Die Hauptrayons der polnischen Industrie

4. Die Hauptrayons der polnischen Industrie

Nachdem wir einen allgemeinen Abriss der Entwicklung der polnischen Industrie gegeben haben, bleibt uns noch übrig, das Gesagte an der Geschichte der einzelnen wichtigsten Zweige der Industrie im Detail zu illustrieren, ebenso wie die äußere lokale Gruppierung der Fabrikproduktion aufzuzeichnen.

Die Industrie des Königreichs Polen ist, wenn man von den zerstreut liegenden unbedeutenden Fabriken rechts der Weichsel und längs der preußischen Grenze absieht, in drei Rayons mit stark ausgeprägter Physiognomie, verschiedenem Charakter und verschiedener Geschichte konzentriert.

Der bedeutendste unter ihnen ist der Łódźer Rayon. Er umfasst die Stadt Łódź mit ihrem Bezirk, ferner die Städte Pabianice, Zgierz, Tomaszów und einige Bezirke des Gouvernements Kalisch. Die Produktion des Rayons belief sich schon im Jahre 1885 auf 49 Millionen RubelA, heute mindestens auf 120 Millionen.B Dies ist der eigentliche Textilindustrierayon. Das Hauptzentrum desselben, Łódź, ist in seiner Geschichte für die ganze polnische Industrie äußerst typisch. Schwerlich kann man sich einen für die Gründung einer Fabrikstadt ungünstigeren Platz denken als Łódź. Es ist in einer wald- und wasserlosen Ebene angelegt, inmitten von Morästen, welche noch vor ungefähr zehn Jahren stellenweise von beiden Seiten der Hauptstraße lagen, so dass die Stadt hier kaum 200 Schritte breit war. Der winzige Fluss Lódka ist von Fabrikabfällen gänzlich verunreinigt, und die ganze erforderliche Wassermenge wird den Fabriken von artesischen Brunnen und Teichen geliefert. Noch im Jahre 1821 hatte Łódź nur 112 Häuser mit 800 Einwohnern. In dem Jahre 1823 beginnt aber die Kolonisation, schlesische und sächsische Tuchmacher lassen sich nieder, und im Jahre 1827 zählt Łódź schon 2840 Einwohner, darunter 322 Manufakturarbeiter. 1837 hat es mehr als 10000, 1840 18600 Einwohner und über 1,1 Mill. Rubel jährlicher Produktion. Infolge der Erhöhung des russischen Zolltarifs im Jahre 1831 aber und der dadurch in der Tuchfabrikation eingetretenen Krise wird die Stadt in ihrem Wachstum gehemmt, die Einwohnerzahl geht sogar im Jahre 1850 auf 15600 zurück.C Seit den sechziger Jahren jedoch beginnt für Łódź infolge der oben geschilderten Ursachen, die alle zusammen auf die Erschließung der russischen Absatzmärkte hinauslaufen, eine Epoche rascher Entwicklung, die seit den siebziger Jahren in eine reißende übergeht. Denn wir sehen in Łódź:

1860

32000 Einwohner und 2600000 Rubel ProduktionC

1878

100000 Einwohner und 26000000 Rubel ProduktionC

1885

150000 Einwohner und 36500000 Rubel ProduktionD

1895

315 000 EinwohnerE und 90000000 Rubel ProduktionF

In den letzten 25 Jahren machte auch die Produktion in Łódź eine Umwandlung durch. Bis zu den siebziger Jahren wurden hier Baumwollwaren für einen beschränkten Markt, hauptsächlich für die wohlhabenderen Klassen, fabriziert. Als aber der polnischen Industrie russische Märkte eröffnet wurden und allmählich eine neue Klasse von Abnehmern, das arbeitende Volk, in der Nachfrage die herrschende Rolle zu spielen begann, musste sich auch die Textilindustrie von Łódź dem neuen Konsumenten anpassen. Das Łódźer Fabrikantentum ging denn auch zur Produktion billiger und einfacher Baumwollwaren über, wie Trikot und andere grobe bedruckte Stoffe, vor allem aber zur Produktion von Barchent. Die Fabrikation dieser Stoffe wurde zuerst 1873 aus Sachsen nach der Stadt Pabianice verpflanzt.G Heute herrscht sie in der ganzen Produktion des Rayons vor, wie folgende Zahlen dartun. Es wurde in Łódź verfertigtH:


1881

1886

Lancort

29 %

27%

BjasI

44 %

29%

Barchent

10 %

35%

Mitkai

51½ %

5%

Verschiedenes

11½ %

4%


100%

100%

Auch der Umschwung in der Zollpolitik 1877 hatte einen neuen Zweig der Baumwollindustrie im Łódźer Rayon ins Leben gerufen, nämlich die Fabrikation von sogenanntem gemischtem Spinngarn aus Baumwolle und Wolle (Vigogne). Bis dahin aus Werdau und Crimmitschau massenhaft nach Russland importiert, sah sich dieses Produkt kurz nach der Einführung des Goldzolls den Eingang nach Russland versperrt. Behufs Umgehung dieser Zollmauer wurden nun einige Fabriken von deutschen Unternehmern aus Sachsen direkt nach Łódź versetzt, und schon 1886 verfertigten hier über 39000 Spindeln gemischtes Garn.J

Auf diese Weise erscheint die heutige Gestaltung der großen Baumwollindustrie im Łódźer Rayon als ein Ergebnis der Erschließung der russischen Märkte und der russischen Zollpolitik in den siebziger Jahren.

Nicht minder ist die Wollindustrie des Rayons von denselben Faktoren beherrscht. Schon der gewaltige Sprung der Produktion von 4 Millionen im Jahre 1870 auf 22 Millionen im Jahre 1880 zeigt, welchen Einfluss der russische Absatz auf diesen Industriezweig Polens ausgeübt hat. Was speziell die Wollspinnerei betrifft, so verdankt sie ihre heutige Entwicklung ganz besonders der Zollpolitik Russlands. Die Einführung des Goldzolls 1877 hatte die Verpflanzung vieler ausländischer Spinnereien nach Łódź zur unmittelbaren Folge; die größte mit 22000 Spindeln wurde 1879 von Allart Rousseau Fils gegründet und ist heute noch eine Filiale dieser Firma in Roubaix, woher sie auch ihre Halbfabrikate bezieht.K Seit den achtziger Jahren wurde Polen zur Bezugsquelle von Spinngarn für Russland, und seine Produktion in diesem Zweig übertrifft die russische um mehr als 217%, in Polen betrug sie 1890 18749000 Rubel, in Russland 5909000 Rubel. In der allerletzten Zeit hat die Zollpolitik zwei andere Branchen der Textilindustrie in Łódź – den Strumpf- und Trikotwirkereien – zur Blüte verholfen.L

Noch interessantere Belege für die Wirkung der russischen Zollpolitik auf die polnische Industrie bietet die Geschichte des zweiten Rayons – des Sosnowiecer.

Dieser umfasst den südwestlichen, dicht an der preußischen Grenze gelegenen Teil des Gouvernements Piotrków mit den Städten Czestochowa, Bedzin, Zawiercie, Sielce und Sosnowiec. Während der Łódźer Rayon seine industrielle Entwicklung schon in den zwanziger Jahren begann, stellt die Industrie des Sosnowiecer Rayons, wie bemerkt, eine Erscheinung ganz neuen Datums dar.

Noch bis zu den sechziger Jahren war hier meilenweit nichts als dichter Tannenwald zu sehen, binnen 15 Jahren aber verwandelte sich die waldige Gegend in einen regen Industriebezirk, dessen Textilindustrie dem alten Łódź schon eine ernste Konkurrenz bereitet.

Es waren zwei wichtige Umstände, welche die rasche Entwicklung der Industrie im Sosnowiecer Rayon in hohem Maße begünstigten. Erstens die Billigkeit des Heizmaterials. Der südliche Teil des Gouvernements Piotrków bildet das Kohlenbecken Polens, und seine Nachbarschaft versetzte die junge Sosnowiecer Industrie in eine nicht nur im Vergleich mit Russland, sondern auch mit den anderen Teilen Polens ausnahmsweise vorteilhafte Lage. Der Durchschnittspreis von 1 Pud Kohle beträgt je nach der Ortschaft in den betreffenden RayonsM:

Sosnowiecer Rayon 2,4 – 9,7 Kop.

Warschauer Rayon 11,22-13 Kop.

Lódzer Rayon 11,5 -14,9 Kop.

Zweitens die Billigkeit der Arbeitskraft. Diese Kohlenindustrie stellte von vornherein den Fabriken, des Rayons ein Kontingent von „freien" weiblichen und jugendlichen Arbeitskräften in den Personen der Familienangehörigen der Bergleute zur Verfügung. Auch hierin befindet sich der Sosnowiecer Rayon in einer bedeutend günstigeren Lage als der Łódźer. Die Löhne betragen nämlichN:


Pro Monat in Rubeln:


Sosnowiecer Rayon

Łódźer Rayon


Männer

Frauen

Minderj.

Männer

Frauen

Minderj.

Appretur

13,5

10,75

8,5

-26

-18

9,75

Wollspinnerei

29,95

9

6

28,25

18,25

6

Gem. Spinnerei

21,25

10,25

-

22

13

-

Baumwollspinnerei

15,75

11

4,75

21

17,75

4,5

Durchschnittlich

20

10,25

6,25

24,3

16,6

6,7

Der Unterschied beträgt im Durchschnitt für die Textilindustrie in Łódź im Vergleich zu Sosnowiec für Männer + 21,5%, Frauen + 61,9%, Minderjährige + 4,7%.

Die eigentliche Ursache der Entstehung der Industrie im Sosnowiecer Rayon war jedoch die neue Ära in der russischen Zollpolitik. Eine ganze Reihe preußischer und sächsischer Fabriken wurde gleich nach 1877 einfach aus Deutschland nach Polen verlegt. In einer Zone von 3 russischen Meilen um die Grenze konzentrierte sich bald eine ansehnliche Industrie. Von den 27 bedeutendsten Fabriken, welche man hier 1886 in der Nähe von der Grenze zählte, wurden gegründet bis 1877 5, 1877-1886 22 (81,5 %)O. Die Produktion der Fabriken in Sosnowiec betrug 1879 ½ Mill. Rubel, 1886 13 Mill. RubelP, was eine Vermehrung um 2500% in 7 Jahren ausmacht.

Die Entwicklung der Fabrikproduktion im Sosnowiecer Rayon ging Hand in Hand mit einem überraschenden Wachstum der Kohlenindustrie. Unterstützt und in den dreißiger Jahren (1833-1842) sogar unmittelbar betrieben von der Polnischen Bank, entwickelt sich dieselbe bis zu den sechziger Jahren ganz langsam und weist im Jahre 1860 eine Ausbeute von 3,6 Mill. Pud Kohle auf. Seit dieser Zeit treten nacheinander drei wichtige Momente ein, die der Entwicklung des Bergbaues mächtig Vorschub leisteten: erstens der Bau von Eisenbahnen in den sechziger und siebziger Jahren, zweitens die Entwicklung der Fabrikindustrie und drittens das prohibitive Zollsystem. Der Aufschwung kommt denn auch in folgenden Zahlen zum Ausdruck:

Die Kohlengewinnung in Millionen Pud war:

1860

3,6

1870

13,8

1880

78,4Q

1890

150,8R

Während der 20 Jahre 1870-90 hat sich also die Ausbeute um 993% vergrößert.

Die Eisenbahnen bilden einen der wichtigsten Abnehmer für die Kohle. Neben dem südrussischen Kohlenbassin versieht auch das polnische mit Heizmaterial die Eisenbahnen Russlands. Der Konsum der letzteren betrugS:


1880

1885

1890


in Millionen Pud

von südrussischer Kohle

22,2

34,3

39,8

von polnischer Kohle

10,8

13,8

17,5

Ein noch wichtigerer Abnehmer der Kohle ist aber die Fabrikindustrie. 1890 verbrauchte der Łódźer Rayon allein 30,6 Millionen, der Warschauer 26 Millionen und der Sosnowiecer Rayon 40 Millionen Pud Kohle, wobei die Eisenwerke eine große Rolle spielten.T 1893 belief sich der Kohlenkonsum in Warschau auf 35,5 Millionen Pud, in Łódź im gleichen Jahre auf 36,2 MillionenU und im Jahre 1896 auf 41 Millionen PudV.

Eine neue Epoche in der polnischen Kohlenindustrie tritt ein mit der Ausdehnung der Schutzzollpolitik auch auf diesen Produktionszweig im Jahre 1884, wo die bis dahin freie Einfuhr der ausländischen Kohle mit einem Zoll von V2 bis 2 Kopeken in Gold per Pud getroffen wurde. Die nächste Folge davon war eine große „Kohlenkrise" in Russland, d. h. ein großer Kohlenmangel infolge der rückständigen Betriebsweise der russischen Kohlenwerke und ihrer Unfähigkeit, die im Verhältnis zur steigenden Nachfrage gefallene Zufuhr englischer Kohle durch die eigene zu ersetzen.W

Den Nutzen daraus zogen am meisten die polnischen Kohlenwerke, welche ihre Tätigkeit rasch erweiterten und in einigen Jahren alle wichtigsten Absatzmärkte in Russland: Odessa, Moskau, St. Petersburg, sogar Südrussland, eroberten. Trotzdem die Krise längst überwunden ist, schlägt seither die polnische Kohle in Russland Schritt für Schritt die südrussische aus dem Felde, so auf den Eisenbahnlinien Moskau-Kursk, Moskau-Brest, Kiew-Woronesch, Fastow, St. Petersburg-Warschau und zum Teil auf den südwestlichen Linien. Nach Odessa kam 1894 aus Polen 5824000 Pud Kohle gegen 5300000 aus dem südrussischen Becken.X

Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die Eisenindustrie des Rayons zu werfen. Diese hat bereits eine längere Geschichte hinter sich, denn schon in dem Herzogtum Warschau um das Jahr 1814 zählte man 46 Hochöfen für Eisenerz.Y Die Entwicklung ging jedoch so langsam vor sich, dass Polen es bis zu den achtziger Jahren nicht über eine Produktion von 2,5 Millionen Pud Roheisen, 1,4 Millionen Pud Eisen und 3,9 Millionen Pud Stahl gebracht hatte.Z

Ein neues Blatt in der Geschichte der polnischen Eisenindustrie beginnt mit der Wendung in der russischen Zollpolitik. Die kurze freihändlerische Periode nach dem Krimkriege dauerte für das Eisen etwas länger als für andere Waren, da die russischen Eisenwerke auch bei der stärksten Schutzzollpolitik nicht hätten den vom Eisenbahnbau gestellten enormen Anforderungen genügen können. Seit dem Jahre 1881 tritt aber auch hier der Schutzzoll an Stelle des Freihandels, und nach einer allmählichen Steigerung wurden die Zollsätze im Jahre 1887 auf 25 und 30 Kopeken in Gold per Pud Roheisen, auf 50 Kopeken bis 1,10 Rubel für Eisen und 70 Kopeken für Stahl festgesetzt; der Tarif von 1891 hat eine abermalige Erhöhung der Zölle gebracht.a Als unmittelbare Wirkung der Zollrevision sehen wir die Einfuhr fremder Metalle nach Russland folgendermaßen zurückgehenb:



in Millionen Pud


Roheisen

Eisen

Stahl

1881

14,3

6,5

1,4

1890

7,1

5

1

Dementsprechend steigt die Metallproduktion in Russland und in Polen – im letzteren wie folgtc:

in Millionen Pud

Roheisen

Eisen und Stahl

1860

0,7

0,3

1870

1,3 (100%)

0,6 (100%)

1880

2,4

5,5

1890

7,4 (+ 488%)

7,5 (+ 1054%)

Der dritte Industrierayon, der Warschauer, hat keine so stark ausgeprägte industrielle Physiognomie wie die beiden vorhergehenden. Hier finden wir eine große Mannigfaltigkeit der Industriezweige, die wichtigsten aber sind der Maschinenbau und die Zuckerindustrie. Die Geschichte des ersteren ist ganz in folgender einfacher Zusammenstellung erzählt. Während bis 1860 nur 9 Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen in Polen existierten, wurden 1860-1885 42 neue gegründet.d Hier, wie in allen früheren Fällen, sehen wir den gleichen Aufschwung infolge der Umwälzung des Absatzes in den sechziger und siebziger Jahren.

Werfen wir endlich einen Blick auf die Geschichte der Zuckerindustrie. Sie hat schon in den zwanziger Jahren ihren Anfang genommen, wurde jedoch bis zu den fünfziger Jahren nur als ein Nebenzweig der Landwirtschaft in kleinen Dimensionen oft von Grundbesitzern selbst betrieben. Die Produktion der im Jahre 1848 tätigen 31 Betriebe übersteigt nicht 177500 Pud, was nicht mehr als 5000 bis 6000 Pud pro Fabrik ergibt. Die größte Zahl der Zuckerfabriken weist das Jahr 1854 auf, wo es 55 Betriebe gab.e Seit der Aufhebung der Frondienste und der Umwälzung in der Landwirtschaft trennte sich die Zuckerproduktion von der Agrikultur und wurde zu einem selbständigen Industriezweig. Die Zahl der Etablissements verringerte sich allmählich bei gleichzeitiger Konzentration der Produktion. Im Jahre 1870 finden wir nur noch 41 Zuckerfabriken mit 1,2 Millionen Pud jährlicher Produktion. Eine wahre Revolution in der Zuckerindustrie wurde aber erst in den siebziger Jahren durch die Steuer- und Zollpolitik der russischen Regierung herbeigeführt. 1867 wurde nämlich das besondere System der Zuckerbesteuerung, welches bis dahin in Polen Geltung hatte, aufgehoben und durch das reichsrussische ersetzt. Das letztere beruhte auf der Besteuerung nicht des effektiv hergestellten fertigen Produktes, sondern derjenigen Menge desselben, welche gemäß der als Norm gesetzten Produktivität der Pressapparate in jeder Fabrik voraussichtlich hergestellt werden sollte. Die Zuckersteuer in dieser Gestalt wurde selbstverständlich in hohem Maße zum Stachel der Vervollkommnung der Produktion; sie bewog bald alle Zuckerfabriken zur Einführung der Diffusionsmethode, welche die Produktivität dermaßen über die zur Basis der Besteuerung genommene Norm hinaustrieb, dass die nominelle Steuer von 80 Kopeken in Wirklichkeit 35 und sogar nur 20 Kopeken per Pud ausmachte.f 1876 wurde noch zur Aufmunterung der Zuckerausfuhr die Rückvergütung der Akzise vom exportierten Zucker angeordnet, was angesichts der obigen Verhältnisse wiederum einer kolossalen Ausfuhrprämie gleichkam. Dies war wiederum ein Stachel zu einer fieberhaften Vervollkommnung der Betriebsmethoden und zur Erweiterung der Produktion. In wenigen Jahren hat sich auch die Zuckerindustrie in Russland und in Polen in eine Großindustrie verwandelt. Während Russland im Jahre 1874 nur 4 Pud Zucker ausgeführt hatte, betrug der Zuckerexport schon 1877 3896902 Pud, für welche die Regierung freilich 3 Millionen Rubel – die Hälfte der ganzen im Reiche erhobenen Zuckerakzise – „rückerstatten" musste.g Sie schritt denn auch schon 1881 zur gründlichen Reform in der Besteuerung der Zuckerindustrie, inzwischen war aber letztere auf sehr hoher Stufe der technischen Entwicklung angelangt. In Polen wies sie aufh:

1869/70 41 Fabriken mit 1,2 Mill. Pud Produktion 1890/91 40 Fabriken mit 4,8 Mill. Pud Produktion

Auf diese fieberhafte Erweiterung der Produktion folgte 1885 eine Krise, welche ihrerseits die Gründung eines ganz Russland und Polen umfassenden Zuckerkartells nach sich zog und so diesem Produktionszweig den deutlichsten Stempel einer Großindustrie aufdrückte. Eine Blüte dieses Kartells ist es, dass der russische Zucker, dessen Herstellungskosten 1% d pro Pfund betragen, im Auslande zu 1% d, in Kiew aber zu 4 d pro Pfund verkauft wird.i Kein Wunder, dass bei solchen Monopolpreisen die Zuckerfabriken enorme Dividenden abwerfen können.

Das vorstehende Bild der Industrie in Polen wäre unvollständig, wenn man es nicht wenigstens durch einige Angaben über die Rolle dieser Industrie in der Volkswirtschaft des russischen Reiches im allgemeinen und speziell im Vergleich zu anderen wichtigen Industrierayons ergänzen würde. Die Bedeutung Polens und der beiden Hauptstätten der russischen Fabrikproduktion – St. Petersburg und Moskau – mit Bezug auf die industrielle Tätigkeit lässt sich ganz allgemein folgendermaßen darstellenj:

1890

Gesamtertrag der Produktion in Millionen Rubel

Pro Kopf der Bevölkerung

Russisches Reich

1597

13,5 Rubel

Moskauer Rayon

460

38 „

Petersburger Rayon

242

40 „

Polen

210

23 „

Wie man sieht, nimmt die polnische Industrie ebenso absolut wie relativ die dritte Stelle im Reiche ein, während die Moskauer absolut und die Petersburger relativ die erste Stelle behauptet. Greifen wir die beiden wichtigsten Zweige der Produktion, Textilindustrie und den Bergbau, heraus, so erhalten wir die folgende Zusammenstellung:

Von der Gesamtproduktion des Reiches (ohne Finnland), welche 1895 für Roheisen 82,0, für Eisen 25,7, für Stahl 34,5 und für Kohle 550 Millionen Pud betrug, entfielen aufk:


Roheisen

Eisen

Stahl

Kohle

Rayon Ural

36%

56%

7,7%

2,9%

Rayon Donez

40%

6%

42,0%

54,0%

Polen

14%

14%

23,0%

40,0%

In der Metall- und Kohlenproduktion sind nämlich das Becken des Donez (Südrussland) und der Ural die wichtigsten russischen Rayons, und Polen tritt vor allem mit dem ersteren, zum Teil auch mit dem letzteren in Konkurrenz auf den russischen Märkten. Wie wir sehen, steht Polen im Bergbau des Reiches an zweiter Stelle gleich hinter dem Rayon Donez, ausgenommen die Produktion von Roheisen, wo es die dritte einnimmt. Trotzdem Polen nur 7,3 % der Gesamtbevölkerung des Reiches hat, weist es ein Viertel der reichsrussischen Stahl- und zwei Fünftel der Kohlenproduktion auf.

Ebenso spielt Polen in der Textilindustrie des Reiches ganz unverhältnismäßig zur Größe seiner Bevölkerung eine sehr bedeutende Rolle. Von der Gesamtzahl der Spindeln und der Webstühle in der Baumwollindustrie des Reiches, welche im Jahre 1886 3913000 resp. 84500 betrug, entfielen aufl:


Spindeln

Webstühle

Moskauer Rayon

55,0 %

71,6 %

Petersburger Rayon

29,0 %

12,8 %

Polen

13,0 %

12,5 %

Hierin steht Polen also wiederum an dritter Stelle. In den anderen Zweigen kommt ihm jedoch eine viel größere Bedeutung zu, wie dies aus der folgenden Tabelle ersichtlich. Von der gesamten Textilindustrie des Reiches, deren Produktionswert 1892 580,9 Millionen Rubel betrug, entfiel auf Polen 19,5%; sein Anteil an den einzelnen Branchen belief sich aber in der Baumwollspinnerei auf 15,6%, Baumwollweberei auf 16%, Leinwandfabrik auf 42 %, in der Wollweberei und Tuchfabrik auf 29,6%, Wollspinnerei auf 77 %, Wirkerei auf 78 %.m

Wenn Polen somit im ganzen von der Industrie des zentralen und des Petersburger Rayons überflügelt wird, so geht es jedoch in einzelnen wichtigen Zweigen der Volkswirtschaft allen anderen Reichsteilen voran. Im besonderen weist die große Bedeutung Polens in diesen Zweigen auf eine weitgehende Arbeitsteilung zwischen der polnischen und der russischen Industrie hin.

A Berichte der Kommission zur Untersuchung …II, S. 1/2.

B Bei dieser Annahme stützen wir uns auf das Wachstum der Stadt Łódź, siehe die folgende Seite. Da jedoch Janshul (Umriss …, S. 48) und nach ihm Swiatlowski (Der Fabrikarbeiter, S. 23) "die von uns angeführte offizielle Angabe für das Jahr 1885 für zu niedrig halten und die Produktion des Rayons bereits für das Jahr 1886 resp. 1883 auf 70 Mill. Rubel schätzen, so dürfte auch die heutige Produktion bedeutend über unserer Berechnung stehen.

C Janshul: Umriss …, S. 44-46; O. Flatt, l. c, S. 47, 71 u. 110.

D Berichte der Kommission zur Untersuchung …, II, S. 1. Nach anderen Quellen belief sich der Ertrag der Produktion von Łódź schon 1886 auf 40-46 Mill. Rubel. (Diplom, and Cons. Reports, Nr. 128, S. 4.)

E Der Finanzbote, Nr. 21 vom 6. Juni 1897. Die Einwohnerzahl bezieht sich auf Januar des Jahres 1897.

F Gazeta Handiowa vom 1. Dezember 1896.

G Berichte der Kommission zur Untersuchung …, II, S. 23.

H A. S.: Moskau und Łódź, S. 51.

I Bjas ist ein aus bucharischer Baumwolle verfertigtes Gewebe.

J Berichte der Kommission zur Untersuchung …, II, S. 25.

K l. c, S. 46.

L „Die Geschichte und der heutige Stand der Stadt Łódź" in der „Gazeta Handlowa" vom 3. Dezember 1896.

M Berichte der Kommission zur Untersuchung …, I, S. 33.

N l. c, s. 38.

O l. c, s. 87.

P W. W. Swiatlowski, I. c, S. 24.

Q Geschichtlich-statistische Rundschau, Bd. I, Tabelle XIV-XV.

R Der Bergbau Russlands, S. 91. Die obigen Zahlen beziehen sich auf die Privatbetriebe allein. Der Ertrag der Staatskohlengruben machte 1860 7,2 und 1870 6,3 Mill. Pud aus. Seit 1878 hört die Kohlengewinnung aus diesen Gruben gänzlich auf.

S l. c, S. 72.

T l. c, S. 92.

U Die Produktivkräfte Russlands, VII, S. 39.

V Gazeta Handlowa vom 14. Dezember 1896.

W Im Durchschnitt wurde nach Russland eingeführt: 1866-1870 jährlich 491 Mill. Pud fremde Kohle 1871-1875 jährlich 605 Mill. Pud fremde Kohle 1876-1880 jährlich 971 Mill. Pud fremde Kohle 1881-1885 jährlich 1122 Mill. Pud fremde Kohle 1886-1890 jährlich 1097 Mill. Pud fremde Kohle (Der Bergbau Russlands, S. 75.)

X Prawda, Nr. 52 vom 26. Dezember 1896.

Y Der Bergbau Russlands, S. 57.

Z l. c, S. 58 ff.

a l. c, S. 65; Die Fabrikindustrie Russlands, XIX, S. 181.

b Der Bergbau Russlands, S. 65 u. 66. – Das prozentuale Verhältnis des in Russland jährlich verbrauchten fremden und einheimischen Produktes war folgendes:

Roheisen Eisen
im Ganzen ; davon fremdes im Ganzen ; davon fremdes

1866-1870 106 Mill. Pud 8% 97 Mill. Pud 12%

1871-1875 133 Mill. Pud 11% 122 Mill. Pud 31%

1876-1880 171 Mill. Pud 26% 132 Mill. Pud 35%

1881-1885 220 Mill. Pud 32% 135 Mill. Pud 26%

1886-1890 256 Mill. Pud 21% 146 Mill. Pud 19%

1891-1895 402 Mill. Pud 9% 159 Mill. Pud 23%

(Der Finanzbote, Nr. 21 vom 6. Juni 1897.)

c Geschichtlich-statistische Rundschau, I, Tab. VIII-IX u. X-XI; Der Bergbau Russlands, S. 58 bis 60. Die obigen Zahlen beziehen sich nur auf die Privatbetriebe. Die Produktion der Staatsbetriebe betrug 1860, 1870 und 1880 für Roheisen 0,65, 0,47 und 0,29; für Eisen und Stahl 0,33, 0.1 und 0,1 Millionen Pud.

d Landwirtschaftliche Encyclopädie, Bd. III, S. 15. Nach Orlow: Register …, S. 620, gab es schon 1879 66 Maschinenfabriken mit einer Produktion im Betrage von 6,7 Mill. Rubel.

e Landwirtschaftliche Encyclopädie, Bd. II, S. 530 ff.

f Die Fabrikindustrie Russlands, XIII, S. 6-7.

g l. c, S. 7.

h Landwirtschaftliche Encyclopädie, Bd. II, S. 523 u. 534.

i Diplom, and Cons. Reports, Nr. 1449, S. 7.

j Die Fabrikindustrie Russlands, Einleitung, S. 32/33. Der Moskauer oder der zentrale Rayon umfasst die Gouvernements: Moskau, Wladimir, Kaluga, Kostroma, Nischni-Nowgorod, Smolensk, Twer und Jaroslawl; der Petersburger Rayon die Gouvernements: St. Petersburg, Pskow, Nowgorod, Kurland, Livland, Estland.

k Der Finanzbote. Nr. 8 vom 7. März 1897. – Nur Privatbetriebe.

l Die Fabrikindustrie Russlands, I, S. 11.

m Materialien … für das Jahr 1892, S. 194-204.

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