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Rosa Luxemburg 19140718 Die verkehrteste Taktik

Rosa Luxemburg: Die verkehrteste Taktik

[Erschienen in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz", 18. Juli 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 295-297]

Wir leben in einer Situation, wo die Gegner mit Feuereifer daran zu arbeiten scheinen, um unsere Position jeden Tag durch neue Brutalitäten und Verkehrtheiten zu stärken, und es wäre nichts bedauerlicher, als wenn wir uns diese glänzende Position durch eigene Verkehrtheiten verpfuschen wollten. Zu solchen gehört aber zweifellos der Hamburger Partei- und Gewerkschaftsbeschluss über die Maifeier. Was der Beschluss formell fordert, ist nur, dass vom Internationalen Kongress den einzelnen Nationen überlassen wird, die Art und Weise der Kundgebung am 1. Mai zu bestimmen. Worauf er in Wirklichkeit hinausgeht, ist nichts anderes als die Abschaffung der Maifeier überhaupt, und der erste Vorwurf, den man den Hamburger Partei- und Gewerkschaftsvorständen machen muss, besteht darin, dass sie ihre Absicht nicht ausgesprochen haben. Wenn man die Maifeier begraben will, dann soll man wenigstens den Mut haben, dies klipp und klar zu sagen. In Wirklichkeit sind die Hamburger leitenden Instanzen heute genau dort angelangt, wo Leimpeters im Jahre 1905 stand, als er auf dem Kölner Gewerkschaftskongress die Maifeier ungeniert für einen „lahmen Gaul" erklärte, den man so schnell wie möglich abschlachten müsse. Es würzt lediglich die Sache, ohne sie um ein Jota besser zu machen, wenn die Hamburger Totengräber der Maifeier aus dem umgekehrten Gesichtspunkt heraus wie Leimpeters seinerzeit, nämlich aus der Erbitterung über die Unzulänglichkeit der bisherigen Maifeier in Deutschland, zu ihrem verzweifelten Entschluss gekommen sind. Es ist dies jedenfalls eine Kurmethode in der Art des berühmten Doktor Eisenbart, eine Aktion, weil sie nicht kraftvoll genug entfaltet wird, gänzlich totzuschlagen.

In noch krasserem Widerspruch steht der Beschluss zu seiner eigenen Begründung. Weil wir zu einem gewaltigen Kampf um das bedrohte Koalitionsrecht rüsten müssen, so ist es vor allem nötig, … just den Posten aufzugeben, auf dem die Arbeiterschaft fünfundzwanzig Jahre lang das Koalitionsrecht wie alle ihre Rechte und Forderungen verteidigte! Zwar sollen gerade die durch die Abschaffung der Maifeier „freigemachten Kräfte" auf die anderen großen Abwehraktionen konzentriert werden. Allein die künftigen Großtaten zum Schutze des Koalitionsrechts bleiben in dem Beschluss der Hamburger Partei- und Gewerkschaftsführer vorerst noch im Nebel vager Redensarten und Drohungen. Was und wie getan werden soll, um den Angriffen auf das Koalitionsrecht zu begegnen, das ist auch nicht in den allgemeinsten Umrissen angedeutet worden. Hingegen bleibt als die einzige sehr greifbare praktische Maßnahme, die um jener künftigen Großtaten willen vorgenommen wird, – die Abschlachtung der Maifeier, d. h. die freiwillige Aufgabe eines alten Kampfpostens für den Achtstundentag, also die Kernfrage des Gewerkschaftskampfes.

Für die Kraftproben der nächsten Zukunft, die immer größeren Opfermut und Idealismus erfordern werden, soll als die geeignetste Schulung und Vorbereitung gelten, dass man die Maifeier abschafft, gerade weil sie uns Opfer kostet! – Dass eine solche Taktik einzig dazu führen kann, die Massen zu demoralisieren und die Scharfmacher noch frecher zu machen, kann sich jeder an den Fingern abzählen, der aus der Geschichte der liberalen und freisinnigen Kampfstrategie etwas gelernt hat.

Doch es gibt noch mehr Momente, die den Einfall der Hamburger Genossen so ziemlich als den verkehrtesten erscheinen lassen, den man zu erwarten hätte. Im Mittelpunkt des politischen Lebens und des Klassenkampfes in Deutschland steht heute der Militarismus und der Kampf um den Weltfrieden. Die Maifeier ist aber eine Kundgebung gleichermaßen für den Achtstundentag und für den Weltfrieden.

Die ganze innere und auswärtige Politik wird immer mehr beherrscht vom Imperialismus, gegen den die internationale Solidarität des Proletariats immer mehr zur aktuellen, praktischen Macht ausgestaltet werden muss. Die Maifeier ist aber bis jetzt die einzige regelmäßige internationale gemeinsame Aktion des Proletariats.

Endlich geht die ganze Entwickelung der Verhältnisse dahin, den Schwerpunkt des politischen Lebens und der Entscheidungen in wichtigen Momenten aus den Parlamenten in die großen Massenaktionen zu verlegen. Die Maifeier ist aber bis jetzt in Deutschland allein die einzige nichtparlamentarische Aktion der Massen geblieben.

Und nun findet man angesichts aller dieser Umstände nichts Eiligeres, als ausgerechnet die Maifeier abzuschaffen! Freilich ist es den Wühlereien der Gegner der Maifeier wie aller Massenaktionen gelungen, durch die Unterstützungsfrage wie durch eine systematische Entmutigung der Massen, die Maifeier in Deutschland zu schwächen. Allein es hieße den lebendigen, historischen Pulsschlag des proletarischen Klassenkampfes unterschätzen, wenn man annehmen wollte, dass die Ermattung der Maifeier auf die Dauer bestehen würde. Sobald wir in Deutschland eine Periode stürmischer Kämpfe, eine revolutionäre Situation haben, werden wir ein elementares Auflodern der Maifeier erleben, wie wir es nie erlebt haben. So war es in allen Ländern, und so wird es in Deutschland sein. In Russland war die Losung der Maifeier von 1912 ein toter Buchstabe, bis sie in dem genannten Jahre zum ersten Male wie ein Blitz einschlug und eine Million Feiernder auf den Plan rief.

In Frankreich gab es seit Fourmies und Carmaux keine so lebhafte Feier wie in den letzten Jahren. In Holland belebt sich die Maifeier Hand in Hand mit dem Wahlrechtskampf. Überall zeigt die Maifeier – weit entfernt, eine gemachte Parade von pedantischer Gleichmäßigkeit zu sein – einen ewigen Wechsel von Ebbe und Flut, ein lebendiges Auf und Ab des Klassenkampfes, seiner Heftigkeit und seiner Breite. Auch die Maifeier in Deutschland wird, wie so manche Seite des Partei- und Gewerkschaftslebens, die in der stillen Zeit versumpft oder verpfuscht worden ist, an der frischen Brise der stürmischen großen Auseinandersetzungen gesunden, die uns nicht erspart bleiben werden. Es wäre nichts verkehrter und beschämender für die deutsche Arbeiterklasse, als wenn der Vorschlag zur Abschaffung der internationalen Maifeier, dieses Zeugnis der Kleingläubigkeit und des Selbstverzichtes des Proletariats, gerade aus Deutschland käme. Es ist zu erwarten, dass die deutsche Delegation in Wien1 dem Hamburger Beschluss die Abfertigung zuteil werden lässt, die er verdient.

1 Der Internationale Kongress sollte 1914 in Wien tagen.

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