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Rosa Luxemburg 19170407 Russische Probleme

Rosa Luxemburg: Russische Probleme

[Der Kampf (Duisburg), Nr. 44 vom 7. April 1917, gezeichnet: Gracchus. Nach Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 255-257]

Jetzt, nachdem das Bild der russischen Revolution und namentlich ihres Werkes trotz aller verhüllenden, mystifizierenden Zutaten der interessierten bürgerlichen Berichterstatter klar und scharf zutage tritt, lassen sich einige Grundzüge der gewaltigen Geschehnisse aus dem Wust der Einzelheiten herausheben und festhalten.

Russland bestätigt in diesem Augenblick wieder einmal die alte historische Erfahrung: Es gibt nichts Unwahrscheinlicheres, Unmöglicheres, Phantastischeres als eine Revolution, noch eine Stunde, bevor sie ausbricht, und es gibt nichts Einfacheres, Natürlicheres und Selbstverständlicheres als eine Revolution, nachdem sie ihre erste Schlacht geschlagen und ihren ersten Sieg errungen hat. So fleißig namentlich in der deutschen Presse seit Jahr und Tag über innere Unruhen, Krisen, Gärungen im Zarenreich berichtet worden ist, steht die deutsche Öffentlichkeit wie die ganze Welt in diesem Augenblick doch sichtbar atemlos vor dem plötzlichen gewaltigen Schauspiel der russischen Revolution. Tausend Gründe hätten sich noch eine Woche vor ihrem Ausbruch gegen ihre Möglichkeit anführen lassen. Das Volk durch den furchtbaren Krieg, die Not und das Elend niedergedrückt. Die bürgerlichen Klassen durch die Erinnerungen an die Revolution vor zehn Jahren für immer von dem Freiheitstraum kuriert und obendrein durch imperialistische Eroberungspläne an den Zarismus gekettet. Die Arbeiterklasse in ihren breiten Kreisen demoralisiert durch den vom Kriege ausgelösten nationalistischen Furor, in ihrem besten sozialistischen Kerntrupp durch den Aderlass des Krieges dezimiert, durch die Säbeldiktatur zersprengt, ohne Organisation, ohne Presse, ohne Führer. – Wie zwei mal zwei vier ist, so ließ sich haarklein nachweisen, dass in Russland heute wohl Verzweiflungsausbrüche und Anarchie möglich, eine moderne, zielklare, ideal gerichtete politische Revolution hingegen platterdings undenkbar war. Und nun? Alles Lügen, Worte, Geschwätz! Die Revolution hat sich legitimiert auf dem einzigen Wege, wie sich in der Geschichte jede notwendige Bewegung legitimiert: durch Kampf und Sieg.

Zwei Züge überraschen vornehmlich die europäische Öffentlichkeit in den russischen Ereignissen: ihr rascher Siegeszug und der Radikalismus, den sie schon vom ersten Moment zeigen. Hat sich doch bereits die aus lauter lendenlahmen bürgerlichen Elementen bestehende Provisorische Regierung für die demokratische Republik ausgesprochen! Aber diese beiden Züge können nur den oberflächlichen Blick des Philisters frappieren, der nie die tieferen historischen Zusammenhänge zwischen heute und gestern bemerkt. Wer hingegen im Auge behält, dass die Revolution vom März 1917 nur eine durch die Konterrevolution und dann durch den Weltkrieg aufgehaltene Fortsetzung der Revolution von 1905 bis 1907 ist, für den kann weder ihr rascher Sieg noch ihr entschlossenes Vorgehen eine Überraschung sein. Tritt sie doch jetzt einfach als reife Frucht der Mühen, Kämpfe und Opfer der zehn letzten Jahre aus dem Schoße der russischen Gesellschaft hervor und ist so ein tröstlicher Beweis, dass nicht ein Tropfen Blutes, der in dem furchtbaren Jahrzehnt von unseren russischen Brüdern für die Sache der Freiheit vergossen worden, dass nicht ein Tag der Kerker- und Zuchthauspein, die von so vielen russischen Genossen erduldet worden, vergeblich geopfert war. Die Freiheit, die sie jetzt genießen, sie haben sie reichlich verdient und reichlich bezahlt.

Der frappante Radikalismus der russischen Liberalen, die sich plötzlich vom verwaschensten konstitutionellen Programm zur Republik gemausert haben, sowie weiter die Zustimmung der russischen Nationalliberalen, ja bis fast zu den Konservativen zu diesem heftigen Ruck nach links ist an sich wiederum eine Überraschung nur für den Philister, dem die im parlamentarischen Alltag geprägten Losungen, Programme und Physiognomien als ewige Wahrheiten gelten. Der geschichtlich Gebildete hingegen sieht hier bloß lächelnd eine getreue Wiederholung der Erfahrungen aus der englischen, französischen und der Märzrevolution: dass nämlich in Sturmzeiten die Haltung sämtlicher Klassen und Parteien von der Macht und der Haltung der radikalsten, d. h. der Arbeiterklasse abhängt. Je kühner diese ihre Ziele steckt und je mehr sie bereit ist, ihre ganze Macht hinter diese Ziele zu setzen, um so weiter nach links rückt die ganze bürgerliche Phalanx ihr nach.

Freilich, die russischen Arbeiter haben keine Organisationen, keine Wahlvereine, so gut wie keine Gewerkschaften, keine Presse. Aber sie haben das, was für ihre Macht und ihren Einfluss entscheidend ist: frischen Kampfgeist, entschlossenen Willen und grenzenlosen Opfermut für die Ideale des Sozialismus; sie haben jene Eigenschaften, ohne die der schönste Organisationsapparat wertloser Plunder und totes Gewicht am Bein der proletarischen Masse ist. Freilich, ohne Organisation kann die Arbeiterklasse nicht lange aktionsfähig sein. Wir sind deshalb so sicher, als ob wir es mit eigenen Augen sehen würden, dass in diesem Moment in Petersburg, Moskau, in ganz Russland die Arbeiterschaft mit fieberhafter Hast dabei ist, sich die Organisation zu schaffen, politische Vereine, Gewerkschaften, Bildungsinstitute, Presse, den ganzen Apparat. Wie vor zehn Jahren, wird auch jetzt die erste Geste des revolutionären russischen Proletariats sein, in kürzester Frist alle Mängel der Organisation aufzuholen. Und eine solche aus dem Kampf geborene, in seinem Feuer gestählte Organisation wird sich sicher als wahrer Panzer der Macht, nicht als Zwangsjacke der Ohnmacht erweisen.

Dem russischen Proletariat ist sein Weg in der heutigen Situation klar vorgezeichnet. So stark und radikal es die politischen und sozialen Forderungen vertreten muss, jede dieser Forderungen wie das ganze Werk der Revolution hängt vor allem an der Losung: Schluss mit dem Kriege! Die russischen Arbeiter müssen die Erringung des Friedens naturgemäß ihrer ganzen Aktion vermählen, ja voranstellen, und sie tun es ganz sicherlich schon jetzt. Damit geraten sie aber in den ersten großen Konflikt mit der eigenen Bourgeoisie, in einen scharfen Klassenkampf gegen den Feind im eigenen Lande.

Es wird sich zeigen, ob das russische Proletariat, das sicher keine Opfer scheuen wird, in diesem Kampf allein bluten und vielleicht verbluten soll für die Sache des Friedens, der ja zugleich Sache des internationalen Sozialismus ist.

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