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Rosa Luxemburg 19140120 Die künftige Revanche

Rosa Luxemburg: Die künftige Revanche

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 9 vom 20. Januar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 376-379]

Die Geschichte ist immer die größte Lehrmeisterin der Politik. Die gegenwärtige Zeitgeschichte aber führt einen deutlicheren Anschauungsunterricht als je.

Was haben die Vorgänge der jüngsten Tage bewiesen? Was haben die Militärs gezeigt, die auf der Zivilbevölkerung ungestraft herum trampeln, die Kriegsgerichte, die sich über den Reichskanzler lustig machen, der Reichskanzler, der das Misstrauensvotum der Volksvertretung mit einem Fußtritt erledigt, endlich das persönliche Regiment, das dem Lande einen Nasenstüber versetzt, indem es die Diktatur der Soldateska mit einem Orden schmückt? Sie alle haben binnen wenigen Tagen offen gezeigt, dass Gesetz und Recht in Deutschland Schall und Rauch geworden sind.

Aber die Zaberner Vorgänge haben diese Sachlage nicht geschaffen. Sie haben nur enthüllen und in blitzartiger Beleuchtung zeigen können, was ohne sie, was vor ihnen Tatsache geworden war. Die ungenierte, nackte Herrschaft der absolutistisch-militärischen Reaktion, ihr beispiellos provokatorisches Auftreten sind nur die Rückseite einer anderen Erscheinung: Sie bedeuten die völlige Ausschaltung des bürgerlichen Liberalismus aus dem öffentlichen Leben Deutschlands, die endgültige Abdankung der bürgerlichen Opposition. Nachdem es unzählige Male als Verfechter des liberalen Fortschritts versagt, hat das deutsche Bürgertum nunmehr auch als Hüter des kümmerlichen deutschen Rechtsstaats, des deutschen Konstitutionalismus offiziell seinen Abschied genommen. Und je mehr leere Worte es im Reichstag und in der Presse macht, umso mehr unterstreicht es die eigene Unfähigkeit auch nur zu einer einzigen wirksamen Tat.

Die aus dem Moder der Zeiten durch die schneidigen Militärs von Zabern hervorgeholte Kabinettsorder von 1820 ist somit für die Sachlage in ihrem ganzen Umfang symbolisch: Der Vormärz gilt jetzt in Deutschland, und das reichsdeutsche Parlament nähert sich an politischer Bedeutung und geschichtlicher Funktion um einen Schritt mehr der russischen Duma. Die historische Dialektik weiß wieder einmal die schroffen Gegensätze des liberalen Formelkrams: Absolutismus und Parlamentarismus, zu einer artigen Synthese zu verschmelzen, indem sie den Parlamentarismus zum dünnen Feigenblatt des militärischen Absolutismus macht.

Der bürgerliche Parlamentarismus ist eben nur eine wirkliche politische Macht, wo zwischen Bourgeoisie und Feudalaristokratie ernsthafte Klassengegensätze bestehen, große Klassenkämpfe ausgefochten werden. Wo hingegen die Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung dahin führen, das kapitalistische Bürgertum mit dem feudalen Junkertum durch übermächtige Gemeinsamkeit der Klasseninteressen politisch zusammenzuschweißen, da schwindet die geschichtliche Grundlage des Parlamentarismus, und es ist nur eine Frage der Umstände, wann seine innere Aushöhlung an den Tag tritt. Im heutigen Deutschen Reich begann dieses Zusammenschweißen der Bourgeoisie mit dem Junkertum schon bei jenem denkwürdigen Handel zwischen den Nationalliberalen und konservativen Maklern um den Zolltarif von 1877, bei dem man nach dem Zeugnis eines Abgeordneten in der Kulisse des Reichstags hören konnte: „Geben Sie 50 für Roggen, gebe ich den Eisenzoll", oder: „Verwerfen Sie die Herabsetzung des Eisenzolls, so gebe ich Ihnen den Roggen." Dieses Zusammenschweißen machte einen Schritt weiter mit dem Sozialistengesetz. Es wurde gestärkt 1899 durch das große Flottengesetz, mit dem das Zentrum endgültig aus dem Lager der Opposition in das Regierungslager hinüber trat. Es wurde vollendet durch den Hungerzolltarif 1902, als der Freisinn durch seinen Führer Eugen Richter den junkerlichen Krippenreitern den Steigbügel hielt. Es ist besiegelt worden mit der imperialistischen Militärvorlage des Jahres 1913, die den ganzen bürgerlichen Reichstag in Sklavenstellung zu Füßen des Absolutismus gefunden hat. Jedes Jahr, jede große Vorlage, jeder neue Raubzug gegen die Volksmasse führte seit den 70er Jahren Schritt um Schritt die Nationalliberalen, das Zentrum, den Freisinn ins Lager der junkerlichen Reaktion – et nec locus ubi Troja fuit: Heute ist nichts geblieben, wo einst das bürgerlich-oppositionelle Troja stand!

Und heute wundern sich die braven liberalen Helden bass, sie reiben sich die Augen, wenn ihnen schallende Ohrfeigen vom Absolutismus und Junkertum auf die Wangen klatschen! Sie gedachten selbander mit dem Junkertum den „Rechtsstaat" gegen das Proletariat schiedlich-friedlich auszubeuten und haben nicht bemerkt, wie ihnen Junkertum und Absolutismus den Rechtsstaat von innen wie Mäuse zernagt haben. Die ahnungslosen Engel haben nicht gewusst, dass ein bürgerliches Parlament ohne bürgerliche Opposition ein Unding, dass eine bürgerliche Volksvertretung, die den Etat stets einstimmig votiert und alle Regierungsvorlagen gehorsamst apportiert, ein politisches Kasperletheater, dass ein bürgerlicher Rechtsstaat ohne bürgerliche Klassenkämpfe eine hohle Nuss, ein ausgeblasenes Ei ist, das jeder Kürassierstiefel zum Zeitvertreib zertreten kann.

Es ist das Fazit der folgerichtigen Entwicklung eines halben Jahrhunderts kapitalistischer Produktion in Deutschland, was in und um Zabern zutage tritt. Die junkerlich-absolutistische Reaktion rechnet nicht mehr mit der bürgerlichen Opposition. Sie rechnet aber noch nicht mit der proletarischen Opposition. Die Wirkungslosigkeit der nurparlamentarischen Widerstände hat sich endgültig erwiesen. Die Wirksamkeit des Massenwiderstandes aber hat die Reaktion noch nicht zu kosten bekommen. Das ist es, was der augenblicklichen Lage in Deutschland mit ihrem unerträglichen Druck das besondere Kennzeichen gibt. Das ist, was den Übermut und die herausfordernde Haltung der Reaktion erklärt.

Und in der Tat steht heute so ziemlich alles auf dem Spiel: Nach der öffentlichen Sicherheit und dem persönlichen Recht, die im Belagerungszustand sind, nach dem internationalen Frieden, der durch die Abenteuerlust und das Säbelfuchteln der herrschenden Soldateska bedroht ist, nach dem Koalitionsrecht, auf das ein Attentat vorbereitet wird, kommt bald die Reihe an das allgemeine Wahlrecht. Nach der Kraftprobe von Zabern wird sich die alte Garde der Feinde des Reichstagswahlrechts nicht mehr zu genieren brauchen.

Aber diese endgültige Ausschaltung der bürgerlichen Opposition hat nur zur Folge, dass immer näher und unerbittlicher die direkte Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Reaktion und den Arbeitermassen heranrückt. Gerade die brutale Zerrüttung des Rechtsstaats und des Parlamentarismus führt dazu, dass die Arbeiter, um Recht und Gesetz zu schützen, zu ihren Machtquellen werden greifen müssen. Wir brauchen und wollen keine „Katastrophen". Dass es die herrschenden Klassen sind, die allzumal zu Katastrophen treiben, dafür ist Deutschland heute ein klassisches Beispiel. Durch das Niedertreten der bürgerlichen Opposition, durch die äußerste Erniedrigung des Parlaments, durch Zerschmetterung aller Rechtsgarantien sorgen die heutigen Zustände selbst dafür, dass die entscheidende Auseinandersetzung des Proletariats mit der Reaktion nicht im engen Rahmen und auf dem schwankenden Boden des parlamentarischen Rechts, sondern auf jenem festen Grund ausgefochten wird, wo das ungeschriebene historische Recht mit der realen Macht der Arbeiterklasse ihre gemeinsame Wurzel haben.

Die Revanche für den heutigen Triumph hat die Reaktion in Deutschland nur von der Arbeiterschaft, von dieser aber mit tödlicher Sicherheit zu erwarten. Indem jedoch das klassenbewusste Proletariat in seiner ganzen breiten Front den Kampf aufnehmen wird, muss der Kampf selbst dadurch an Tiefe und Tragweite gewinnen. Mit dem Umfang und der Massenhaftigkeit der Bewegung wächst auch die Gründlichkeit der Masse, deren Bewegung sie ist, hat einst Marx gesagt. Die Arbeiterklasse kann nicht um den bürgerlichen Rechtsstaat kämpfen, ohne dem Kampfe ihren revolutionären Klassencharakter aufzudrücken. Sie kann nicht den bürgerlichen Parlamentarismus schützen, ohne zugleich an der bürgerlichen Klassenherrschaft nach Kräften zu rütteln.

Dass die heutigen Vertreter der absolutistischen Militärdiktatur in ihrem wilden Triumph über die bürgerliche Rechtsordnung in diese Auseinandersetzung mit den Arbeitermassen mit verhängten Zügeln sprengen und so den Gang der Dinge beschleunigen, an dessen Ende unser Sieg historisch verbürgt ist, beweist, dass auch sie nur ein Teil von jener Kraft sind, die stets das Böse will und oft das Gute schafft.

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