Der Übergang zur Großindustrie 1850-1870

2. Der Übergang zur Großindustrie 1850-1870

Wir haben die ersten Anfänge und die Entwicklung der Industrie in Polen auf dem inneren Markte kennengelernt. Wir haben gesehen, dass sie ihre Entstehung den Bemühungen der Regierung verdankte und dass sie infolge des beschränkten inneren Marktes bis zu den fünfziger Jahren die Formen der Manufaktur nicht abzustreifen vermochte. Hier ist aber die erste Epoche ihrer Geschichte zu Ende, und es beginnt ein neues Blatt derselben. Seit den fünfziger Jahren tritt nämlich eine Reihe neuer Faktoren auf, die, obgleich an sich sehr verschieden, in letzter Linie doch alle bewirken, dass der polnischen Produktion die russischen Absatzmärkte erschlossen werden und damit ein Massenabsatz gesichert wird. Dies bringt allmählich eine völlige Umwälzung in der polnischen Industrie hervor und verwandelt sie aus einer Manufaktur in eine echte fabrikmäßige Großindustrie. Wir können deshalb die zweite Periode in ihrer Geschichte als die großindustrielle Periode bezeichnen. Die Jahrzehnte 1850-1870 bilden die Übergangszeit von der ersten in die zweite Phase.

Es waren vier wichtige Faktoren, welche in der erwähnten Übergangsperiode die polnische Industrie revolutioniert haben.

Erstens die Abschaffung der Zollgrenze zwischen Russland und Polen. Im Jahre 1851 wurden die Zollverhältnisse Polens nach zwei Richtungen umgestaltet. Einerseits wurde die Zollgrenze, welche es bis dahin von Russland trennte, beseitigt, andererseits der selbständigen Handelspolitik Polens nach außen hin ein Ende gemacht und Polen in das allgemeine russische Zollgebiet aufgenommen.A Auf diese Weise bildet Polen seither in handelspolitischer Beziehung ein einziges Ganzes mit Russland.B Für Polen lag zunächst die große Bedeutung der Zollreform von 1851 darin, dass ihm nun eine vollständig freie Warenausfuhr nach Russland ermöglicht wurde. Die polnische Manufaktur bekam so die Aussicht, für einen größeren Massenabsatz zu produzieren, die engen Schranken des inneren Marktes zu überschreiten und zur wirklichen Fabrikindustrie zu werden. Diese Erscheinungen konnten jedoch erst nach einer längeren Frist eintreten. In dem Augenblicke, wo die Zollschranke zwischen Polen und Russland beseitigt wurde, standen noch drei wichtige Hindernisse einer wirklichen Massenausfuhr der polnischen Fabrikate nach Russland im Wege: Erstens besaß die Manufaktur in Polen, da sie bis dahin vorwiegend den Anforderungen des inneren Marktes angepasst war, noch nicht diejenige Fähigkeit einer raschen, sprungweisen Erweiterung, die eine große Fabrikindustrie in so hohem Maße charakterisiert. Zweitens waren keine modernen Verkehrsmittel zwischen Polen und Russland vorhanden, drittens hatte auch in Russland der innere Absatzmarkt für Fabrikate beschränkte Dimensionen, was durch das Bestehen der Leibeigenschaft und der Naturalwirtschaft bedingt war. In allen diesen Verhältnissen tritt nun aber auch bald eine vollständige Umwälzung ein.

Schon der Krimkrieg wirkte auf die polnische ebenso wie auf die russische Manufaktur revolutionierend ein. Die Blockade der Seegrenzen Russlands unterbrach zum großen Teil die Zufuhr ausländischer Waren, zum anderen Teil richtete sich dieselbe nach der westlichen Landgrenze, nach Polen, welches zum Wege eines lebhaften Transithandels wurde. Wichtiger war aber die durch den Bedarf der russischen Armee geschaffene Massennachfrage, vor allem nach Produkten der Textilindustrie. Das Wachstum der letzteren belief sich auch in Russland in den Jahren 1856-1860 auf 11,6% jährlich für die Baumwollspinnerei, auf 5,5% für die Baumwollweberei und auf 9,4% für die Färberei und Appretur.C In Polen lässt sich ein noch größerer Sprung wahrnehmen. Der Produktionswert war in tausend RubelD:


1854

1860

+ %

in der Leinwandindustrie

723

1247

72 %

in der Wollindustrie

2044

4354

113 %

in der Baumwollindustrie

2853

8091

183 %

Die Zeit des Krimkrieges führte aber eine tiefe Umwälzung auch in der Technik der Textilindustrie herbei; sie brachte die Einführung des mechanischen Webstuhls und der mechanischen Spindel in Russland und in Polen. Im Jahre 1854 wurde in Łódź die jetzige Riesenfabrik Scheiblers zuerst mit 100 Webstühlen und 18.000 Spindeln gegründet.E Im folgenden Jahre wurde in Russland die erste mechanische Leinenspinnerei errichtet, worauf 1857 auch in Polen die größte, heute noch einzig in Betracht kommende Leinwandfabrik Zyrardów aus einer Handweberei in eine mechanische verwandelt wurde.F

Das zweite wichtige Ergebnis war die Errichtung einer ganzen Reihe von Eisenbahnlinien zwischen Polen und den entlegensten Gegenden Russlands. 1862 wurde Polen mit St. Petersburg verbunden, 1866 mit Wolhynien, Weißrussland und Podolien, 1870 mit Moskau, 1871 mit Kiew, 1877 mit Südrussland. Andererseits wurden durch den fieberhaften Eisenbahnbau im Innern Russlands immer weitere Gebiete desselben dem Handelsverkehr erschlossen.G Dem Bau jeder Eisenbahnlinie, welche nach Russland führte, folgte eine verstärkte Nachfrage nach polnischen Erzeugnissen und eine Erweiterung der Produktion. Ungeachtet der niederschlagenden Wirkung des Aufstandes von 1864 und des dadurch zeitweilig lahmgelegten Verkehrs mit Russland hatte das Jahrzehnt 1860-1870, die Periode der technischen Revolution in den Verkehrsmitteln, zur Folge, dass, während der Gesamtwert der industriellen Produktion Polens im Jahre 1857 nur 31 Millionen Rubel (nach einer anderen Quelle 21) betrug, er im Jahre 1872, also nach 15 Jahren, schon 73 Millionen Rubel (nach beiden Quellen) darstellte – eine Vermehrung um 135% resp. um 248 %.H

Das dritte Moment, welches zur industriellen Umwälzung beigetragen hat, war die Abschaffung der Hörigkeit in Russland 1861 und in Polen 1864 und die dadurch hervorgerufene Umwälzung der Landwirtschaft. Von nun an der unentgeltlichen Arbeitskräfte der Fronbauern beraubt, waren auch die Grundbesitzer auf die Anstellung von Lohnarbeitern und auf den Ankauf von Produkten der Industrie, die sie früher vielfach auf den eigenen Fronhöfen hatten verfertigen lassen, angewiesen. Auf der anderen Seite bekam dadurch die große Bauernmasse Geld in die Hand und wurde ebenfalls Käufer für Fabrikerzeugnisse. Im Zusammenhang damit steht eine Reform im Steuerwesen und der Anfang jener Erpressungspolitik der Regierung der russischen Bauernschaft gegenüber, die auch den Kleinbauern mit seinem Arbeitsprodukt gewaltsam auf den Warenmarkt treibt und, indem sie die ländliche Naturalwirtschaft immer mehr zersetzt, in demselben Maße für die Geldwirtschaft und den Massenabsatz von Fabrikaten den Boden bereitet. Die andere Folge der Reform war die Proletarisierung breiter Bauernschichten, also die „Freisetzung" einer Masse von Arbeitshänden, welche sich der Industrie zur Verfügung stellten.

So sehen wir in Russland im Anschluss an den Krimkrieg eine Umwälzung in allen sozialen Verhältnissen sich vollziehen. Der Zusammenbruch des alten Patrimonialgrundbesitzes und der Naturalwirtschaft, die Reformierung des Steuer- und Finanzwesens, die Errichtung eines ganzen Netzes von Eisenbahnen – alles dies bedeutete für die Industrie Russlands die Schaffung von Absatzmärkten, Absatzkanälen und Arbeitshänden. Da aber Polen seit der Aufhebung der Zollgrenze im Jahre 1851 handelspolitisch mit Russland ein Ganzes bildete, so wurde auch die polnische Manufaktur in den großen Strudel der ökonomischen Umwälzung Russlands hineingezogen und von dem rasch wachsenden Massenabsatz in eine wirkliche Fabrikindustrie verwandelt.

Ende der siebziger Jahre tritt aber noch ein viertes wichtiges Moment hinzu, das die polnische Fabrikproduktion binnen weniger Jahre zu einer Großindustrie macht, wie wir sie heute in Polen sehen, und dieses ist die Zollpolitik Russlands.

A K. Lodyschenski, I. c., S. 252.

B Die Zollvereinigung mit Polen hat eine Neuerung in dem russischen Zollsystem, den sog. differentiellen Zolltarif, zur Folge gehabt. Da nämlich Polen bis dahin eine bedeutend mehr freihändlerische Politik als Russland Westeuropa gegenüber befolgte, so wurde auch bei der Ausdehnung der russischen Zollgrenze auf Polen eine Unterscheidung zwischen der See- und der Landgrenze gemacht, wobei für die letztere niedrigere Tarife festgesetzt wurden.

C Geschichtlich-statistische Rundschau der Industrie Russlands, II, S. 95.

D T. Rutowski, l. c, S. 241.

E J. J. Janshul, l. c, S. 36.

F Geschichtlich-statistische Rundschau, II, S. 23.

G Das gesamte Eisenbahnnetz in Russland war:

1838

25 Werst

1850

468 Werst

1860

1.490 Werst

1865

3.577 Werst

1870

10.090 Werst

Lassen wir hier gleich noch die Angaben aus der späteren Zeit folgen:

1875

17.718 Werst

1880

21.226 Werst

1885

24.258 Werst

1890

28.581 Werst

1892

29.156 Werst

(Der Bergbau Russlands, Bericht zur Chicagoer Ausstellung 1893, S. 61.) Von 1891 bis 1896 wurde der Verkehr auf 10 625 Werst neuer Eisenbahnlinien eröffnet, jetzt befinden sich wiederum über 10.000 Werst im Bau. (Arbeiten der Freien ökonomischen Gesellschaft, 1897, Nr. 6, S. 132.)

H G. Simonenko: Vergleichende Statistik des Königreichs Polen, S. 127. – W. Załęski, l. c, S. 172 u. 223.

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