Die ökonomischen Interessen Russlands im Orient

5. Die ökonomischen Interessen Russlands im Orient

Von eminenter Bedeutung für die von uns behandelte Frage ist endlich auch die neue Richtung, welche in den letzten zehn Jahren in der russischen ökonomischen Politik dem Auslande gegenüber zutage getreten ist. Bis dahin ging nämlich die Bestrebung Russlands darauf aus, seinen Bedürfnissen nach Fabrikaten und Rohmaterialien durch eigene Produktion zu genügen und sich von der auswärtigen Einfuhr zu emanzipieren. Heute gehen seine Bestrebungen weiter, heute will es sich bereits auf den Weltmarkt hinaus wagen und selbst den anderen kapitalistischen Nationen auf fremdem Boden die Stirne bieten. Freilich rührt diese Tendenz nicht von der russischen Bourgeoisie selbst her; die eigenartige ökonomisch-politische Entwicklung Russlands hat es mit sich gebracht, dass die Politik hier vielfach aus eigenem Interesse die Initiative des ökonomischen Fortschritts ergreift.

Während in den meisten kapitalistischen Staaten die Industrie in dem Maße, wie es ihr in den Grenzen des inneren Marktes zu eng wird, die Regierung antreibt, neue Absatzmärkte durch Eroberungen oder durch Verträge zu erwerben, sieht in Russland umgekehrt die Zarenpolitik in der industriellen Ausfuhr ein Mittel, die zur politischen Beute ausersehenen Länder Asiens zunächst in ökonomische Abhängigkeit von Russland zu bringen. Während deshalb die russischen Industriellen zum größten Teil keinen Finger rühren, um einen Platz auf dem Weltmarkt zu erobern, spornt sie die Regierung unaufhörlich in dieser Richtung an. Alles wird ins Werk gesetzt, um den Fabrikanten Rührigkeit und Ausfuhrlust beizubringen: Ermahnungen, Aufforderungen, Expeditionen zur Erforschung neuer Absatzgebiete, die Errichtung kolossaler Eisenbahnen, wie die sibirische und die ostchinesische, Rückerstattung von Zöllen und Steuern beim WarenexportA, endlich direkte Prämien zu diesem Zwecke. Die hier in erster Linie in Betracht kommenden Länder sind: China, Persien, Mittelasien und die Balkanstaaten. 1892 wurde unter der Leitung des Prof. Posdnejew eine Expedition, die sowohl wissenschaftlichen als Handelszwecken dienen sollte, nach Mongolien abgeordnet. Schon früher hatten die Russen daselbst die Pferdepost eingeführt, die von ihnen auch betrieben wird. In folgendem Jahre wurde nach Persien zur Erforschung der dortigen Handelsverhältnisse der Beamte des Finanzministeriums Tomara geschickt und, was besonders wichtig, zur Unterstützung des russischen Handels der Umbau des persischen Hafens Enseli in Angriff genommen. In demselben Jahre arbeitete das Finanzministerium einen Entwurf aus betr. die Verbesserung der Verkehrswege von der russischen Grenze nach Teheran, Tauris und Mesched und die Gründung einer russischen Kreditanstalt in Persien. Um den Absatz in Ostsibirien für die eigenen Kaufleute zu monopolisieren und die Engländer aus dem Felde zu schlagen, beschloss Russland 1896 das Portofranko auf dem Fluss Amur und in dem Hafen Wladiwostok, welches sich auf alle Erzeugnisse, ausgenommen die in Russland mit Akzise belegten, erstreckte, abzuschaffen. Die wichtigste Maßnahme jedoch, wodurch die Regierung dem russischen Handel in Mittelasien unter die Arme zu greifen hoffte, war der kostspielige Bau der Transkaspischen Eisenbahn. – Nicht mindere oder, richtiger, noch viel mehr Aufmerksamkeit wendet Russland China zu. Bis vor kurzem wurden die Handelsgeschäfte Chinas mit dem Auslande von der deutschen, französischen und einigen englischen BankenB besorgt. Die russische Regierung beeilte sich daher 1896, eine russische Bank in Schanghai zu gründen. „Eine Aufgabe der Bank", schrieb seinerzeit das Organ des russischen Finanzministeriums, „ist es, den ökonomischen Einfluss Russlands in China zu befestigen und dadurch ein Gegengewicht zu dem Einfluss anderer europäischer Nationen zu schaffen. Von diesem Standpunkte erscheint besonders wichtig, dass die Bank sich möglichst der chinesischen Regierung zu nähern sucht, dass sie in China die Steuern einkassiert, Operationen übernimmt, welche sie mit dem chinesischen Fiskus in Berührung bringen, Zinsen von den chinesischen Staatsschulden auszahlt"C etc. Die anderen Maßnahmen Russlands, wie der Bau der ostchinesischen Eisenbahn u. a., sind zur Genüge bekannt.

Das bisherige Resultat dieser Bemühungen wurde vor kurzem offiziell erforscht und hat sich als fast einem gänzlichen Fiasko gleich herausgestellt. Es galt für den russischen Absatz in allen Ländern, wohin ihn die Regierung richten wollte, die ernste Konkurrenz der deutschen, französischen, vor allem aber der englischen Industrie zu bestehen, und das russische Unternehmertum hat sich der Rolle nicht entfernt gewachsen gezeigt. Sogar auf eigenem Staatsgebiet in Ostsibirien war Russland, solange es den freien Wettbewerb mit anderen Nationen zu bestehen hatte, nicht imstande, ihnen die Waage zu halten. Die Einfuhr in dem wichtigsten sibirischen Hafen Wladiwostok betrugD:


aus Russland

vom Auslande


in 1000 Rubel

1887

2016

3725

1888

2121

3763

1889

2385

3325

Ein Ergebnis dieser Sachlage war auch der erwähnte Entschluss Russlands, Ostsibirien in das Zollgebiet des Reiches aufzunehmen.

Der russische Export nach China ist gleichfalls kaum nennenswert im Vergleich zu demjenigen anderer Nationen. An der Gesamteinfuhr von beinahe 330 Millionen Rubel beteiligt sich hier Russland mit nur ca. 4,5 MillionenE:

1891

1892

1893

1894

in 1000 Rubel

4896

4782

4087

4488

Ein ähnliches Bild haben auch die Erhebungen über den Handel mit Mittelasien geliefert. Die von Russland gebaute Transkaspische Eisenbahn, auf die man so große Hoffnungen setzte, erwies sich auch wirklich als ein vorzüglicher Handelsweg – für die Engländer, die nun die Möglichkeit erlangt haben, den hohen Durchgangszoll in Afghanistan zu umgehen. Die russische Ausfuhr nach Transkaspien, Chiwa, Buchara und Turkestan hat nach einem kurzen Aufschwung in den letzten Jahren wieder zu sinken begonnen. Von den wichtigsten registrierten Artikeln wurde befördertF:


1888

1889

1890

1891

1892

1893


in 1000 Pud

Im ganzen

1141

1296

1685

2922

2102

1854

davon Erzeugn. d. Textilind.

201

245

541

671

397

538

Zucker

422

457

531

1048

516

150

Der englische Import aus Indien hingegen ist in der gleichen Zeit dank der russischen Bahn, wie dies von offizieller russischer Seite konstatiert wurde, rapid gewachsen. Buchara z. B. erhielt von den 4 Hauptstationen dieser LinieG:


1888

1889

1890

1891

1892H

1893.

insges.


in 1000 Pud

an russ. Erzeugn.

572

1176

1863

923

267

244

5045

an engl. Erzeugn.

1160

4209

8516

12761

4443

16154

47243

Um die Ausfuhr Russlands nach Afghanistan ist es ebenso schlecht bestellt. Der Import der Erzeugnisse der russischen Textilindustrie betrug hier 1888-1890 (25 Monate) 163245Pud, 1893 (12Monate) 10000PudI, d. h. ungefähr achtmal weniger pro Jahr.

Verhältnismäßig am besten reüssiert der russische Handel in Persien. Die russischen Baumwollerzeugnisse machen bereits ca. 30% des persischen Konsums aus, und ihre Einfuhr beziffert sich 1887-1890 jährlich auf 48000 Pud, 1891-1894 jährlich auf 73000 Pud.J

In den nördlichen Provinzen Gilan und Masenderan hat die russische Textilindustrie die englische fast verdrängt, im gesamten persischen Import jedoch spielt Russland – dem offiziellen Zeugnis nach – einstweilen eine sehr geringe Rolle. Dies trotzdem die russische Industrie sich hier in der günstigsten Lage befindet, da ihr die im Kaukasus wohnhaften Perser und Armenier, welche für eigene Rechnung den Handel betreiben, als geeignetste Vermittler dienen, während die Kaufleute anderer Nationen zu Kommissionsgeschäften und dies auch bloß in den größeren Städten Persiens Zuflucht nehmen müssen.

Das Gesamtbild der Ausfuhr Russlands nach seinen wichtigsten asiatischen Absatzgebieten sieht folgendermaßen ausK:


Insgesamt

Lebensmittel

Fabrikate

Rohstoffe und Halbfabrikate


in Millionen Rubel

nach Persien

12

7,5

3,5


nach China

4,5

0,1

3,4

0,7

nach Mittelasien

3,8

1,7

0,4

0,9

Man sieht, das Programm der russischen Regierung in Asien ist im ganzen noch weit von seiner Verwirklichung entfernt, und das erzielte Resultat entspricht jedenfalls dem in dieser Richtung gemachten Kraftaufwand in keiner Weise. Es wäre indes ein Irrtum, dies auf die technische Rückständigkeit der russischen Industrie allein zurückzuführen. Freilich steht Russland in dieser Beziehung in einer ganzen Reihe wichtiger Branchen – wie der Metall-, der Wollindustrie etc. – anderen Industriestaaten nach, und es müsste, um den Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkte mit Erfolg aufnehmen zu können, unbedingt seine Produktionsmethoden vervollkommnen. Allein es kommt noch ein weiteres, nicht minder wichtiges Moment hinzu, welches hauptsächlich die Pläne der Regierung in Asien bis jetzt durchkreuzte. Denn auch da, wo die russische Industrie – wie in der Herstellung geringerer Sorten der Baumwollstoffe –, nach den kompetenten Zeugnissen einzelner ForscherL und selbst der britischen Konsuln in Persien, über die englische wohl den Sieg davontragen könnte, haben es die russischen Industriellen bis jetzt doch nicht weit gebracht, und die Ursache davon ist der ganze Habitus des russischen, speziell des Moskauer Unternehmertums, wie er sich infolge der langjährigen prohibitiven Zollpolitik Russlands herausgebildet hat. Verhätschelt von der Regierung durch allerlei Liebesgaben und Begünstigungen, verwöhnt durch enorme Monopolprofite, verwöhnt ferner durch einen kolossalen inneren Absatzmarkt und durch die Immunität von der auswärtigen Konkurrenz, verspürt das Moskauer Unternehmertum überhaupt weder Lust noch Bedürfnis, sich dem rauen Wetter des Weltmarktes auszusetzen und sich mit gewöhnlichen Profiten zufriedenzugeben. Es ist sozusagen die Profithypertrophie, die die Moskauer so schwerfällig und apathisch in der Aufsuchung neuer Absatzmöglichkeiten macht, dass sie in dem auswärtigen Handel höchstens das Mittel sehen, entweder hohe Ausfuhrprämien einzustecken oder durch schwindelhafte Warenlieferungen und plumpste Prellereien in Gewicht, Maß und Warengattung einmalige Schachergewinne zu erzielen. Steht weder das eine noch das andere in Aussicht, so beantwortet der Moskauer Fabrikant etwa einlaufende Bestellungen von auswärts mit hartnäckigem Schweigen.

Dieser Handelsmodus tritt in den Beziehungen mit Asien deutlich zutage. So war z. B. der 1890 und 1891 nach Buchara und Chiwa massenhaft importierte russische Kattun in einer Weise angefertigt, dass er von den Muselmännern viel weniger für Bekleidungszwecke als zum Färben der Neujahrseier verwendet werden konnte. In den folgenden Jahren wandte sich die Bevölkerung selbstverständlich wieder den englischen Erzeugnissen zu, und dies ist die Ursache, welche mehr noch als die Choleraepidemie und die Missernte den jähen Fall der russischen Einfuhr in Mittelasien in den Jahren 1892 und 1893 nach sich zog.M Ebenso bezeichnend ist die Geschichte des Zuckerhandels mit Asien. Solange beim Export des Zuckers die Akzise rückvergütet wurde, nahm die Ausfuhr desselben nach Persien und Buchara rapid zu; als die Rückvergütung suspendiert wurde, erschien das Geschäft den Russen nunmehr zwecklos, und die Ausfuhr sank plötzlich von 1047996 Pud im Jahre 1891 auf 516021 Pud im Jahre 1892 und auf 150128 im Jahre 1893.N Eine andere interessante Seite des kommerziellen Geistes der Moskauer offenbart sich in ihrem Handel mit Sibirien, wo sie es fertigbringen, zuerst Reisende mit Mustern behufs Gewinnung von Bestellungen auszuschicken und sich nachher zu weigern, diese Bestellungen nach den eigenen Mustern auszuführen.O Endlich kommt die Rührigkeit der Moskauer wohl am grellsten in ihrem Verkehr mit China zum Vorschein, indem sie, von dort mit Bitten um Anknüpfung von Handelsbeziehungen angegangen, diese Zumutung stillschweigend zurückweisen.P

Nach eingehender Prüfung der Ergebnisse des asiatischen Handels Russlands kommt das Organ des Finanzministeriums auch zu folgendem Schluss: „Die charakteristischen Züge der slawischen (will hier heißen: russischen) nicht kommerziellen Rasse und die absolute Apathie und Trägheit des Moskauer Unternehmertums kommen zum Ausdruck ebenso krass wie vollkommen in unserem Handel mit Mittelasien."Q Fast in den gleichen Worten formulieren auch andere Blätter verschiedener Richtungen – die „Nowosti", „Nowoje Wremja", „St.-Petersburger Nachrichten" u. a. – die Ursachen des Misserfolges des russischen Absatzes im Osten.R Und neulich kommt wiederum das Organ des Finanzministeriums auf das gleiche Thema zu sprechen: „Nur Persien", schreibt es im Januar 1897, „kann als Absatzmarkt für die Erzeugnisse unserer Baumwollindustrie gelten; die Versuche, für uns die chinesischen und mittelasiatischen Märkte zu erobern, können bis jetzt nicht als gelungen betrachtet werden, und daran ist zum Teil die Unfähigkeit, uns den Anforderungen und Gewohnheiten der Abnehmer anzupassen, vor allem aber der Umstand schuld, dass unsere Unternehmer es vorläufig noch zu gut zu Hause haben, um sich um auswärtige Absatzmärkte kümmern zu wollen."S

So erscheint das ganze Wesen des Moskauer Unternehmertums und besonders sein Bestreben, sich, durch allerlei künstliche chinesische Mauern in einer privilegierten Stellung zu erhalten, als mit der heutigen Tendenz der russischen auswärtigen Politik unvereinbar und ihr direkt zuwiderlaufend. Es ist klar, dass das wirksamste Mittel gegen alle Trägheit Moskaus und seine Praktiken im Handel ebenso wie gegen die technische Zurückgebliebenheit der Übergang Russlands zu einer liberaleren Zollpolitik wäre, die den Moskauer Rayon aus der Treibhausatmosphäre des Monopols reißen und im eigenen Lande der fremden Konkurrenz aussetzen würde. Es scheint uns auch keinem Zweifel zu unterliegen, dass einerseits die Interessen des Absolutismus in Asien, andererseits die Ausdehnung der kapitalistischen Landwirtschaft und die Interessen des Grundbesitzes Russland über kurz oder lang auf die Bahn einer gemäßigteren Zollpolitik drängen werden. Vor allem aber kann nur auf einem Wege Abhilfe geschaffen werden, nämlich durch die Verschärfung der Konkurrenz innerhalb der russischen Zollgrenzen, d. h. dadurch, dass man Moskau der unbeschränkten Konkurrenz der fortschrittlichen Industrierayons Polen und St. Petersburg rücksichtslos preisgibt. Diese Gesichtspunkte hat auch der einflussreichere Teil der russischen Presse, so die „Nowoje Wremja", im Anschluss an die Erörterungen über die Interessen des Zarenreiches in Asien ausdrücklich hervorgehoben.T Dass die Regierung ihrerseits sich jetzt auch tatsächlich anschickt, mit dem wirtschaftlichen Schlendrian Moskaus aufzuräumen und die Moskowiter auf die Bahn einer modernen Produktions- und Handelstechnik zu drängen, beweist am besten das neueste Gesetz über den Maximalarbeitstag, welches den schroffsten Bruch mit der bisherigen Produktionsweise Moskaus bedeutet, während es zugleich als eine Verwirklichung des polnischen Projektes von 1892 erscheint.

Im gleichen Maße, wie der ökonomische Konservatismus Moskaus ein Hemmschuh der heutigen Politik Russlands ist und mit jedem Tag es immer mehr wird, erscheint die polnische Industrie wieder einmal als Bundesgenossin des Zarismus. Wir haben bei dem Vergleich der Konkurrenzbedingungen der polnischen Produktion mit der zentralrussischen gezeigt, wie sehr Polen in technischer Beziehung hoch über Moskau steht. Schon aus diesem Grunde, als der fortschrittlichste Industrierayon Russlands, als derjenige, welcher die übrigen, speziell den Moskauer, durch seine Konkurrenz unaufhörlich zu technischen Verbesserungen anspornt, verwirklicht das kapitalistische Polen das neueste russische Regierungsprogramm. Aber auch direkt in der Eröffnung der asiatischen Absatzmärkte schreiten die polnischen Industriellen den russischen voran. Wir haben gesehen, wie ernst und gründlich sie sich zu dieser Aufgabe vorbereiten. Ohne die Aufforderung der Regierung abzuwarten, ergreifen sie selbst die Initiative und knüpfen auf eigene Faust Handelsbeziehungen mit dem Auslande an.

In dem einzigen Lande, wo der russische Handel verhältnismäßig gedeiht – in Persien –, bilden die Erzeugnisse der polnischen Textilindustrie beinahe die Hälfte der ganzen einschlägigen Einfuhr aus Russland – ca. 40% des Imports über die wichtigste Verbindungsstation Baku.U Den Polen gehört auch in mancher Hinsicht die Initiative der Handelsbeziehungen mit Persien; bereits 1887, also bevor noch die Regierung diesem Lande ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte, schickten sie sich an, in Teheran eine eigene Handelsagentur und ein Warendepot zu eröffnen.V

Łódź benutzte auch sofort die Transkaspische Bahn, um neben St. Petersburg und Moskau mit ihren Waren nach Mittelasien vorzudringen.W Der Warschauer Rayon ist derjenige, der die höheren eingewanderten Bevölkerungsschichten in Buchara und Turkestan mit Glas-, Fayence- und Porzellanwaren versieht, während die geringeren Moskauer Erzeugnisse nur von den ärmeren Eingeborenen gekauft werden.X Łódź ist bis jetzt der einzige Industrierayon des Reiches, dessen Textilindustrieprodukte in Konstantinopel und in den Balkanländern Eingang gefunden haben.Y Bereits 1887 knüpfte Polen mit Rumänien und Bulgarien Handelsbeziehungen an.Z Neulich fing Łódź an, direkt nach Sofia seine Baumwollerzeugnisse zu schicken.a Ja die polnische Bourgeoisie möchte, unter Benutzung der sibirischen Eisenbahnlinie, Warschau zum Mittelpunkt des neuen großen europäisch-asiatischen Handelsweges machen.b „The British Manufacturer", schreibt der englische Konsul in Warschau, „may be prepared to find in them (den polnischen Unternehmern) formidable rivals in the markets of the East."c

Auf diese Weise arbeitet der polnische Kapitalismus in Asien der zarischen Politik direkt in die Hände.

Aus dem obigen so diametral entgegengesetzten Verhalten Moskaus und Polens gegenüber den von der russischen Politik gesteckten Zielen folgt auch eine grundverschiedene Strömung in der öffentlichen Meinung den beiden Rayons gegenüber. Immer stärker wird die Partei des inneren Freihandels, des technischen Fortschritts, die Partei, welche gegen die staatliche Bevormundung und Beschirmung der rückständigen Industrie auftritt, weshalb sie auch dem polnischen Rayon sympathisch gegenübersteht, und immer vereinzelter steht das Moskauer Unternehmertum da mit seinem urväterlichen Glauben an die Dreieinigkeit: Garantien, Prämien, Subsidien. Die Moskau feindselige Stimmung hat sich deutlich ausgesprochen aus dem Anlass eines von ihm auf dem Jahrmarkt in Nischni-Nowgorod 1893 eingereichten Gesuchs um Besteuerung der polnischen Commis voyageure. So lesen wir in den „Nowosti": „Während desselben Jahrmarkts … verfassten und reichten dem Finanzminister dieselben Vertreter des praktischen Protektionismus eine Petition ein, betreffend eine spezielle Besteuerung der Commis voyageure der Łódźer Fabriken, mit der unverhohlenen Absicht, den Moskauer industriellen Rayon von der Łódźer Konkurrenz zu befreien. Nach dem gesunden Menschenverstande sollten die Moskauer Fabrikanten im Interesse der russischen Industrie und der russischen Konsumenten nur dem vortrefflichen Beispiel der Łódźer Fabrikanten folgen und reisende Commis anstellen, den Produzenten dem Konsumenten näher bringen und so den Absatz eigener Produkte verbilligen und erleichtern. Aber nicht einmal so viel Unternehmungsgeist liegt in den Sitten und Gewohnheiten der vom Protektionismus verhätschelten Praktiker; sie ziehen vor, verschiedene Streiche gegen ihre Konkurrenten zu führen."d Und zum Schlüsse noch ein charakteristisches Zitat aus dem offiziellen Regierungsorgan „Warschauer Tagblatt" über die allgemeinen Aufgaben der auswärtigen industriellen Politik Russlands: „Gerade auf die Eröffnung dieser neuen Absatzmärkte in Mittelasien und in Persien rechnen wir für das Gedeihen unserer Industrie, und wir wiederholen, dass es sehr zu bedauern ist, dass die Löwenportion der Profite nach dem Auslande geht, während für unsere armen Arbeiter (!) bloß die Krümchen übrigbleiben. Unser Handel mit Mittelasien und mit Persien hat noch nicht tiefe Wurzeln geschlagen, und die Vertreter des russischen Handels werden noch gar manchen Sieg über die englische Konkurrenz zu gewinnen haben, um jene Absatzmärkte für Russland zu erobern. Angesichts des gemeinsamen Feindes sollten die Moskauer und die polnischen Unternehmer ihre Kräfte vereinigen, um gemeinsam das gleiche Ziel zu erstreben … Das Hauptziel für Russland auf den asiatischen Märkten ist in diesem Augenblick die Ausschließung der englischen Waren. Es wäre dies eine untergeordnete Frage, welcher von den Industrierayons des Reiches mehr zur Erreichung dieses Zieles beiträgt, wenn nur die Profite aus der Industrie auf dem Weichselufer ausschließlich der eingeborenen Bevölkerung zugute kämen und nicht, wie es der Fall ist, dazu dienten, die Kapitalien deutscher Unternehmer, Angestellten und Arbeiter zu vergrößern. Befände sich jene Industrie in den Händen von Russen oder Polen, so wären wir viel stärker in unserem Kampfe mit England, und unsere Vorherrschaft in Mittelasien wäre gesichert."e

Selbstverständlich unterlässt das Regierungsorgan nicht, den deutschen Industriellen, die in der polnischen Industrie stark vertreten sind, dabei einen Hieb zu versetzen; es beschuldigt sie der Nichtbeachtung russischer Staatsinteressen, der ausschließlichen egoistischen Besorgung ihrer eigenen „deutschen" Tascheninteressen usw. Aber in der Hauptsache finden wir hier die wirkliche Lage des Augenblicks, wie sie von der russischen Regierung aufgefasst wird, in treffender Weise ausgesprochen: Angesichts der bevorstehenden Aufgaben auf dem Weltmarkt treten die inneren Rivalitäten des polnischen und russischen Unternehmertums vollständig zurück. Insofern zwischen ihnen Uneinigkeit existiert, wird die Schuld auf das deutsche, der polnischen Bourgeoisie, wie wir gesehen, in gleichem Maße verhasste Element geschoben. Die polnische Industrie an sich, ihre Entwicklung, ihr Gedeihen erscheinen hier von einem neuen Gesichtspunkt als direkt im Interesse der zarischen Regierung liegend: Nachdem sie in Polen dazu gedient hatte, die russische Eroberung nachträglich zu befestigen, weist ihr der Zarismus nunmehr die schmeichelhafte Rolle zu, in Asien als der Vorläufer seiner künftigen Eroberungsgelüste zu dienen. Ja noch mehr, Polen spielt jetzt, wie wir gesehen, in der Verwirklichung dieser hehren Aufgaben die erste Rolle, während der Stern Moskaus, d. h. der speziellen Moskowiter ökonomischen Politik, sich langsam zum Untergange neigt. Das neue russische Gesetz über den Maximalarbeitstag besagt, dass die schönen Tage von Aranjuez – die Tage der primitiven kapitalistischen Akkumulation – auch im russischen Reiche bald vorbei sind.

A Siehe die Erlasse vom Dezember 1892 über die Rückvergütung der Zölle beim Export von Textilindustrieprodukten, ferner beim Zuckerexport.

B Deutsch-Asiatische Bank, Comptoir National d'Escompte de Paris, Hong-Kong and Shanghai Banking Corporation, Chartered Bank of India, Australia and China, Chartered Mercantil Bank of India, London and China, Bank of China, Japan and the Straits.

C Der Finanzbote, Nr. 52 vom 5. Januar 1896.

D Sibirien und die sibirische Eisenbahn, S. 246.

E Die Produktivkräfte Russlands, Auswärtiger Handel, S. 26.

F Der Finanzbote, Nr. 44 vom 11. November 1894.

G I. c. Der gesamte russische Absatz an Erzeugnissen der Textilindustrie in Buchara betrug 1890 bis 1893 durchschnittlich 140 000 Pud pro Jahr.

H Choleraepidemie.

I I. c.

J Die Produktivkräfte Russlands, VIII, S. 5. Nach dem „Finanzboten" (I. c.) 120 000 Pud jährlich.

K Der Finanzbote, Nr. 52 vom 10. Januar 1897; desgl. Die Produktivkräfte Russlands, Auswärtiger Handel S. 2.5/26.

L So sagt z. B. H. Kuhn in seinem Buche „Die Baumwolle, ihre Cultur, Structur und Verbreitung", 1892: „Die russischen Produkte zeichnen sich durch Solidität vorteilhaft aus … Es werden zumeist nur die niedrigen Nummern angefertigt, aber in diesen kann Russland selbst mit England erfolgreich konkurrieren." (Die Fabrikindustrie Russlands, I, S. 23.)

M Der Finanzbote, Nr. 44 vom 11. November 1894.

N Wie von der Regierung konstatiert wurde, machten viele Zuckerpartien bloß zum Schein den Weg nach Mittelasien, um die Akzise rückerstattet zu bekommen und, die mangelhafte Grenzbewachung benutzend, unvermerkt „nach dem Vaterlande" zurückzukehren. Manche Sendungen mochten die einträgliche Reise mehrmals gemacht haben, bevor sie wirklich in Persien zum Verkauf gelangten. Dies bewog auch die Regierung zur zeitweiligen Suspension der Rückerstattung der Akzise und zur Reorganisierung der Grenzbewachung. (Der Finanzbote, Nr. 15 vom 25. April 1897.)

O „Einige Moskauer Fabriken haben sich endlich entschlossen, in ihren Beziehungen mit Sibirien das System der Commis voyageure anzuwenden, aber dank unserer Plumpheit entstehen daraus einstweilen mehr Konfusion und Missverständnisse als Nutzen. Im Sommer hat die Firma Konschin ihre Commis mit Warenmustern nach Sibirien geschickt, und unlängst erhielt sie auch zwei Bestellungen aus Wladiwostok, die Firma schlägt es aber schon ab, dieselben genau auszuführen, da sie nicht mehr imstande sei, die Ware nach dem Muster zu liefern." (Sibir vom 8./20. Januar 1897.)

P „Die Firma Pjotr Wereschtschagin & Co. in Hankou, welche beabsichtigte, sich ausschließlich dem Absatz russischer Waren in China zu widmen, hat sich noch am 6. September (1896) an 14 Moskauer Fabrikanten mit der Bitte um Muster und überhaupt um Anknüpfung von Beziehungen gewendet, aber bis dato (Januar 1897) hat ihr nur ein einziger Antwort gegeben." (I. c.)

Q Der Finanzbote, Nr. 44 vom 11. November 1894.

R So schreibt das Blatt „Sibir" vom 20. Januar 1897: „Geschützt durch fast prohibitive Zölle und allerlei staatliche Maßnahmen, verspüren die apathischen Moskauer Unternehmer kein Bedürfnis nach neuen Absatzmärkten."

S Der Finanzbote, Nr. 52 vom 10. Januar 1897.

T Angeführt in der „Gazeta Polska" vom 3. und 5. Dezember 1894.

U Der Finanzbote, Nr. 44 vom 11. November 1894.

V „In consequence of some important Orders for carriages and linen which the Shah of Persia had given to the manufacturers of those articles in Poland, the attention of the mercantile Community on this country was called to .he possibility of establishing direct commercial relations with Persia; … with this object in view a large commission agent proceeded to that country about the end of last year for the purpose of making himself thoroughly acquainted with its markets, taking with him a considerable quantity of samples of different kinds of goods, and it is said that, if his journey is attended with favourable results, a wholesale depot and commission agency will be opened at Tehran" (Dipl. and Cons. Reports, Nr. 321, S. 5.)

W Der Finanzbote, Nr. 44 vom 11. November 1894.

X I. c.

Y I. c.

Z Dipl. and Cons. Reports, Nr. 321, S. 4.

a Gazeta Handiowa vom 25. November 1896.

b Ateneum, 1894, Bd. IV, Heft II, S. 241/242.

c Dipl. and Cons. Reports, Nr. 321, S. 5.

d Nowosti vom 4. November 1893.

e Wir entnehmen das Zitat den „Dipl. and Cons. Reports", Nr. 1183, S. 4.

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