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Rosa Luxemburg 19140305 Die Proletarierin

Rosa Luxemburg: Die Proletarierin

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 27 vom 5. März 1914. Nach Rosa Luxemburg Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 410-413]

Der Tag der Proletarierin eröffnet die Woche der Sozialdemokratie.1 Die Partei der Enterbten stellt ihre weibliche Kolonne vor die Front, indem sie zu dem heißen Achttagewerk auszieht, um den Samen des Sozialismus auf neue Äcker zu streuen. Und der Ruf nach politischer Gleichberechtigung der Frauen ist der erste, den sie erhebt, indem sie sich anschickt, für die Forderungen der gesamten Arbeiterklasse neue Anhängerscharen zu werben.

Die moderne Lohnproletarierin tritt so heute auf die öffentliche Bühne als die Vorkämpferin der Arbeiterklasse und zugleich des ganzen weiblichen Geschlechts, die erste Vorkämpferin seit Jahrtausenden.

Schwer hat die Frau des Volkes seit jeher gearbeitet. In der wilden Horde schleppt sie Lasten, sammelt Lebensmittel; in dem primitiven Dorfe pflanzt sie Getreide, mahlt, formt Töpfe; in der Antike als Sklavin bedient sie die Herrschaft und säugt deren Sprösslinge mit ihrer Brust; im Mittelalter front sie in der Spinnstube für den Feudalherrn. Aber seit das Privateigentum besteht, arbeitet die Frau des Volkes meist getrennt von der großen Werkstatt der gesellschaftlichen Produktion, also auch der Kultur, eingepfercht in die häusliche Enge eines armseligen Familiendaseins. Erst der Kapitalismus hat sie aus der Familie gerissen und in das Joch der gesellschaftlichen Produktion gespannt, auf fremde Äcker, in die Werkstätten, auf Bauten, in Büros, in Fabriken und Warenhäuser getrieben. Als bürgerliche Frau ist das Weib ein Parasit der Gesellschaft, ihre Funktion besteht nur im Mitverzehren der Früchte der Ausbeutung; als Kleinbürgerin ist sie ein Lasttier der Familie. In der modernen Proletarierin wird das Weib erst zum Menschen, denn der Kampf macht erst den Menschen, der Anteil an der Kulturarbeit, an der Geschichte der Menschheit.

Für die besitzende bürgerliche Frau ist ihr Haus die Welt. Für die Proletarierin ist die ganze Welt ihr Haus, die Welt mit ihrem Leid und ihrer Freude, mit ihrer kalten Grausamkeit und ihrer rauen Größe. Die Proletarierin wandert mit dem Tunnelarbeiter aus Italien nach der Schweiz, kampiert in Baracken und trocknet trällernd ihre Säuglingswäsche neben Felsen, die mit Dynamitpatronen in die Luft fliegen. Als Saisonlandarbeiterin sitzt sie im Frühjahr im Lärm der Bahnhöfe auf ihrem bescheidenen Bündel, ein Tüchlein auf dem schlicht gescheitelten Kopfe, und wartet geduldig, um vom Osten nach dem Westen verladen zu werden. Auf dem Zwischendeck des Ozeandampfers wandert sie mit jeder Welle, die das Elend der Krise von Europa nach Amerika spült, in der buntsprachigen Menge hungernder Proletarier, um, wenn die rückläufige Welle einer amerikanischen Krise aufschäumt, nach der heimatlichen Misere Europas, zu neuen Hoffnungen und Enttäuschungen, zur neuen Jagd nach Arbeit und Brot zurückzukehren.

Die bürgerliche Frau hat kein wirkliches Interesse an politischen Rechten, weil sie keine wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, weil sie die fertigen Früchte der Klassenherrschaft genießt. Die Forderung nach weiblicher Gleichberechtigung ist, wo sie sich bei bürgerlichen Frauen regt, reine Ideologie einzelner schwacher Gruppen, ohne materielle Wurzeln, ein Phantom des Gegensatzes zwischen Weib und Mann, eine Schrulle. Daher der possenhafte Charakter der Suffragettenbewegung.

Die Proletarierin braucht politische Rechte, weil sie dieselbe wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, ebenso für das Kapital rackert, ebenso den Staat erhält, ebenso von ihm ausgesogen und niedergehalten wird wie der männliche Proletarier. Sie hat dieselben Interessen und benötigt zu ihrer Verfechtung dieselben Waffen. Ihre politischen Forderungen wurzeln tief in dem gesellschaftlichen Abgrund, der die Klasse der Ausgebeuteten von der Klasse der Ausbeuter trennt, nicht im Gegensatz von Mann und Frau, sondern im Gegensatz von Kapital und Arbeit.

Formell fügt sich das politische Recht der Frau in den bürgerlichen Staat ganz harmonisch. Das Beispiel Finnlands, amerikanischer Staaten, einzelner Gemeinden beweist, dass die Gleichberechtigung der Frauen den Staat noch nicht umstürzt, die Herrschaft des Kapitals nicht antastet. Da aber das politische Recht der Frau heute tatsächlich eine rein proletarische Klassenforderung ist, so ist es für das heutige kapitalistische Deutschland wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Wie die Republik, wie die Miliz, wie der Achtstundentag kann das Frauenwahlrecht nur zusammen mit dem ganzen Klassenkampf des Proletariats siegen oder unterliegen, kann es nur mit proletarischen Kampfmethoden und Machtmitteln verfochten werden.

Bürgerliche Frauenrechtlerinnen wollen politische Rechte erwerben, um sich dann im politischen Leben zu betätigen. Die proletarische Frau kann nur der Bahn des Arbeiterkampfes folgen, der umgekehrt jeden Fußbreit tatsächlicher Macht erringt, um dadurch erst die geschriebenen Rechte zu erwerben. Im Anfang jedes sozialen Aufstiegs war die Tat. Die proletarischen Frauen müssen im politischen Leben durch ihre Betätigung auf allen Gebieten festen Fuß fassen, nur so schaffen sie sich ein Fundament für ihre Rechte. Die herrschende Gesellschaft verweigert ihnen den Zutritt zu den Tempeln ihrer Gesetzgebung, aber eine andere Großmacht der Zeit öffnet ihnen breit die Tore – die Sozialdemokratische Partei. Hier, in Reih' und Glied der Organisation, breitet sich vor der proletarischen Frau ein unübersehbares Feld politischer Arbeit und politischer Macht. Hier allein ist die Frau ein gleichberechtigter Faktor. Durch die Sozialdemokratie wird sie in die Werkstatt der Geschichte eingeführt, und hier, wo zyklopische Kräfte hämmern, erstreitet sie sich tatsächliche Gleichberechtigung, auch wenn ihr das papierne Recht einer bürgerlichen Verfassung versagt wird. Hier rüttelt die arbeitende Frau neben dem Manne an den Säulen der bestehenden Gesellschaftsordnung, und bevor ihr diese den Schein ihres Rechts zugesteht, wird sie helfen, diese Gesellschaftsordnung unter Trümmern zu begraben.

Die Werkstatt der Zukunft bedarf vieler Hände und heißen Atems. Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung. Da stöhnt das Weib des Kleinbauern, das unter der Last des Lebens schier zusammenbricht. Dort in Deutsch-Afrika in der Kalahariwüste bleichen die Knochen wehrloser Hereroweiber, die von der deutschen Soldateska in den grausen Tod von Hunger und Durst gehetzt worden sind. Jenseits des Ozeans, in den hohen Felsen des Putumayo, verhallen, von der Welt ungehört, Todesschreie gemarterter Indianerweiber in den Gummiplantagen internationaler Kapitalisten.

Proletarierin, Ärmste der Armen, Rechtloseste der Rechtlosen, eile zum Kampfe um die Befreiung des Frauengeschlechts und des Menschengeschlechts von den Schrecken der Kapitalsherrschaft. Die Sozialdemokratie hat dir den Ehrenplatz angewiesen. Eile vor die Front, auf die Schanze!

1 Im Jahre 1914 war der Internationale Frauentag Auftakt der „Roten Woche“, der Abonnenten- und Mitgliederwerbewoche der deutschen Sozialdemokratie. Hintergrund war, dass die Sozialdemokratie die Arbeiterklasse jahrelang auf die Reichstagswahlen orientiert hatte. Als die Wahlen Anfang 1912 dann stattfanden, wurde die Sozialdemokratie zwar stärkste Fraktion, konnte aber gegen die geschlossene Phalanx der proimperialistischen Parteien wenig ausrichten. Die Enttäuschung der übertriebenen Erwartungen führten zu Katzenjammer. Deshalb beschloss die Sozialdemokratie, zum Abschluss des Finanzjahrs 1913/14 am 31.März 1914 durch eine „Rote Woche“ in der zweiten Märzwoche 1914 ihre Mitglieder- und Zeitungsabonnenten-Statistik aufzuhübschen und den Internationalen Frauentag als Auftakt auf den 8. März zu legen

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