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Rosa Luxemburg 19090911 Das Begräbnis der Maifeier

Rosa Luxemburg: Das Begräbnis der Maifeier

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 11. September 1909. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 284-288]

Die Tagesordnung des Parteitags enthält in diesem Jahre hauptsächlich Sichtung der vollbrachten Arbeit der Partei auf ihren verschiedenen Tätigkeitsgebieten: der parlamentarischen, organisatorischen und agitatorischen Arbeit. Neue taktische Aufgaben oder theoretisch-prinzipielle Fragen stehen nicht zur Verhandlung, und die zahlreichen Anträge zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung zeigen leider auch, das muss man gestehen, kein besonders reges Bild der geistigen Arbeit in diesem Moment. Ein Gegenstand jedoch kann den Leipziger Parteitag leicht zu einem Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeiterbewegung machen: es ist dies die Lösung, die er der Frage der Maifeier geben wird. Denn darüber muss man sich klar sein: der Leipziger Parteitag ist berufen, nicht über diese oder jene nebensächlichen Einzelheiten in der Ausführung der Maifeier, nicht über diese oder andere Art der Unterstützung der Maiopfer zu befinden, sondern über die Kardinalfrage: soll die Maifeier, wie sie seit Jahrzehnten zum ehernen Bestand der sozialdemokratischen Kampftaktik in Deutschland und zum sozialistischen Evangelium in der ganzen Welt gehört, aufrechterhalten oder soll sie endgültig preisgegeben werden. Es ist ein Stück „Revision", das hier wieder der Partei zugemutet wird, und zwar Revision nicht an ihrem theoretischen Rüstzeug, was ein angesichts seiner Aussichtslosigkeit verhältnismäßig harmloserer Zeitvertreib ist, sondern ein Stück Revision an der praktischen Tätigkeit, und zwar an einer der wenigen Methoden der unmittelbaren Betätigung der breitesten Massen.

Eigentlich muss man den Kreisen in der Partei und unter den Gewerkschaftsbeamten, die auf eine glatte Abschaffung der Maifeier hinarbeiten, ehrlich zugeben, dass sie mit ihrer systematischen, unermüdlichen Arbeit seit Jahren bereits ein gut Stück ihres Zieles erreicht haben. Denn man müsste in der Tat blind sein, um nicht einzusehen, dass schon die bisherigen unaufhörlichen Auseinandersetzungen über die Maifeier, die zum ständigen Elend der Parteitage geworden sind, in wirksamster Weise dazu beigetragen haben und beitragen, den Gedanken der Maifeier in den breitesten Massen zu untergraben, die Tradition zu erschüttern, die Begeisterung abzukühlen, dass sie ernüchternd, enttäuschend, verwirrend, also geradeswegs dahin wirken, wohin die Gegner der Maifeier es bringen wollen. Ehedem hatte die alljährliche Behandlung der Maifeier auf den Parteitagen zum Zweck, den Gedanken des 1. Mai in den Massen lebendig zu erhalten, ihn von der höchsten Tribüne der Partei ständig zu propagieren, jetzt hat sich dies in die alljährliche Untergrabung und Kompromittierung der Maifeier verwandelt. Das Meisterstück dieser Taktik bestand allerdings darin, die Unterstützungsfrage überhaupt in den Vordergrund der ganzen Maifeierfrage zu stellen und obendrein zu erreichen, dass der Parteivorstand beauftragt wurde, mit der anderen obersten Körperschaft der Arbeiterbewegung, mit der Generalkommission der Gewerkschaften gemeinsam die Frage zu regeln. Dem Parteivorstand und der Generalkommission wurde dabei die doppelte Aufgabe zuteil: die entschieden auf die Aufrechterhaltung der Maifeier gerichtete Stellung der Parteimehrheit mit der mehr oder minder offen auf die Abschaffung der Maifeier gerichteten Stellung der Gewerkschaftskreise und zugleich die Abhaltung der Maifeier mit einer im Voraus gesicherten ausreichenden Unterstützung aller eventuellen Opfer der Maifeier in Einklang zu bringen. Dass der Parteivorstand mitsamt der Generalkommission beim besten Willen diese doppelte Quadratur des Zirkels nicht zustande bringen konnte, muss jeder bei näherem Nachdenken begreifen. Aus den Bemühungen, diesen Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu machen, konnte natürlich nur eine Reihe mehr oder weniger missglückter Kompromissversuche entstehen, mit dem Endresultat, dass „das Schmerzenskind der Partei", wie die Maifeier nun glücklich bei Freund und Feind heißt, unter den vielen Experimenten und Operationen bald ausgelitten haben wird.

Das neueste Resultat der Verhandlungen des Parteivorstandes und der Generalkommission präsentiert sich als eine Missgeburt schon auf den ersten Blick. Die vorjährige Abmachung der beiden obersten Instanzen lehnte die Unterstützung der Opfer der Maifeier von den Zentralkassen der Partei wie der Gewerkschaften ab und wälzte sie den Ortskassen zu. Die Mehrheit der Delegierten in Nürnberg hat diese Abmachung für null und nichtig erklärt, in der richtigen Erkenntnis, dass sie auf eine tatsächliche Abschaffung der Maifeier hinauslaufen würde, da die einzelnen Orte die Lasten der Unterstützung der Maiopfer zum größten Teil nicht tragen könnten, noch mehr aber sie scheuen würden und die Furcht vor dieser aufgebürdeten Verantwortlichkeit jeden Schwung der Maifeier lahmlegen müsste. Nunmehr schlagen Parteivorstand und Generalkommission vor, statt aus Ortskassen die Opfer der Maifeier aus „Bezirkskassen" zu unterstützen. Scheinbar ist dies ein Kompromiss, der den Wünschen der Parteimehrheit um einen Schritt entgegenkommt, da die Bezirkskassen ein Mittelding zwischen Orts- und Zentralkassen darstellen. In Wirklichkeit ist die neue Lösung ein großer Schritt – nach der entgegengesetzten Seite. Denn Orte sowie Zentren der Bewegung mit ihren Kassen existieren wenigstens, was aber die „Bezirke" sein sollen, denen die Kosten der Maifeier und die Verantwortlichkeit für sie zugeschoben werden soll, bleibt ein Geheimnis des Gesetzgebers. Da existieren nicht bloß die Kassen noch nicht, auf denen die materielle Grundlage ruhen soll, sondern es existieren nicht einmal die geographischen und organisatorischen Einheiten, die jene Kassen bilden sollen. Indem die Maifeier von den örtlichen wie den zentralen Kassen abgewiesen wird, verweist man sie an eine erst zu bildende phantastische Organisation. In den vorhandenen Organisationen der politischen und wirtschaftlichen Arbeiterbewegung gibt es keinen Platz für die Sorgen um die Ausführung der Maifeier, es soll ein ganz neuer Organisationsapparat erst geschaffen werden. Deutschland muss erst in „Bezirke" eingeteilt, in den Orten müssen erst neue Kommissionen – natürlich auf dualistischer Grundlage – geschaffen werden, die neugeschaffenen Bezirke müssen erst neue Kassen ins Leben rufen, wobei doch an diesen „Bezirken" und ihren Kassen genau dieselben Partei- und Gewerkschaftsgenossen beteiligt werden und dieselben Mittel wie bisher herhalten müssen, und dann – kann „die würdige Feier" losgehen. Wenn jemand aus purer Freude an der Verhöhnung der Maifeier eine boshafte Satire auf einen Maifeierbeschluss machen wollte, er hätte keinen besseren Einfall haben können, als dieses Projekt zur Schaffung eines ganz neuen bürokratischen Apparats, bei dem es am unklarsten ist, von wem und wie er eigentlich ins Leben gerufen werden soll, bei dem die dualistische Grundlage, die sich selbst in den einzelnen Orten zeigen soll, zu ebensolcher Unfruchtbarkeit der Aktion führen müsste, wie die bisherigen Maifeierverhandlungen der beiden obersten Instanzen, bei dem die Schwerfälligkeit des Apparats von vornherein jeden Schwung und, was das wichtigste: die Einheitlichkeit der Maifeier im ganzen Lande ausschließen muss. Es kommt noch eins hinzu. Der Antrag des Parteivorstandes erwähnt nicht mit einem Worte die Arbeitsruhe als die zu erstrebende Form der Maifeier. Es soll „für eine würdige Feier Sorge getragen werden". Worin aber die „würdige Feier" besteht, wird den Auslegungen überlassen, unter verklausuliertem Hinweis auf die „Berücksichtigung der beruflichen und örtlichen Verhältnisse und der Bestimmungen der gewerkschaftlichen Organisationen, sowie der Beschlüsse des Parteitages". Mit anderen Worten: an Stelle der bisherigen allgemeinen und einheitlichen Beschlüsse über die nach Möglichkeit anzustrebende Arbeitsruhe als die würdigste Form der Maifeier, wird die Regelung der Maifeier dem freien Ermessen der gemischten Kommissionen an jedem Orte anheimgestellt, und, wo die Bestimmungen der gewerkschaftlichen Organisation, wie z. B. der Metallarbeiter, mit den bisherigen Parteibeschlüssen in Widerspruch stehen, den Genossen an Ort und Stelle überlassen, sich aus diesen Widersprüchen herauszuarbeiten.

So gequält und widerspruchsvoll die Vorschläge des Parteivorstandes sind, er konnte beim besten Willen kein befriedigenderes Resultat erzielen, nachdem man ihn zusammen mit der Generalkommission vor eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte. Wenn aber den Parteivorstand sicher kein Vorwurf trifft, an einer Quadratur des Zirkels gescheitert zu sein, so ist es nicht minder sicher Pflicht der Partei, nachdem sie die Abmachung, die dem Nürnberger Parteitag vorlag, abgelehnt hat, auch die gegenwärtige aus denselben und aus noch besseren Gründen ebenfalls abzulehnen. In der Frage der Maifeier tut der Arbeiterbewegung, wie in allen Fragen, am meisten not: volle Klarheit. Es ist notwendig, dass sich die Partei offen entscheidet: entweder will sie an dem Gedanken der Maifeier als Arbeitsruhe, d. h. in der Form und in dem Sinne, wie er seit zwanzig Jahren vom internationalen Proletariat gepflegt, propagiert und heilig gehalten wird, festhalten, dann darf die Maifeier, wie bisher, von keiner Frage der Unterstützungsformen abhängig gemacht werden. Oder aber will man die Maifeier als Arbeitsruhe abschaffen, dann muss dies klar und unumwunden ausgesprochen werden, denn damit ist die Maifeier überhaupt abgeschafft. Tatsächlich bedeutet die Verweisung der Maifeier an die neuerfundenen „Bezirkskassen" ihre Verweisung – in die „vierte Dimension", d. h. das Begräbnis des Maifeiergedankens überhaupt. Die klare und offene Abschaffung der Maifeier hätte aber sicher den Vorzug, dass sie sofort allen Missverständnissen ein Ende machen und den unvermeidlichen heftigen Protest in den weitesten Kreisen der sozialdemokratischen Dreimillionenarmee hervorrufen müsste.

Es wäre dies in der Tat eine Art, auf die jüngsten Backenstreiche der Reaktion: auf den Hottentotten- und den Schnapsblock1, auf die neue Riesensteuerlast, auf die Verhöhnung und Aushungerung der Massen zu reagieren, die von diesen Massen schwerlich begriffen werden dürfte. In einer Zeit der sich immer mehr verschärfenden und zuspitzenden Gegensätze, der immer frecheren Provokationen des Klassenstaates, der immer hoffnungsloseren und sterileren Bemühungen um positive Errungenschaften und Konzessionen der herrschenden Gesellschaft, in einer solchen Zeit der scharfen Sturmwinde freiwillig eine so hervorragende Kampfwaffe, wie die Maifeier, aus der Hand geben, sich eines so einzigen Mittels begeben, die breitesten Massen aufzurütteln, zu begeistern, für den Sozialismus zu gewinnen, sie im Gedanken der Internationalität zu erziehen, – das wäre wahrhaft eine Taktik, die mit den Traditionen der deutschen Sozialdemokratie in seltsamen Widerspruch geraten würde. Das wäre ein Rückzug von der bisherigen Gefechtslinie – und kein rühmlicher Rückzug. Welches die Stimmung der breiten Volkskreise gegenwärtig in Deutschland ist, das kann man aus den jüngsten Nachwahlen zum Reichstag, das kann man aus der katzenjämmerlichen Stimmung der bürgerlichen Gegner selbst erkennen. Was die Massen von uns jetzt erwarten, ist sicher die Festigung, die Verschärfung unserer Kampftaktik und keineswegs ihre Abschwächung. Die Preisgabe der Maifeier wäre ein Schlag ins Gesicht der von der Reaktion zum Weißbluten gebrachten und mit Füßen getretenen Massen. Der Leipziger Parteitag wird sich ein hohes Verdienst vor unserer wie vor der internationalen Arbeiterbewegung erwerben, wenn er dem grausamen Spiele ein Ende macht und die Aufrechterhaltung der Maifeier in so unzweideutiger Weise beschließt, dass den weiteren unwürdigen Experimenten, die nur den langsamen Tod der Maifeier bedeuten, mit kräftiger Hand ein Riegel vorgeschoben wird.

1 Der Hottentottenblock war eine Schöpfung Bülows, der während der Reichstagswahlen von 1907 eine Regierungsmehrheit von Konservativen, Nationalliberalen und Freisinnigen gegen Sozialdemokratie und Zentrum zustande brachte. Er wurde bei der Finanzreform 1909 durch den schwarz-blauen oder Schnapsblock abgelöst

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