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Rosa Luxemburg 19140917 Gegen den Franktireurkrieg

Rosa Luxemburg: Gegen den Franktireurkrieg1

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 100 vom 17. September 1914. Nach Gesammelte Werke, Band 4, S. 6-8]

Im Waffenlärm schweigen die Gesetze, sagt ein lateinisches Sprichwort. Es gibt jedoch für die Arbeitenden aller Länder Gesetze der höheren Klassenmoral, der sozialdemokratischen Gesittung, die auch im heftigsten Donner der Geschütze nicht verstummen sollten. Die erste wissenschaftliche Urkunde der modernen Bewegung des Proletariats, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, schließt mit den Worten: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Dieses Ziel durchleuchtete bis jetzt das ganze Wesen der deutschen Sozialdemokratie wie der Bruderparteien in den anderen Ländern. Es war stets der tiefste Herzenston und der edelste Seelenklang, der aus den Massen der Ausgebeuteten und Unterdrückten antwortete, wenn man sie an die Bande der Brüderlichkeit mahnte, die sie mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten aller anderen Länder unauflöslich zu einem großen Weltbund vereinigen. Der Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges zerriss den Bund, und der furchtbare Schlund der allerneuesten 42-Zentimeter-Geschütze aus Krupps Werkstätten überdröhnt heute den alten Ruf aus der Marx-Engelsschen Werkstatt des Kommunismus. Aber gewisse moralische Schanzen, gewisse Wälle des internationalen Anstands dürften selbst vor diesem Höllengetöse des militärischen Ansturms nicht einstürzen.

Das „Hamburger Echo" bringt – allerdings ermuntert durch den Protest des Parteivorstandes gegen ein Manifest der französischen und belgischen Genossen2 – einen langen pathetischen Artikel gegen die sozialistische Internationale.3 Das „Hamburger Echo" findet das Verhalten unserer Fraktion und der Partei im gegenwärtigen Kriege tadellos und über jedes Lob erhaben. Das ist sein gutes Recht. Wer wird ihm auch seine Auffassung unter den heutigen Verhältnissen streitig machen dürfen! Der Belagerungszustand hat mit inneren Auseinandersetzungen kurzen Prozess gemacht. Aber gerade deshalb müsste gewisse Rücksicht auf Andersdenkende und -fühlende in den eigenen Reihen es jedem Parteiblatt verbieten, solche scharfen Ausfälle gegen die ausländischen Genossen zu veröffentlichen, wie sie das „Hamburger Echo" gebracht hat.

Die französischen und belgischen Genossen haben ihre Auffassung über die Ursachen und den Charakter des gegenwärtigen Krieges zum Ausdruck gebracht, indem sie sich und ihre Länder als die Angegriffenen betrachten, sie haben sich über gewisse Vorgänge beklagt wie die bekannten in Belgien4 Die italienischen, schweizerischen, holländischen, schwedischen Genossen haben so ziemlich dieselbe Auffassung und können manches, was vorgegangen ist, nicht begreifen. Kein Wunder! Sieht doch die Welt –

Zerschnitten sind vorläufig die Bande der Internationale, übertäubt vom Donner der Geschütze ist der Ruf nach der Verbrüderung aller Proletarier. Aber aus tiefster Seele möchten wir unseren Brüdern im Ausland die Versicherung geben, dass nicht alle deutschen Sozialdemokraten so denken wie das „Hamburger Echo", dass sich viele – vielleicht die Mehrheit – danach von Herzen sehnen, ihnen wieder die Bruderhand drücken, ihnen manches erklären und manches abbitten zu dürfen.

Siege verklingen, Kriege vergehen, und was nach ihnen bleibt, sind zunächst Leichenhügel, Trümmer, Brandstätten, Verwüstung und Elend. Früher oder später werden wir wieder mit unseren Brüdern von der Internationale Auge in Auge stehen. Wir sollten eingedenk sein, diesen Augenblick nicht noch bitterer zu machen, als er ohnehin sein wird. Wir sollten den regulären Krieg der imperialistischen Regierungen nicht durch einen brudermörderischen Franktireurkrieg der sozialistischen Presse begleiten. Wir sollten nicht vergessen, dass wir trotz der einst gefüllten Kassen und der großen Zahlen unserer Organisationen ohne die Internationale und gegen die Internationale als Sozialisten moralisch nichts sind und dass die Macht, die Ehre, die Zukunft der deutschen Arbeiterklasse in dem Bunde mit dem Weltproletariat wurzelte und wurzeln bleibt.

1 Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Aus einem Brief Rosa Luxemburgs vom 13. September 1914 an Franz Mehring geht hervor, dass sie die Verfasserin ist. (Siehe Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL 2/44, Bl. 74-77).

2 Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie hatte sich In einer Erklärung vom 9. September 1914 scharf gegen einen Aufruf an das deutsche Volk gewandt, der im August 1914 von belgischen und französischen Sozialisten verfasst worden war.

3 Siehe: Eine notwendige Erklärung. In: Hamburger Echo, Nr. 211 vom 10. September 1914.

4 Gegen Belgien, das am 4. August 1914 unter Bruch des Völkerrechts vom deutschen Imperialismus überfallen worden war, wurde der Krieg mit beispielloser Brutalität geführt. Um den Widerstand des belgischen Volkes zu brechen, wurden zahlreiche Ortschaften niedergebrannt und Geiseln aus der Zivilbevölkerung erschossen. Ende August 1914 hatten deutsche Truppen große Teile der Universitätsstadt Leuven zerstört und unersetzliche Kulturwerte vernichtet.

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