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Rosa Luxemburg 19140930 Trümmer

Rosa Luxemburg: Trümmer1

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 112 vom 30. September 1914. Nach Gesammelte Werke, Band 4, S. 9-11]

Der zermalmende Zug des gegenwärtigen Weltkrieges hinterlässt allüberall auf weiten Länderstrecken und Meeren zunächst nichts hinter sich als Trümmer. Trümmer von Städten und Dörfern, Trümmer von zerschmetterten Festungen, Geschützen und Gewehren, Trümmer von riesigen Schlachtschiffen und kleinen Torpedobooten. Und dazwischen Trümmer von zerschmettertem Menschenglück. Hekatomben zerfetzter Menschenleiber, gemischt mit grauenhaftem Aas verendeter Pferde, Hunde und verhungertem, verkohltem Vieh. Kriege ziehen sich wie ein blutiger Faden durch die ganze Jahrtausende alte Geschichte der Klassengesellschaft. Solange es Privateigentum, Ausbeutung, Reichtum und Armut gibt, sind Kriege unvermeidlich, und jeder Krieg verbreitet um sich Tod und Pesthauch, Vernichtung und Elend. Der gegenwärtige Weltkrieg übertrifft jedoch alles Bisherige an Dimensionen, an Wucht, an tief greifender Wirkung. Nie waren so viele Völker, Länder, Weltteile von den Flammen des Krieges auf einmal umfasst, nie waren so gewaltige technische Mittel in den Dienst der Vernichtung gespannt, nie waren so reiche Schätze der materiellen Kultur dem höllischen Sturm ausgesetzt. Der moderne Kapitalismus heult in dem jetzigen Weltorkan sein satanisches Triumphlied: Nur er vermochte in wenigen Jahrzehnten die schimmernden Reichtümer und die glänzenden Kulturwerke aufzutürmen, um sie dann in wenigen Monaten mit den raffiniertesten Mitteln in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Nur er hat es fertig gebracht, den Menschen zum Fürsten der Länder, Meere und Lüfte, zum lachenden Halbgott und Beherrscher aller Elemente zu machen, um ihn dann unter den Trümmern der eigenen Herrlichkeit in selbst geschaffener Qual wie einen Bettler elend verrecken zu lassen. Die schreienden inneren Widersprüche dieses Gesellschaftssystems, seine aufrüttelnde und umwälzende Kraft, das scharfe Auf und Ab seines Rhythmus, nie waren sie so deutlich, so hinreißend zu spüren wie in diesem Weltkriege – dem größten Vernichtungswerk des Kapitalismus seit zwei Jahrhunderten.

Aber jeder Krieg vernichtet nicht bloß leibliche Güter, nicht bloß materielle Kulturwerte. Er ist zugleich ein respektloser Stürmer gegen hergebrachte Begriffe. Alte Heiligtümer, verehrte Einrichtungen, gläubig nachgesprochene Formeln werden von seinem eisernen Besen auf denselben Schutthaufen geworfen, auf dem die Reste zerschossener Kanonen, Gewehre, Tornister und sonstiger Kriegsabfall lagern. Und auch in dieser Hinsicht übertrifft der gegenwärtige Krieg alle seine Vorgänger an Rücksichtslosigkeit und Wucht seiner Wirkung.

Jahrzehntelang waren die europäischen Völker in dem scheinbaren Frieden seit dem preußisch-französischen Kriege in gewissen Begriffen erzogen, an bestimmte Vorstellungen gewöhnt. Dem „europäischen Gleichgewichte" entsprach ein Gleichgewicht der geltenden Begriffe von dem, was gut und was böse, was erlaubt und was verpönt, was löblich und was schmachvoll sei. Und dieses System der Begriffe war jedem Bürger von Kindesbeinen auf geläufig, es war ihm in der Schule, in der bürgerlichen Presse, im Parlament immer wieder eingeflößt. Zu diesem System gehörte z. B. die Vorstellung von den unverbrüchlichen Freundschaftsbanden, die alle Souveräne auf den Thronen zu einer großen Familie mit solidarischen Interessen verband. Dazu gehörte die Vorstellung von der unantastbaren Geltung des Völkerrechtes, der Staatsverträge, der diplomatischen Bündnisse. Der Krieg hat da wenige Wochen gewütet, und überall fliegen klägliche Fetzen herum. Das „Hosianna" und das „Kreuzige!" haben scharf gewechselt. Bürgerliche Blätter zeigen schwarz auf weiß, dass das „perfide Albion" der Hauptbösewicht ist, sie decken die Scheußlichkeiten des Zarenregimentes in Russland auf, sie bringen erfreuliche Meldungen von dem beginnenden Aufruhr in den englischen und französischen Kolonien. Ein Aufruf an die russischen Juden verheißt ihnen Befreiung und Menschenrechte im jüdischen Jargon2 im Namen des Oberkommandos „von die beide große Armees". In dem vom deutschen Heere besetzten Gebiete Polens wird ein kleines Büchlein in polnischer Sprache verbreitet, das dem Volke die Grausamkeiten des russischen Regimes drastisch mit Illustrationen vor die Augen führt; auf dem farbigen Titelblatt des Büchleins ist in der Mitte die Mutter Gottes sichtbar, bekanntlich vom einfachen Volke als die „polnische Königin" verehrt, darüber rechts das Bild des Papstes, links das Kaiser Wilhelms. Unsere Freunde wie unsere Feinde von heute sind durchaus nicht die von gestern, das Gute und das Böse, wie sie offizielle Geltung in der Gesellschaft hatten, haben die Plätze vielfach gewechselt.

So wird die Welt nach dem Kriege gründlich verändert aussehen. Freilich werden emsige Hände die Trümmer wieder aufzurichten suchen. Aber materieller Ruin lässt sich eher wieder gutmachen als moralischer. Zerschmetterte Kanonen kann man durch bessere ersetzen, zerfetzte Begriffe und vernichteten Glauben kann man nicht wieder zusammen leimen. So müssen die sozialistischen Arbeiter und Arbeiterinnen in allen Ländern schauen, dass sie mitten unter den Trümmern der bürgerlichen Gesellschaft ihre heiligen Ideale nicht auch in Trümmer untergehen lassen. In ihren Herzen müssen sie die alten Lehren, den alten Glauben treu und sorgsam hüten als das einzige, was hinüber gerettet werden muss. Arg genug hat schon die sozialistische Ideenwelt in dem Kriegssturm gelitten. Jetzt gilt dem aufgeklärten Proletarier, ihm, der die Basis der Gesellschaft trotz alledem ist, das Wort des Dichters:

Wir tragen

Die Trümmern ins Nichts hinüber

Und klagen

Über die verlorne Schöne.

Mächtiger

Der Erdensöhne,

Prächtiger

Baue sie wieder,

In deinem Busen baue sie auf!3

1 Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Auskunft von Professor Dr. h. c. Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist Rosa Luxemburg die Verfasserin.

2 Die jiddische Sprache wurde damals oft als „Jargon“ bezeichnet

3 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen IV, Berlin 1965, S. 199.

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