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Rosa Luxemburg 19070501 Die Maifeier

Rosa Luxemburg: Die Maifeier

[Erschienen in der „Gleichheit" vom 1. Mai 1907. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 278-280]

Die Maifeier ist ein lebendiges, historisches Stück des internationalen proletarischen Klassenkampfes, und deshalb spiegelt sie in sich seit bald 20 Jahren getreu alle Phasen, alle Momente dieses Kampfes wider. Äußerlich genommen ist es immer dieselbe monotone Wiederholung gleichlautender Reden und Artikel, gleichlautender Forderungen und Resolutionen. Deshalb glauben auch diejenigen, deren Blicke nur an der starren Oberfläche der Dinge haften, und die das innere unmerkliche Werden der Verhältnisse nicht herausfühlen, die Maifeier hätte durch die Wiederholung ihre Bedeutung verloren, sie sei beinahe „eine leere Demonstration" geworden. Allein unter der äußerlich gleichen Erscheinungsform birgt die Maifeier in sich den wechselnden Puls des proletarischen Kampfes, sie lebt zusammen mit der Arbeiterbewegung und verändert sich daher mit ihr, gibt in dem eigenen Ideengehalt, in der eigenen Stimmung, in der eigenen Spannung die wechselnden Situationen des Klassenkampfes wieder.

Drei große Phasen hat die Maifeier in ihrer inneren Geschichte durchgemacht. In den ersten Jahren, wo sie sich die Bahn brechen musste, wurde sie mit gespannten Erwartungen und gehobener Stimmung von dem Proletariat aller Länder begrüßt. Die Arbeiterklasse reihte eine neue Waffe ihrem Rüstzeug ein, und die ersten Versuche mit dieser Waffe spannten das Kraftgefühl und die Kampffreude der Millionen Ausgebeuteten und Unterdrückten hoch. Auf der anderen Seite begegnete aber die Bourgeoisie aller Länder der neuen Kundgebung des Klassenkampfes mit höchster Angst und tiefstem Hasse. Der Gedanke der internationalen sozialistischen Demonstration erschien ihr als das wiedererstehende Gespenst der alten verhassten Internationale, der kühne Anlauf zu einer gleichzeitigen Weltarbeitsfeier als das Totengeläute der ganzen kapitalistischen Herrlichkeit. Daher die wahnwitzigsten Vorbereitungen der ersten Jahre, um den Gefahren der Maifeier mit brutaler Polizei- und Militärgewalt zu begegnen. Und als Avantgarde dieser waffenstarrenden Kolonnen der erschrockenen Bourgeoisie stürzte sich die „freie Republik" Frankreich in den Kampf, erst hinter ihr der zarische Absolutismus. Das erste Proletarierblut um die Sache der Maifeier floss im Jahre 1891 in Fourmies, im Jahre 1892 gab es eine- blutige Maischlacht in Russisch-Polen, in Łódź.

Aber bald beruhigten sich die herrschenden Klassen und erkannten den rein demonstrativen Charakter der Maifeier. Andererseits sollte in der Arbeiterbewegung ein langer Abschnitt des vorwiegend parlamentarischen Kampfes und des ruhigen Ausbaus der politischen und gewerkschaftlichen Organisation folgen. Das Geburtsjahr der Maifeier brachte in Deutschland den Fall des Sozialistengesetzes, 1893 eroberte sich das Proletariat in Belgien, 1896 in Österreich den Zutritt zum Parlament. Allenthalben bringen die neunziger Jahre eine Periode emsiger gewerkschaftlicher Arbeit und eines unaufhaltsamen Wachstums der parlamentarischen Vertretung der Arbeiterklasse. Vor dem Kampfe vermittels der Arbeitervertretung in den Parlamenten tritt die Demonstration der Arbeitermassen selbst, vor der positiven Betätigung und dem Ausbau der Arbeiterparteien in jedem Lande für sich tritt der Gedanke der internationalen Gemeinschaft des Proletariats in den Schatten. Die Maifeier wird allmählich zu einem friedlichen Volksfest, dem die bürgerliche Gesellschaft mit ziemlicher Seelenruhe zuschaut.

In den letzten Jahren tritt nun eine merkliche Verschiebung in der Situation der Arbeiterbewegung ein. Ein scharfer Wind weht wieder über dem Kampffeld. Im Osten die große russische Revolution. In Deutschland eine Verschärfung und Zuspitzung des wirtschaftlichen wie politischen Kampfes; eine umfassende Aussperrungsaktion gegen die Arbeiterschaft in den Industrien und ein Zusammenschluss aller bürgerlichen Parteien zur parlamentarischen Aussperrung der Arbeiterklasse. In Frankreich ein brutaler Feldzug der „radikalen" Regierung gegen die Gewerkschaften und eine Reihe erbitterter Lohnkämpfe. Erregt durch das machtvolle Wachstum der proletarischen Organisationen in den letzten 15 Jahren, erschrocken durch die russische Revolution, wird der internationale Kapitalismus nervös, wild, aggressiv.

Und damit beginnt auch für die Maifeier eine neue Phase. Von Hause aus dem Gedanken nach eine unmittelbare Kundgebung der Masse – ihre einzige direkte politische Aktion bisher, außer den Wahlen –, füllt sie sich mit neuem Inhalt, mit neuem Geist in dem Maße, wie die Verschärfung des Klassenkampfes immer mehr die Rolle der proletarischen Massen wieder in den Vordergrund schiebt. Je mehr die Reaktion, die nackte Gewaltherrschaft der Bourgeoisie auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiete den proletarischen Interessen jede Handbreit streitig macht, um so mehr nähern wir uns der Zeit, wo die Massen selbst das Heft in die Hände nehmen, wo sie in eigener Person die Interessen ihrer Klassenbefreiung verfechten müssen. Diesen früher oder später unvermeidlichen Zeiten entgegen zu reifen, sich für diese Zeiten mit dem Bewusstsein der eigenen Pflicht und der eigenen Macht zu rüsten, das ist gegenwärtig die Aufgabe des Proletariats, und hierzu ist die Maifeier, als eine direkte Kundgebung der Masse, ein Mittel. Namentlich in Deutschland muss die Antwort auf die parlamentarische Niederlage der Sozialdemokratie vom 25. Januar1 eine imposante, gewaltige Feier des 1. Mai geben. Die Arbeitermasse muss der vereinigten reaktionären Masse der Bourgeoisie zurufen: Ihr wolltet unsere Vertretung aus eurer Gesetzgebung hinausdrängen –, nun wohl, hier sind wir selbst, ihr seht uns entschlossener, geschlossener und kampffroher als je!

Zugleich tritt das andere Moment der Maifeier mit neuer Macht in den Vordergrund – die Internationalität der Arbeitersache. Solange der Klassenkampf in jedem Lande ein Mindestmaß demokratischer Ellbogenfreiheit hat, und solange der parlamentarische Werktag der positiven Arbeit währt, wird die Arbeiterbewegung von dem Besonderen jedes Staatsmilieus, von der nationalen Zersplitterung beherrscht. Sobald jedoch die Grundgewalten des Klassenkampfes aus der Tiefe der kapitalistischen Gesellschaft an die Oberfläche emporsteigen, sobald der Kampf scharf an den Zusammenprall der Massen mit den herrschenden Mächten grenzt, da wird die Idee des einen und unteilbaren Weltproletariats mit verstärkter Kraft lebendig. Die Vorbereitungen der Bourgeoisie auf den 1. Mai in allen Ländern erinnern das Proletariat in diesem Jahre wieder mit Macht daran, dass sein Befreiungskampf ein und derselbe in allen Ländern ist. Heute steht aber an der Spitze der Arbeiterarmee aller Länder das russische Proletariat, das Proletariat im Reiche der Revolution. Und die revolutionären Kämpfe dieses Proletariats, seine Erfahrungen, seine Probleme, sind die große geschichtliche Schule für unsere eigenen künftigen Schlachten.

So zieht der 1. Mai in diesem Jahre herauf, von neuem kräftigen Hauch umwittert, wieder, wie im Anfang, von der Bourgeoisie mit Hass und Furcht, von den Arbeitermassen mit entschlossener Kampffreude begrüßt. Von Anfang an eine proletarische Demonstration für den Achtstundentag und für den Weltfrieden, gestaltet sie sich allmählich zu einer Demonstration für die proletarische Revolution. Nicht einem Niedergang –, einem ungeahnten Aufschwung geht die Maifeier entgegen, denn sie wird getragen und emporgehoben von demselben Sturmwind, der bereits über die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft streift, und der uns in die heftigsten Kämpfe, aber auch zu den endgültigen Siegen führen wird.

1 Die Reichstagswahlen 1907 brachten der Sozialdemokratie bei geringem Stimmenzuwachs einen Rückgang der Mandate von 81 auf 43.

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