Rosa Luxemburg‎ > ‎1904‎ > ‎

Vorwärts 19040119 Ein Nachspiel zur Breslauer Kaiserrede

Vorwärts: Ein Nachspiel zur Breslauer Kaiserrede

[Vorwärts (Berlin), 21. Jahrgang, Nr. 15 (Dienstag, 19. Januar 1904), S. 3, Sp. 1 f., verglichen mit der auszugsweisen Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 491 f.]

In dem Majestätsbeleidigungs-Prozess gegen die Genossin Dr. Rosa Luxemburg, über welchen wir kurze Mitteilung brachten, handelte es sich um eine Äußerung, die Genossin Luxemburg in einer Wählerversammlung im 17. sächsischen Wahlkreise, Mülsen-St. Michael, am 7. Juni getan haben soll. Der beaufsichtigende Beamte, ein Herr Assessor Dr. Richter, entzog seiner Zeit der Referentin schon nach 20 Minuten das Wort, löste die Versammlung auf und „beanzeigte dringend“ der Staatsanwaltschaft die von der Rednerin angeblich verübte Majestätsbeleidigung. Nach der Behauptung des jungen und schneidigen Herrn Assessors soll Genossin Luxemburg nämlich nach einer allgemeinen Kritik der politischen und sozialen Zustände in Deutschland, des Militarismus, der Welt- und Kolonialpolitik, namentlich aber der sozialen Gesetzgebung, die Breslauer Kaiserrede erwähnt und dabei gesagt haben: „Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spreche, habe keine …“ Hier folgt die inkriminierte Stelle.

Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage namentlich darauf, dass die Rednerin dem deutschen Kaiser eine völlige Unkenntnis der in Deutschland bestehenden Verhältnisse zugeschrieben und dass sie ihm rückständige Ansichten, wie sie den Japanern oder Chinesen eigen sind, vorgeworfen haben soll. Sie berief sich dabei auf zwei Belastungszeugen: den erwähnten Assessor Richter und auch auf den Gemeindevorstand aus Mülsen Gottlieb Sonntag.

In der Verhandlung gab Gen. Luxemburg eine ganz andere Darstellung der Sache. Sie stellte fest und bewies, dass sie vor allem in jener Versammlung weder über Kolonial- noch Weltpolitik, noch über Militarismus und soziale Gesetzgebung gesprochen habe, was auch in den 15 bis 20 Minuten, die ihr vor der Wortentziehung zur Verfügung standen, gar nicht denkbar gewesen wäre. Sie konnte deshalb unmöglich dem Kaiser eine allgemeine Unkenntnis der Verhältnisse in Deutschland zugeschrieben haben. Was sie in Wirklichkeit darlegte, waren lediglich die wirtschaftlichen Folgen des neuen Zolltarifs für die arbeitende Bevölkerung Deutschlands, die sie an der Hand zahlenmäßiger Beweise eingehend schilderte. Unmittelbar darauf zog sie die Worte des Kaisers in Breslau von der „guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter" heran und sagte, dies sei ein völlig unzutreffendes Urteil. Einem solchen könnte nur beistimmen, wer etwa in Japan oder China seine Ansichten über die Existenz der Arbeiter gebildet habe. Die Erwähnung von Japan oder China hätte demnach nicht den Zweck, dem deutschen Kaiser die weltfremde Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland zu imputieren, sondern den falschen Maßstab des kaiserlichen Urteils über die Lage der deutschen Arbeiter drastisch zum Ausdruck zu bringen. Vom Standpunkte eines wirtschaftlich noch viel tiefer stehenden Arbeiters könne allerdings die Existenz des deutschen Arbeiters als eine „gute und gesicherte" erscheinen, und wenn man ein Land mit noch viel rückständigeren Arbeiterverhältnissen heranziehen wolle, so könne man doch nicht etwa England oder die Vereinigten Staaten nennen, sondern man pflege sich auf Japan oder China mit seinem bekannten Kulitum zu berufen. Genossin Luxemburg bewies demnach, dass in ihren Worten allerdings eine scharfe Kritik des kaiserlichen Urteils nach seiner sachlichen Rede hin lag, nicht entfernt aber eine persönliche Beleidigung für den Kaiser.

Der Herr Assessor musste auf einzelne Fragen des Verteidigers Dr. Siegfried Löwenstein, der der Genossin Luxemburg zur Seite stand, zugeben, dass er „sich schließlich nicht entsinnen könne“, ob die Worte genau so lauteten, wie er sie „dringend beanzeigt“ hatte, oder so, wie die Genossin Luxemburg behauptete. Der Herr Assessor blieb aber fest und steif dabei, dass der Sinn ihrer Worte eine Beleidigung und eine Verhöhnung des Kaisers enthielt. Dabei brachte er u.a. den folgenden Beweis vor: Die Heranziehung Japans und Chinas hätte nicht den Zweck des Vergleichs der Lebenshaltung der Arbeiter mit denjenigen Deutschlands gehabt, denn „wenn sie (die Referentin) zugegeben hätte, dass die Arbeiter in Deutschland besser als in Japan und China leben, so müsste sie sagen, dass sie gut leben, denn was nicht gut ist, kann nicht besser sein, und sie ließ überhaupt nichts Gutes an den Zuständen in Deutschland“. Ferner sei der Ton der Referentin ein ausgesprochen höhnischer gewesen, die Versammlung habe auch „mit höhnischem Lachen und lautem Beifall“ geantwortet. Und gerade in den Kreisen, die in jener sozialdemokratischen Versammlung vertreten waren, wäre ja der Chinese „das Lächerliche par excellence“, also habe die Referentin den Kaiser lächerlich machen wollen.

Gen. Luxemburg stellte darauf zunächst fest, dass die Versammlung unter freiem Himmel, auf einem Gartengrundstück stattfand, und zwar unter strömendem Regen und bei starkem Winde. Die Rednerin habe, um sich einigermaßen verständlich zu machen, mit größter Kraftanstrengung und lautester Stimme sprechen müssen, da sei es doch ein Unding, noch die Nuancen des Hohnes oder der Ironie herausgehört haben zu wollen. Zugleich wies Genossin L. energisch die Auffassung des Herrn Assessors in Bezug auf die Begriffe der Arbeiterkreise über die Chinesen zurück. Sie versicherte, dass die deutschen Arbeiter im Japaner und Chinesen den gleichberechtigten und ebenbürtigen Menschen und seine anders geartete Kultur ebenso achten wie jeden Europäer. Es sei vielmehr die eigene Ethik und Psychologie, die der Herr Assessor da der sozialdemokratischen Versammlung imputieren wolle.

Der Rechtsanwalt Dr. Löwenstein wollte nun Näheres über das „höhnische Gelächter“ der Versammlung erfahren. Auf seine direkte Frage, ob in der Versammlung wirklich gelacht wurde, ob der Zeuge es gehört hatte, antwortete der Herr Assessor, das sei „ein unterdrücktes Lachen“ gewesen, also eigentlich nicht hörbar, aber eben darin lag ja der Hohn … Sodann hielt der Verteidiger dem Zeugen entgegen, dass er nach der Aussage der Einwohner von Mülsen seinem Kutscher, der ihn zu jener Versammlung in Mülsen gefahren hatte, befohlen habe, zu warten mit den Worten: „er würde sehr bald mit der Versammlung fertig werden und zurückfahren“. Das zeige doch, dass der beaufsichtigende Herr Assessor direkt mit der Absicht in die Versammlung ging, sie möglichst bald so oder anders los zu werden, also nicht in der Versammlung war, um die Rede rund anzuhören und objektiv zu beurteilen. Die alsbald erfolgte Auflösung bestätigt ja auch diese Vermutung. Der Zeuge konnte auf diese wichtige Frage keine ausreichende Antwort geben: er könne sich nicht entsinnen, vielleicht – habe er den Wagen überhaupt nicht gebraucht.

Der zweite Zeuge der Staatsanwaltschaft, Gemeindevorsteher Sonntag, sagte unter Eid aus, wobei er Wort für Wort die Darstellung der Genossin Luxemburg bestätigte. Zur sichtbaren Überraschung der Anwesenden verwandelte er sich eigentlich in einen Entlastungszeugen für die Angeklagte. Und da erfolgte die folgende interessante Szene. Der Gerichtspräsident: Hat die Rednerin die Worte gesagt: Der Kaiser hat keine Ahnung von dem, was in Deutschland vorgeht? – Zeuge: „Nee, das hat sich nicht gesagt.“ – Präsident: Hat die Rednerin in höhnischem Tone gesprochen? – Zeuge: „Nee, nee, sie hat nicht höhnisch gesprochen. Sie hat so gesprochen, wie es sich gehört.“ – Präsident: Hat die Versammlung gelacht bei diesen Worten? – Zeuge: Nein, man hat nicht gelacht, man hat bloß laut Bravo! gerufen, wie immer in den sozialdemokratischen Versammlungen.“ – Der Gerichtspräsident dringt weiter in den Zeugen ein: „Aber der erste Zeuge, der Herr Assessor, hat doch ausgesagt, dass die Angeklagte höhnisch gesprochen hat.“ Darauf steht der Zeuge einige Zeit ratlos da, um schließlich zu sagen: Na so eigentlich, wenn man so verstehen will, da hat sie doch damit den Kaiser verhöhnen wollen.“ Nach diesem äußersten Resultat wurde der Zeuge entlassen. Der Staatsanwalt sah sich jedoch genötigt, auf diesen Zeugen zu verzichten und stützte sich in seinem Plädoyer nur auf den Herrn Assessor. Den Widerspruch in der Aussage seiner beiden Zeugen erklärte er durch den Unterschied im Bildungsgrad der beiden! Der Staatsanwalt stellte keinen Antrag auf ein bestimmtes Strafmaß, sondern forderte im Allgemeinen Bestrafung der Rednerin für Beleidigung und Verhöhnung des Kaisers nach §95 des Strafgesetzbuchs.

Für den Verteidiger war es ein leichtes, mit der Anklage fertig zu werden. In seinem über eine Stunde dauernden Plädoyer wies er die Anklage Schritt für Schritt in ihrer Nichtigkeit nach. Er stellte den schwankenden und stark subjektiv gefärbten Aussagen des Assessors die sicheren und logischen Aussagen des zweiten Zeugen und der Angeklagten entgegen, wies die Unsinnigkeit der Behauptung nach, die Angeklagte hätte dem Kaiser eine völlige Unkenntnis dessen, was in Deutschland vorgeht, zuschreiben wolle. Er setzte auseinander, dass die Berufung auf Japan, nach alledem, was jeder halbwegs Gebildete heute von den Kulturfortschritten Japans wissen müsse, durchaus keine Beleidigung für irgendjemand sein könne. Schließlich schrumpfe die ganze Anklage auf die Behauptung von dem „höhnischen Ton“ der Angeklagten zusammen. Es sei aber ein Unding, den Ton vor Gericht zu stellen. In den 12 Wählerversammlungen, die die Angeklagte außer dieser in Sachsen allein abgehalten hätte und in den ganzen 27 Versammlungen, in denen sie zur Wahlzeit gesprochen, habe sie nirgends Anlass zur Anklage gegeben. Hier fehle jeder sichere und objektive Tatbestand und die Freisprechung sei das einzig konsequente Ergebnis aus der Verhandlung. Für den Fall der Verurteilung plädierte der Verteidiger dringend auf Festung, da die inkulpierte Handlung der Angeklagte von jedem ehrenrührigen Moment frei sei.

Genossin Luxemburg wies noch in ihrem Schlusswort darauf hin, dass die für den Begriff der Majestätsbeleidigung, wie jeder Beleidigung, wesentliche vorsätzliche Kundgebung der Missachtung vollständig fehlte. Die Absicht, den Kaiser zu beleidigen, liege jedem Sozialdemokraten vollständig fern. Die Sozialdemokratie bekämpfe die Institutionen und nicht die Personen, die Monarchie und nicht die Person des Kaisers. Die Sozialdemokratie suche in den Versammlungen aufzuklären und nicht aufzuhetzen, schon deshalb sei ein Vorsatz der Beleidigung gänzlich ausgeschlossen.

Der Eindruck der Verhandlung war ein derartiger, dass im Publikum, das zum Teil aus Juristen bestand, der Freispruch allgemein erwartet wurde. Das Urteil lautete nach 1¼stündiger Beratung des Gerichts, wie gemeldet, auf drei Monate Gefängnis.

Man darf auf die schriftliche Begründung dieses Urteils gespannt sein.

Kommentare