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Rosa Luxemburg 19130430 Der Maigedanke auf dem Vormarsch

Rosa Luxemburg: Der Maigedanke auf dem Vormarsch

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 30. April 1913. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 289-291]

Mitten unter den wildesten Orgien des Imperialismus wiederholt sich zum vierundzwanzigsten Male der Weltfeiertag des Proletariats. Es ist ein gewaltiges Stück geschichtlichen Weges, was in diesem Vierteljahrhundert seit dem epochemachenden Beschluss der Maifeier zurückgelegt worden ist. Als zum ersten Mal die Maidemonstration ihren Einzug hielt, war die Vorhut der Internationale, die deutsche Arbeiterschaft, gerade daran, die Ketten eines schmachvollen Ausnahmegesetzes zu brechen und die Bahn einer freien gesetzlichen Entwicklung zu betreten. Die Periode der langen Depression auf dem Weltmarkt, seit dem Krach der siebziger Jahre war überwunden und die kapitalistische Wirtschaft trat just in eine Phase glänzenden Aufschwungs, der fast ein Jahrzehnt dauern sollte. Zugleich atmete die Welt nach zwanzig Jahren ununterbrochenen Friedens von den Erinnerungen der Kriegsperiode auf, in der das moderne europäische Staatensystem seine blutige Taufe empfangen hatte. Die Bahn schien frei für eine ruhige Kulturentwicklung, Illusionen, Hoffnungen auf eine schiedlich-friedliche Auseinandersetzung zwischen der Arbeit und dem Kapital schossen in den Reihen des Sozialismus üppig in die Halme. Vorschläge, „dem guten Willen die offene Hand" entgegenzuhalten, bezeichneten den Beginn der neunziger Jahre, Verheißungen auf ein unmerkliches „allmähliches Hineinwachsen" in den Sozialismus bezeichneten ihr Ende. Krisen, Kriege, Revolutionen sollten überwundene Standpunkte, Kinderschuhe der modernen Gesellschaft gewesen sein, Parlamentarismus und Gewerkschaften, Demokratie im Staate und Demokratie in der Fabrik sollten die Pforte zu einer neuen, besseren Ordnung eröffnen.

Der Gang der Dinge hat unter allen diesen Illusionen fürchterliche Musterung gehalten. An Stelle der verheißenen sanften sozial-reformerischen Kulturentwicklung setzte seit Ende der neunziger Jahre eine Periode der gewalttätigsten, schärfsten Zuspitzung der kapitalistischen Gegensätze ein, ein Stürmen und Drängen, ein Krachen und Aufeinanderprallen, ein Wanken und Beben in den Grundfesten der Gesellschaft. Über die zehnjährige Periode wirtschaftlichen Aufschwungs quittierten in dem folgenden Jahrzehnt zwei erschütternde Weltkrisen. Auf zwei Jahrzehnte des Weltfriedens folgten in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts sechs blutige Kriege und im ersten des neuen vier blutige Revolutionen. Statt der Sozialreformen – Umsturzvorlagen, Zuchthausvorlagen und Zuchthauspraxis, statt der industriellen Demokratie – der gewaltige Zusammenschluss des Kapitals in Kartellen und Arbeitgeberverbänden und die internationale Praxis der Riesenaussperrungen. Und statt des neuen Aufschwungs der Demokratie im Staate ein elender Zusammenbruch der letzten Reste des bürgerlichen Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie. In Deutschland allein haben die Schicksale der bürgerlichen Parteien seit den neunziger Jahren gebracht: das Aufkommen und alsbaldige hoffnungslose Zerrinnen der Nationalsozialen, die Zersplitterung der freisinnigen Opposition und die Wiedervereinigung ihrer Splitter im Morast der Reaktion, endlich die Umwandlung des Zentrums aus einer radikalen Volkspartei in eine konservative Regierungspartei. Und ähnlich waren die Verschiebungen in der Parteientwicklung anderer kapitalistischer Länder. Überall sieht sich die revolutionäre Arbeiterschaft heute allein einer geschlossenen feindseligen Reaktion der herrschenden Klassen und ihren tückischen Streichen gegenüber, auf sich allein gestellt.

Das Zeichen, unter dem sich diese ganze Entwicklung auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet vollzogen hat, die Formel, auf die sich ihre Ergebnisse zurückführen lassen, heißt: Imperialismus. Kein neues Element, keine unerwartete Wendung ist es in der allgemeinen historischen Bahn der kapitalistischen Gesellschaft. Rüstungen und Kriege, internationale Gegensätze und Kolonialpolitik begleiten die Kapitalgeschichte von ihrer Wiege an. Es ist die äußerste Steigerung dieser Elemente, ein Zusammenrücken, ein gigantisches Aufstürmen dieser Gegensätze, was eine neue Epoche im Werdegang der heutigen Gesellschaft ergeben hat. In dialektischer Wechselwirkung, zugleich Folge und Ursache der gewaltigen Kapitalakkumulation und der mit ihr gegebenen Verschärfung und Zuspitzung des Gegensatzes im Innern zwischen dem Kapital und der Arbeit, auswärts zwischen den kapitalistischen Staaten, hat der Imperialismus die Schlussphase, die gewaltsame Weltaufteilung durch das stürmende Kapital eröffnet. Eine Kette unaufhörlicher, unerhörter Rüstungen zu Lande und zu Wasser in allen kapitalistischen Staaten um die Wette, eine Kette blutiger Kriege, die von Afrika auf Europa übergegriffen haben und jeden Augenblick den zündenden Funken zu einem Weltbrand abgeben können, dazu seit Jahren das nicht mehr zu bannende Gespenst der Teuerung, des Massenhungers in der ganzen kapitalistischen Welt, – das sind die Zeichen, unter denen der Weltfeiertag der Arbeit nach bald einem Vierteljahrhundert seines Bestehens heraufzieht. Und jedes dieser Zeichen ist ein flammendes Zeugnis für die lebendige Wahrheit und die Macht der Ideen der Maifeier.

Der geniale Hauptgedanke des Maifestes, das ist das eigene unmittelbare Auftreten der proletarischen Massen, das ist die politische Massenaktion der Millionen Arbeitenden, die sonst im parlamentarischen Alltag, getrennt durch staatliche Schranken, meist nur durch den Stimmzettel, durch Wahlen ihrer Vertreter dem eigenen Willen Ausdruck verleihen können. Der ausgezeichnete Vorschlag des Franzosen Lavigne auf dem Internationalen Kongress in Paris legte diesen parlamentarischen indirekten Willenskundgebungen des Proletariats eine direkte internationale Massenkundgebung: die Arbeitsniederlegung als Demonstration und Kampfmittel für den Achtstundentag, den Weltfrieden und den Sozialismus hinzu.

Und in der Tat: welchen Aufschwung hat dieser Gedanke, hat diese neue Kampfform in dem letzten Jahrzehnt genommen! Der Massenstreik ist zur international anerkannten, unentbehrlichen Waffe des politischen Kampfes geworden. Als Demonstration, als Kampfwaffe kehrt er in unzähligen Formen und Schattierungen in allen Ländern seit bald fünfzehn Jahren wieder. Als Zeichen der revolutionären Wiederbelebung des Proletariats in Russland, als zähes Kampfmittel in der Hand des belgischen Proletariats hat er soeben erst seine lebendige Macht bewährt. Und die nächste brennendste Frage Deutschlands: das preußische Wahlrecht, weist von selbst durch seine bisherige Versumpfung auf eine steigende Massenaktion des preußischen Proletariats bis zum Massenstreik als die einzige mögliche Lösung hin.

Kein Wunder! Die ganze Entwicklung, die Gesamttendenz des Imperialismus im letzten Jahrzehnt führte dahin, der internationalen Arbeiterklasse immer deutlicher und greifbarer vor die Augen zu führen, dass nur das eigene Auftreten der breitesten Massen, ihre eigenen politischen Aktionen, Massendemonstrationen, Massenstreiks, die früher oder später in eine Periode revolutionärer Kämpfe um die Macht im Staate ausmünden müssen, die richtige Antwort des Proletariats auf den unerhörten Druck der imperialistischen Politik abgeben können. In diesem Augenblick des Rüstungswahnsinns und der Kriegsorgien ist es nur die entschlossene Kampfstellung der Arbeitermassen, ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu machtvollen Massenaktionen, was den Weltfrieden noch erhalten, drohenden Weltbrand noch hinausschieben kann. Und je mehr der Maigedanke, der Gedanke der entschlossenen Massenaktionen als Kundgebung des internationalen Zusammenschlusses und als Kampfmittel für den Frieden und für den Sozialismus auch in dem stärksten Trupp der Internationale, in der deutschen Arbeiterschaft, Wurzel schlagen wird, um so größere Gewähr haben wir, dass aus dem früher oder später unvermeidlichen Weltkrieg eine endgültige und siegreiche Auseinandersetzung zwischen der Welt der Arbeit und der des Kapitals sich ergeben wird.

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