichbedeutend mit % annehmen, so stellt sich der Absatz der polnischen Industrie folgendermaßen dar:

Die 141 Fabriken produzieren Waren

für Polen im Werte von 33142 228 Rubel gleich 47 %

für Russland im Werte von 36760698 Rubel gleich 52%.

Der allgemeine Schluss, zu dem die Enquetekommission kam, war, dass die polnischen Fabriken 50-55% ihrer Erzeugnisse in Russland absetzen.

Den obigen Schluss bestätigen auch partielle Angaben, so über den Absatz der Textilindustrie der Stadt Łódź. Dieser warB:


1884 (Krise)

1885

1886


in Pud


in Polen

in Russland

in Polen

in Russland

in Polen

in Russland

Baumwoll- u. Wollstoffe

372390

1004286

321344

1115460

443565

1507259

Garn

45290

4524

63051

99951

56583

90136


417680

1008810

384395

1215411

500148

1597395

Was also das Zentrum der Textilindustrie betrifft, so setzte es schon Mitte der achtziger Jahre drei Viertel seiner Erzeugnisse in Russland ab. In den zehn Jahren aber, seitdem die obigen Berechnungen gemacht wurden, dürfte sich das Verhältnis noch in weit stärkerem Maße zugunsten des Absatzes in Russland verschoben haben, da die Produktion seitdem ca. um die Hälfte angewachsen ist, während der innere Markt sich selbstverständlich nur in kleinem Verhältnis vergrößern konnte; andererseits haben wir direkte Beweise, dass der polnische Absatz während dieser zehn Jahre neue Gebiete in Russland sich erschlossen hat, worauf wir noch näher zu sprechen kommen werden. Man darf also als das minimale Verhältnis für heute annehmen, dass von den Erzeugnissen der polnischen Industrie % von Russland absorbiert werden. Und zwar erstreckt sich dieser Absatz auf diejenigen Industriezweige, welche den Hauptstamm der großkapitalistischen Produktion in jedem Lande bilden: auf die Textil-, Metall- und Kohlenindustrie. Daneben setzen natürlich auch eine ganze Reihe kleinerer Industriezweige, wie die Zucker- und Galanteriewarenproduktion, die Gerberei u. a., ihre Erzeugnisse in immer wachsendem Maße nach Russland ab.

Das Vorschreiten des polnischen Absatzes in Russland bietet in geographischer Hinsicht ein interessantes Bild. Wie gesagt, beginnt dieser Absatz in größerem Umfange erst mit den siebziger Jahren. Längere Zeit beschränkt er sich jedoch nur auf die westlichen und südwestlichen Gouvernements des Reichs - auf Litauen und Kleinrussland, also eigentlich auf die alten Teile des ehemaligen Polens. Anfangs der achtziger Jahre erobert Polen aber einen neuen Absatzmarkt im Süden Russlands, in dem sog. NeurusslandC Mitte der achtziger Jahre macht der polnische Absatz wieder einen Schritt weiter. Im Jahre 1883 wurde nämlich der durch den Berliner Kongress vereinbarte freie Transit über Batum nach dem Transkaukasus aufgehoben und eine Zollgrenze daselbst errichtet. Damit haben die westeuropäischen Länder, vor allem England, einen beträchtlichen Absatzmarkt für ihre Produkte verloren, derselbe ging nun an russische und polnische Industrielle über. Um das Jahr 1885 erscheinen polnische Fabrikate zum ersten Male im Kaukasus, seitdem wächst ihre Zufuhr zu den 3 Hauptpunkten des kaukasischen Handels wie folgtD:


Batum

Tiflis

Baku

1885/86

39000 Pud

55000 Pud

68000 Pud

1887/88

95100 „

200000 „

258000 „

Ende der achtziger Jahre rückt der polnische Absatz nach dem Nordosten – zur Wolgagegend – vor. Die polnische Zufuhr zu dem Hauptzentrum des Wolgahandels Zarizyn war: 1887 55640 Pud; 1888 73729 Pud; 1889 106403 Pud.E

Zur gleichen Zeit fängt Polen an, an dem europäisch-asiatischen Handel teilzunehmen, seine Fabrikate erscheinen nämlich auf den beiden kolossalen Jahrmärkten Nischni-Nowgorod, wo seit 1889 große polnische Depots errichtet werdenF, und in Irbit. Endlich mit dem Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre betritt der polnische Absatz den asiatischen Boden. Zuerst wurden Handelsbeziehungen mit Sibirien angeknüpft: 1888 mit Tomsk in WestsibirienG, 1892 mit Nertschinsk im südöstlichen SibirienH, 1894 erscheinen polnische Waren schon in OmskI. Um dieselbe Zeit entwickelt sich der polnische Absatz in Asien auch nach zwei anderen Richtungen hin, einerseits nach China, andererseits nach Persien und Kleinasien.

Im Laufe von 20 Jahren, 1870-1890, hat also der polnische Handel Schritt für Schritt in alle Winkel des europäischen Russlands Eingang gefunden. Diese rasche Erweiterung des Absatzmarktes hat eben, wie wir gesehen, die polnische Fabrikproduktion in 20 Jahren in eine Großindustrie verwandelt. Seitdem bereitet sie sich aber zu einer neuen, wichtigen Aktion vor – zur Eroberung asiatischer Märkte. Schon hat der polnische Handel in dieser Richtung einige wichtige Schritte getan. Dies ist jedoch zweifellos erst der Anfang von einem Anfang, und die großartigen Aussichten, welche sich der Industrie dank der Transsibirischen Eisenbahn und den gewaltigen Erfolgen der russischen Politik in Asien eröffnen, bedeuten u. a. für die polnische Industrie eine neue Revolution, vielleicht eine noch weitgehendere, als die sie in den siebziger Jahren erlebte. Die polnischen Unternehmer bereiten sich allen Ernstes auf diese Zukunft vor und richten ihr Augenmerk beharrlich auf Asien. Es wird in Warschau ein Warenmuseum des Ostens errichtet, welches die spezielle Aufgabe hat, die Produzenten mit der Warenwelt, dem Geschmack und den Anforderungen Asiens vertraut zu machen. In dem Prospekt der neuen Handelsanstalt wird darüber folgendes berichtet:

Zucker und Branntwein, Maschinen und Gussröhren, Glas, Fayence und Porzellan, Schuhe, Krawatten und Handschuhe, Tücher, Kattun und Leinwand, welche bei uns fabriziert werden, gingen noch vor kurzem nicht weiter als nach einigen nächstliegenden Gouvernements; heute wandern sie über den Don, den Ural, nach dem Kaukasus, über das Kaspische Meer, nach China, Persien und Kleinasien. Um es aber in dieser Richtung möglichst weit zu bringen, kann man nicht denjenigen, für die die Ware bestimmt ist, unsern Geschmack aufdrängen, sondern man muss sich dem ihrigen anpassen, man muss das produzieren, was auf jenen Märkten einen Absatz findet, der dortige Geschmack unterscheidet sich aber von dem unsrigen unendlich … Die Gattung des Stoffes, die Form, das Design, die Lieblingsfarben sind dort andere als bei uns… Das, was wir bis jetzt produzierten, war vorzugsweise für die zivilisierte eingewanderte Bevölkerungsschicht in jenen Ländern bestimmt. Die Massen standen außer dem Zielbereich unserer Industrie. Wenn wir aber unsere Industrie auf ein festes Fundament stützen und sogar erweitern wollen, müssen wir Waren produzieren, welche dem Geschmack und den Gewohnheiten der Massen entsprechen, und daher müssen wir die Bedürfnisse dieser Masse kennenlernen.J

Dies in kurzen Zügen die Geschichte der Industrie in Russisch-Polen. Aus den Bemühungen der Regierung des Königreichs Polen hervorgegangen, macht sie gleich im ersten Augenblick den Versuch, sich der russischen Märkte zu bemächtigen. Nun ihr der Zutritt zu diesen erschwert und sie auf den inneren Konsumtionskreis mehr angewiesen wird, entwickelt sie sich langsam und schrittweise. Die soziale Krise, welche Russland in den sechziger Jahren durchmachte, reißt auch Polen aus seiner ökonomischen Unbeweglichkeit und zieht es in den Strudel der kapitalistischen Entwicklung hinein. Mit der erneuerten, diesmal definitiven Eröffnung der russischen Absatzgebiete gewinnt die polnische Industrie einen üppigen Nährboden und macht rasch den Umwandlungsprozess in eine Großindustrie durch. Die Zollpolitik Russlands monopolisiert die Annehmlichkeiten des enormen Absatzgebietes für russische und polnische Kapitalisten und erzeugt eine fieberhafte Kapitalakkumulation. Die Fabrikindustrie wird in Polen zum herrschenden Faktor des ganzen sozialen Lebens, in welchem seit den letzten 25 Jahren auch ein totaler Umschwung eintritt.

Wie wir oben erwähnt haben, bewahrte Polen bis zu den sechziger Jahren den Charakter eines agrikolen Landes mit der Herrschaft des Standes der Grundbesitzer auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Die Bauernreform zertrümmerte schon zum großen Teil diese Vorherrschaft des adeligen Grundbesitzes.K Die Notwendigkeit, über das nun für den Betrieb unentbehrliche Geldkapital zu disponieren, vergrößerte stark seine Verschuldung. Die in den achtziger Jahren hinzugetretene allgemeine Krise in der europäischen Landwirtschaft und das Sinken der Getreidepreise gaben ihm den Rest.

Die ganze breite Schicht des mittleren adeligen Grundbesitzes ging und geht dadurch mit jedem Tage ihrem Ruin mehr entgegen. 15 Prozent der adeligen Güter sind bereits aus den Händen ihrer Besitzer in deutsche und jüdische Hände übergegangen, andere 15 Prozent wurden in Parzellen zerschlagen und an Bauern verkauft. Der übrige Grundbesitz ist mit einer Hypothekenschuld belastet, die im Durchschnitt 80 Prozent, in zwei Fünfteln der Fälle aber 100 bis 250 Prozent des Wertes beträgt.L Gleichzeitig wuchs aber immer mächtiger die Industrie, und bald wurde sie in allen Beziehungen der Landwirtschaft überlegen. Schon 1880 war der Wert der industriellen Produktion demjenigen der Getreideproduktion gleich.M Heute übersteigt er ihn um mehr als das Doppelte: der erstere beträgt zum mindesten 23 Rubel, der letztere nur 11 Rubel pro Kopf der Bevölkerung.N Aber auch diese quantitativ untergeordnete Landwirtschaft ist gänzlich in Abhängigkeit von der Industrie geraten. Während Polen ehemals „ein Speicher Europas", ein vorwiegend für den Weltmarkt Getreide produzierendes Land gewesen, befriedigt es heute kaum den eigenen Bedarf. Die Industrie hat einen inneren Markt geschaffen, welcher das ganze Produkt des Ackerbaus – der Masse nach – verschlingt. Wenn Polen heute noch ansehnliche Quanta Weizen exportiert, so geschieht dies nur, weil es aus Russland noch größere Quanta niedrigerer Getreidesorten zum Ersatz importiert. Zweitens sieht sich die Landwirtschaft angesichts der stets sinkenden Getreidepreise heute gezwungen, sich überhaupt immer mehr von der reinen Getreideproduktion zu emanzipieren und auf die Kultur von sog. technischen Pflanzen für die Industrie ebenso wie auf die Viehzucht zu verlegen. O Es ist überflüssig, zu betonen, dass auch das Handwerk, da, wo es noch nicht direkt von der Konkurrenz der Fabriken untergraben wird, im Gegenteil von der Fabrikindustrie lebt, teils ihr direkt in die Hände arbeitend, teils von den durch sie akkumulierten Kapitalien und dem gesteigerten inneren Konsum profitierend. Die Industrie ist jetzt derjenige Stamm geworden, aus dem alle übrigen Zweige des materiellen Lebens des Landes ihre Säfte ziehen. Oder richtiger gesagt, sie ist diejenige Triebfeder, die alle Gebiete des materiellen Lebens revolutioniert und sich unterordnet: die Landwirtschaft, das Handwerk, den Handel und die Verkehrsmittel. Polen, das ehemals so sehr eigenartige Land in sozialer Beziehung, ist jetzt ein typisch kapitalistisches Land geworden. Der mechanische Webstuhl und der Dampfmotor haben es der originellen Physiognomie beraubt und ihm das nivellierende internationale Gepräge aufgedrückt. Schon im Jahre 1884 hatte Polen die spezifisch kapitalistische Krankheit – die erste große Krise – durchgemacht. Heute kommen bereits in der erwachten Arbeiterbewegung hie und da auch die Hypokratuszüge des polnischen Kapitalismus zum Vorschein.

A Berichte der Kommission zur Untersuchung …, I, S. 18.

B l. c, I, Anhang, S. 41-43. Nach englischen Quellen war die Ausfuhr der Textilindustrieprodukte aus Łódź 1886 nach Polen 229 900 Pud, nach Russland 970 791 Pud; 1887 nach Polen 264 665 Pud, nach Russland 721 115 Pud. (Diplom, and Cons. Reports, Nr. 321, S. 7.)

C Janshul, 1. c., S. 63.

D Ateneum, 1890, Bd. I, Heft II, S. 294-296. Speziell der Absatz von polnischem Eisen nach dem Kaukasus war folgender: 1887 310 500 Pud; 1888 299 044 Pud; 1889 340 905 Pud; 1890 398 210 Pud. (l. c, 1891, Bd. III, Heft III, S. 612.)

E l. c, 1891, Bd. III, Heft III, S. 611.

F Kraj, 1889, Nr. 43.

G l. c, 1888, Nr. 21.

H Prawda, 1893, Nr. 3.

I l. c, 1894, Nr. 51.

J l. c, 1896, Nr. 5.

K Eine kurze Geschichte dieser Reform und der Verhältnisse zwischen den Grundbesitzern und den Bauern in Polen s. in den englischen „Diplom, and Cons. Reports", Nr. 355.

L J. Bloch: Der Grundbesitz und dessen Verschuldung. – „There is no doubt that a great majority of the landowners in Poland live under the most difficult conditions."

(Diplom, and Cons. Reports, Nr. .347, S. 11.) Einiges auch in J. Bloch: Die bäuerliche Bank und die Parzellation, S. 1 u. 16.

M J. G. Bloch: Die Industrie des Königreichs Polen, S. 181.

N Die Fabrikindustrie Russlands, S. 32 u. 33. 1 Siehe S. 43, Fußnote 1.

OVgl. J. Bloch; Der Ameliorationskredit und die Lage der Landwirtschaft, auch L. Górski: Unsere Fehler in der Landwirtschaft.

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