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Rosa Luxemburg 19140427 Fünfundzwanzig Jahre Maifeier

Rosa Luxemburg: Fünfundzwanzig Jahre Maifeier

[Erschienen in der ,,Sozialdemokratischen Korrespondenz" am 27. April 1914. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 292-294]

Ein Vierteljahrhundert im Leben der Völker ist wie eine Sekunde im Leben des Menschen. Und doch, welcher gewaltige Umschwung, wenn wir unsere Blicke auf die verflossenen fünfundzwanzig Jahre seit dem Bestehen der internationalen Maifeier richten!

Als im Jahre 1890 zum ersten Mal die Bande der neuen Internationale durch das Maifest eingeweiht wurden, boten die sozialistischen Armeen allenthalben das Bild kleiner, schwacher Haufen dar. Die Arbeiterparteien der wichtigsten Länder waren erst vor wenigen Jahren gegründet worden, ihre Vorhut, die deutsche Sozialdemokratie, hatte eben erst die elfjährige Kraftprobe des Ausnahmegesetzes siegreich bestanden. Heute zählen die deutsche Partei wie die deutschen Gewerkschaften ihre Mitglieder nach Millionen, und in allen kapitalistischen Ländern stehen starke organisierte Parteien und ansehnliche Gewerkschaften an der Spitze des kämpfenden Proletariats. Während damals erst kleine Vorposten in den Parlamenten die Sache der Sozialdemokratie vertraten, hat sie seitdem eine großartige parlamentarische Aktion entfaltet, ist in allen Ländern in die gesetzgebenden Körperschaften vom Zentralparlament bis zum Gemeinderat eingedrungen. In diesen fünfundzwanzig Jahren ist die sozialistische Presse zu einer gewaltigen Macht geworden, sind die systematische Bildungsarbeit der Sozialdemokratie und die proletarische Jugendbewegung entstanden.

Doch war dieser stete Aufstieg der Arbeiterklasse nur ein Reflex tiefgreifender Verschiebungen im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft selbst.

Die kapitalistische Produktion, die Industrialisierung der Welt ist im letzten Vierteljahrhundert mit Riesenschritten vorwärts gegangen. Der technische Fortschritt auf allen Gebieten, namentlich in der Elektrotechnik, in der chemischen Industrie, die Eroberung des Luftmeeres für den Verkehr haben einen ungeahnten Aufschwung genommen. Gleichzeitig hat die Konzentration des Kapitals, der industrielle Riesenbetrieb, der Ausbau der Kartelle und Trusts, das Emporkommen des zusammengeballten Bankkapitals und sein internationaler Einfluss die Übermacht der herrschenden Klassen ins Gigantische gesteigert.

Dieselben fünfundzwanzig Jahre stehen auf politischem Gebiete im Zeichen einer neuen Erscheinung: des Imperialismus. Während Ende der 80er Jahre noch das kleine Europa die eigentliche Bühne der internationalen Diplomatie mit ihren Rechnungen aus der Zeit der Urgroßtante und ihren altvaterischen Mitteln und Kniffen war, ist es heute die gesamte Welt mit ihren fünf Erdteilen und drei Weltmeeren, auf denen das internationale Kapital seine völkermordenden Minen legt, seine Wetterwinkel bereitet, seine apokalyptischen Reiter blutiger Revolutionen und blutiger Weltkriege herum jagt. Seitdem sind in rascher Folge krachender Donnerschläge der japanisch-chinesische, spanisch-amerikanische, südafrikanische, europäisch-chinesische, russisch-japanische, tripolitanische und der Balkankrieg, die russische, persische, türkische, chinesische Revolution in die alten Mauern und Schanzen eingefallen, sie haben die alte Ordnung von Jahrtausenden in rauchende Trümmer verwandelt, um im gleichen heißen Atem die Weltherrschaft des Kapitals und ihr nahendes Ende zu verkünden.

Für die arbeitenden Massen hat dieser Umschwung auf Schritt und Tritt nur neues Elend, neuen Druck und neue Sklaverei mit sich gebracht. Die Industrialisierung der Welt ist für sie mit der Proletarisierung neuer Millionen und Abermillionen identisch. Der technische Fortschritt ist zur Geißel der intensivsten Arbeit geworden, die Muskel, Hirn und Blut des Proletariers erbarmungslos peitscht, ihn mit grausamem Sausen zu Grabe hetzt. Die Trutzburgen des konzentrierten Kapitals, die Kartelle und Unternehmerverbände haben eine Ära von Aussperrungen und einen unaufhörlichen Krieg gegen die Koalitionen der Arbeiter eingeleitet. Das Aufkommen des Imperialismus hat ihnen die furchtbare Last militärischer Rüstungen aufgebürdet. Während endlich vor fünfundzwanzig Jahren eine lange Periode des allgemeinen Preisfalls auf dem Weltmarkt und der sogenannten Agrarkrise, d. h. billiger Lebensmittel, Gegenstand des allgemeinen Wehklagens der Kapitalistenklasse war, ist seitdem eine schroffe Wendung zur steigenden Teuerung eingetreten, von der kein Ende abzusehen ist.

So ist im wirren Durcheinander schroffer Widersprüche, gewaltsamer Erschütterungen, zuckender Kämpfe das letzte Vierteljahrhundert kapitalistischer Entwicklung eine genaue Bestätigung, eine lebendige Verkörperung all der Erkenntnisse, Hoffnungen und Bestrebungen geworden, die dem sozialistischen Klassenkampf des Proletariats zugrunde, liegen. Ein Stück Geschichte liegt hinter uns, deren jeder Schritt sich den proletarischen Massen mit Brandmalen unzähliger Leiden in den Nacken geprägt hat, deren jeder Zug aber zugleich diesen Massen mit Macht verkündet, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihrem Zusammenbruch mit Macht entgegen rast, und dass die sozialistische Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann.

In all diesen Zeiten war die Maifeier der lebendige Pulsschlag des proletarischen Kampfes. Im Jahre 1890 läutete sie die neue Internationale, den Zusammenschluss der Arbeiter aller Länder ein und stellte so im Voraus der Phase des Imperialismus die gemeinsame Abwehraktion des Weltproletariats entgegen. In Österreich war sie das Signal der Aufrüttelung zum Kampfe um das allgemeine Wahlrecht. In Russland erst eine in kleinen Zirkeln geheim geflüsterte Botschaft, leuchtete sie im Revolutionsjahre 1905 als ein gewaltiger Triumphzug auf den Straßen Warschaus auf, um im Jahre 1911 in Petersburg und anderen Städten durch die Arbeitsruhe einer halben Million das Wiedererwachen des russischen Proletariats von der bleiernen Erstarrung der Konterrevolution zu verkünden. Um die Maifeier floss das Blut der französischen Proletarier in Fourmies und Carmaux und der polnischen in Warschau und Łódź. Sie war überall der erste Aufschrei einer zum Kampf sich ermannenden Arbeiterschicht und die höchste Welle einer aufschäumenden revolutionären Stimmung.

Heute werden die beiden Hauptparolen der Maifeier: der Achtstundentag und der Völkerfrieden mit jedem Tag dringender und lebendiger, angesichts des immer unerträglicheren Drucks der Ausbeutung wie der wilden Orgien des Militarismus.

Was ist aber das politische Gesamtresultat der Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre für unseren Kampf? Was ist unsere besondere Aufgabe in der gegenwärtigen Situation? Es ist die Erkenntnis, dass nur proletarische Massenaktionen in ihrer ganzen Wucht und Macht imstande sind, unsere parlamentarische Aktion fernerhin zu stützen und zu erweitern. Dass in großen, entscheidenden Momenten des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes, der inneren wie der internationalen Politik nur der höchste Druck jener Massenaktionen, die Arbeitsruhe, imstande ist, der proletarischen Sache zum Siege zu verhelfen.

Es ist der Geist der Maifeier, es ist der Gedanke des Massendrucks durch verschränkte Arme, aus dem die Maifeier geboren ist, was heute immer mehr die Kampfweise des internationalen Proletariats beherrscht.

Drum lebt die Maifeier heute, nach fünfundzwanzig Jahren, mehr denn je. Drum wird sie alle in dem geschichtlichen Aufstieg des Proletariats unvermeidlichen Momente des Kleinmuts überdauern. Sie bleibt der flammende Sendbote des revolutionären Klassenkampfes. Sie bleibt der weltumspannende Regenbogen der proletarischen Völkerverbrüderung, durch dessen leuchtende Pforte die große Armee der Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine bessere Gesellschaftsordnung schreiten wird.

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