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Vorwärts 19010620 Eine auch von Frauen sehr zahlreich besuchte Volksversammlung

Vorwärts: Eine auch von Frauen sehr zahlreich besuchte

Volksversammlung

[Vorwärts (Berlin), 18. Jahrgang, Nr. 141 (Donnerstag, 20. Juni 1901), S. 4, Sp. 2, Rubrik „Versammlungen“, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 329 f.]

einberufen vom Vertrauensmann des 1. Wahlkreises, tagte am Dienstag in den Arminhallen. Frau Dr. R. Luxemburg sprach über: Weltpolitik und die Arbeiterklasse. In sehr treffender Weise kennzeichnete die Rednerin die von der herrschenden Klasse gegenwärtig so beliebte, abenteuerliche und volksschädliche Welt- und Eroberungspolitik, wie sie neuerdings in China zum Ausdruck gekommen ist. Der Ausflug des Weltmarschalls Waldersee hat dem deutschen Volke 300 Millionen Mark gekostet, die zweifellos viel besser zur Aufbesserung der Gehälter für die hungernden ostpreußischen Volksschullehrer, für Schul- und Krankenhausbauten und anderen Kulturzwecke verwendet werden konnten. Die bekannten Vorkommnisse gaben keineswegs die Berechtigung zu dem, noch dazu verfassungswidrig und ohne Zustimmung der Volksvertretung unternommenen Chinazuge; sie mussten aber doch dazu herhalten, um den Chinarummel überhaupt in Szene setzen zu können. Die Rednerin erinnerte daran, dass noch bis vor 10 Jahren die Welt- bezw. Kolonialpolitik, die jetzt alles beherrscht, in Deutschland so ziemlich unbekannt war, und dass selbst Bismarck die Gefährlichkeit einer solchen Politik einsah und dem Drängen der Kolonialfantasten lebhaften Widerstand entgegensetzte. Dann erörterte Genossin Luxemburg die überaus traurigen Erfahrungen, die Deutschland mit seinen Kolonien bisher schon gemacht hat. Sie wies nach, dass nur einige kleine Interessengruppen von dieser Raub- und Eroberungspolitik Vorteile zu erzielen suchen, während die Arbeiterklasse Gut und Blut opfern und die ungeheuren, fortgesetzt steigenden Lasten des Militarismus und Marinismus tragen muss. In ihren weiteren Ausführungen kritisierte die Rednerin das volksfeindliche Verhalten des Zentrums, der nationalliberalen und freisinnigen Parteien, die in der Zeit der weltpolitischen Ära den letzten Rest der demokratischen und liberalen Grundsätze aufgegeben, dem persönlichen Regiment Vorschub leisteten und der Regierung in jeder Weise zu Willen waren und es schließlich der Sozialdemokratie überlassen haben, den Kampf gegen eine derartige aller Kultur und Zivilisation hohnsprechende Weltpolitik allein zu führen.

Dem mit lebhaftem Beifall aufgenommenen Vortrag folgte nur eine kurze Diskussion, in der Genosse Kuchenbäcker sich im Sinne der Referentin äußerte, während ein Herr Kanter den allerdings vergeblichen Versuch machte, der Versammlung die Notwendigkeit des Militarismus und national-sozialem Muster nachzuweisen. Nach einer kurzen Erwiderung der Genossin Luxemburg und nachdem Genosse Bohn noch auf den vom Wahlverein zum 28. Juni arrangierten Ausflug nach der Pferdebucht bei Köpenick aufmerksam gemacht hatte, erfolgte der Schluss der Versammlung.

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