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Rosa Luxemburg 19020305 Der Abschluss der sozialistischen Krise in Frankreich

Rosa Luxemburg: Der Abschluss der sozialistischen Krise in Frankreich

[Erschienen in der „Neuen Zeit", Jahrgang 1901/02, Band 1. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 366-384]

I.

Historische Possen haben wie alle schlechten Theaterstücke die Eigentümlichkeit, dass der Zuschauer meistens gar nicht merkt, wann die Handlung eigentlich zu Ende ist. Während die öffentliche Meinung immer noch gespannt nach Frankreich blickt und der weiteren Entwicklung der Dinge harrt, ist tatsächlich der Schlussakt der sozialistisch-ministerialistischen Posse schon unvermerkt zu Ende gegangen. Umsonst blickt man unverwandt nach dem Lande des „großen Experimentes" und harrt. Die Handlung ist erschöpft, die Rollen sind ausgespielt, und es beginnt sogar von den verlöschenden Lampen im Zuschauerraum etwas schlecht zu riechen.

Wir prophezeien damit nicht etwa den unmittelbar bevorstehenden Sturz des Ministeriums Waldeck-Millerand1). Es gehört unseres Erachtens im Gegenteil wieder ein Stück jenes berühmten „parlamentarischen Kretinismus" dazu, um die politisch-historische Zeitrechnung eines Landes nach so äußerlichen Momenten wie die parlamentarischen Ministerwechsel zu führen. Wir meinen nur, dass die innere logische Entwicklung der besonderen Situation, die mit dem Eintritt eines Sozialisten in die Regierung für das politische Frankreich wie für den französischen Sozialismus insbesondere geschaffen wurde, bereits abgeschlossen ist, dass sie alle Konsequenzen, mit denen sie schwanger ging, bereits in die Erscheinung gebracht hat, und dass wir fortab keine neuen Momente in der Krise, sondern lediglich die mechanische Fortbewegung der vorhandenen zu gewärtigen haben.

Wir haben bei unserer Beleuchtung der Politik des französischen Kabinetts in der vorigen Parlamentssession als den hervorstechendsten Zug ihre eigentümliche Zwieschlächtigkeit, die handgreiflichen Konzessionen nach rechts und die Scheinzugeständnisse nach links bezeichnet. Seitdem hat sich die Situation und mit ihr die Politik des Ministeriums um einen Schritt weiter verschoben Der Grund der zwieschlächtigen Politik des Ministeriums Waldeck Rousseau lag einerseits in dem Mangel an einer festen Grundlage im Parlament zur wirklichen konsequenten Politik demokratischer Reformen. Die bunt zusammengesetzte radikal-sozialistische Majorität des Kabinetts hatte sich in allen wichtigeren Fragen als unzuverlässig erwiesen, jederzeit zum reaktionären Umfall bereit und nicht weiter zu gehen gewillt, als es zur äußeren Pazifizierung aller durch die Krise aufgewühlten politischen und sozialen Gegensätze unbedingt notwendig. Andererseits war aber das Ministerium von Anfang an auf die Unterstützung der Sozialisten in der Kammer angewiesen. Dieser Umstand zwang die Regierung mindestens zu Scheinkonzessionen an ihr anfängliches Programm, zu demokratischen und sozialen Reformen. Es lag nun an den Sozialisten, den weiteren Gang der Dinge zu bestimmen. Sie konnten durch rücksichtslose Aufdeckung der Zweideutigkeit der „republikanischen" Politik der Regierung und durch hartnäckige Opposition das Kabinett entweder zu Falle bringen oder aber es wenigstens für eine Zeitlang zu ernsteren Fortschrittsreformen nötigen. Da sie aber in ihrer auschlaggebenden Mehrzahl im Parlament, durch die Ministerschaft Millerands gebunden, den entgegengesetzten Weg einschlugen, so gaben sie damit die politischen Zügel aus der Hand. Durch ihre konsequente Verteidigung der Regierungspolitik in der „Petite République", durch die Abstimmungen in der Kammer für jede denkbare Tagesordnung und jeden Gesetzentwurf: für eine Brandmarkung der sozialistischen Prinzipien, für die Unterdrückung einer parlamentarischen Kolonialenquete, für die Amnestierung der Generalstäbler in der Dreyfus-Affäre, für das Budget, für Einschränkungen des Koalitionsrechts durch das sogenannte Assoziationsgesetz, kurz, für alles und jedes, sobald es dem Ministerium einfiel, eine Kabinettsfrage zu stellen, durch diese Preisgabe der selbständigen Politik und der Opposition haben die Sozialisten die Regierung von jeder Rücksichtnahme auf sie befreit. Sie haben durch ihr Verhalten bewiesen, dass sie um jeden Preis und unter allen Umständen an dem Ministerium festhalten. Somit konnte die Regierung getrost einen Schritt weiter gehen und auch den Schein von Konzessionen an ihre sozialistischen und linksradikalen Anhänger fallen lassen. Die gegenwärtige parlamentarische Session zeigt uns die Politik des Ministeriums in dem neuen Stadium: jene Zwieschlächtigkeit, die das Signum der verflossenen Session war, hat auf allen Gebieten einer ganz unzweideutigen Einheitlichkeit Platz gemacht.

Auf dem Gebiet des Kampfes mit den Auswüchsen des Militarismus folgt auf die früheren Versprechungen, dem hohen Militär Zügel anzulegen, eine Reihe von Maßnahmen, die umgekehrt den Zweck haben, allen Gegnern des stehenden Heeres und Befürwortern des Milizwesens einen Maulkorb anzulegen. Der sozialistische Bürgermeister von Bourges, Vaillandet, wird wegen einer Rede an die Rekruten, in der er sie an die Gebote der Menschlichkeit und der Nächstenliebe erinnerte und vor dem Feuern auf Vater und Mutter warnte, seines Amtes entsetzt. Der Gymnasiallehrer Hervé wird wegen seiner Mitarbeit an einem antimilitaristischen Blatte gemaßregelt. Der Pariser Professor Lapicque wird infolge seiner Sympathiekundgebung zugunsten des gemaßregelten Kollegen suspendiert. Gegen die Blätter: „Pioupiou de l'Yonne", „Drapeau Rouge", „Droit du Peuple", „Flambeau" wird wegen milizfreundlicher und sozialistischer Agitation gerichtliche Verfolgung eingeleitet. Gleichzeitig aber dürfen Hochschullehrer, wie in Lyon und Toulouse, dürfen Pfaffen in amtlicher Stellung, wie der Erzbischof von Reims, offen und ungestraft eine antirepublikanische Hetzagitation führen, dürfen in öffentlichen Schulen, wie im Lyzeum zu Allais, Gebete für das Scheitern von Regierungsvorlagen veranstaltet werden.

Auf dem Gebiet der auswärtigen Politik bezeichnen den jetzigen Geist der radikal-sozialistischen Regierung die Chinaexpedition unter völliger Umgehung der Volksvertretung, die türkische Expedition, in der die französische Kriegsflotte unter dem Vorwand von Quaistreitigkeiten am Bosporus, in Wirklichkeit zur Eintreibung von Schuldforderungen zweier Bankhäuser, Lorando und Tubini, an die Pforte, verwendet wurde, endlich der Zarenempfang, der an „republikanischer" Bauchrutscherei vor dem Absolutismus in der ganzen neueren Geschichte Europas ohne Beispiel dasteht.

Auf dem Gebiet der Sozialreform brachte die gegenwärtige Session außer einer geringen Verkürzung der Arbeitszeit für die Bergarbeiter, die nun dem Senat zur voraussichtlichen Einsargung überantwortet worden ist, noch eine andere bezeichnende Kundgebung der Regierung. Es war dies die schroffe Ablehnung des von der Kammer am 14. November zum dritten Male seit 1880 votierten Antrags der gesetzlichen Einführung des zehnstündigen Arbeitstags für Eisenbahnarbeiter und -angestellte. Auf die mannigfachen sozialreformerischen Dekrete des Handelsministers erfolgte im letzten Halbjahr eine Reihe Bewilligungen von Unternehmergesuchen zur Verlängerung der Arbeitszeit über die gesetzliche Schranke hinaus.* Und was der Millerandschen „Sozialreform" die Krone aufgesetzt hat, das ist die Ablehnung durch alle gerichtlichen Instanzen der wiederholten Klagen der Fabrikinspektoren über Wiedereinführung des Vierschichtenwechsels für erwachsene Arbeiter, womit auch das berühmte Gesetz über den Zehnstundentag in seiner Hauptbestimmung als eine leere Hülse erwiesen wurde.

Aber zum Zentralpunkt der gegenwärtigen Parlament und zum entscheidenden Moment für die Situation nach allen Seiten hin wurde das Verhalten der Regierung bei der Votierung der China-Anleihe.

Die Hauptaufgabe der „republikanischen Verteidigung" des Kabinetts WaIdeck-Rousseau war ja bekanntlich der Kampf gegen den Klerikalismus. Die ganze Dreyfus-Kampagne, die ganze Krise seit drei Jahren drehte sich um die „Infame" und ihre infamen Diener und Bundesgenossen. In der vorigen Periode sollte diesem Kampfe das famose Assoziationsgesetz dienen, das neben ganz imaginären Schwertstreichen gegen den Klerus sehr handgreifliche gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter führte. Auf diese zwieschlächtige Taktik erfolgte nunmehr eine ganz unzweideutige und mit keinem Scheingeschenk an die Demokratie verbrämte Liebesgabe an die Kirche in Gestalt von zirka 50 Millionen Francs zur „Entschädigung" der katholischen Missionen in China für Verluste im letzten Kriege, und zugleich eine noch eklatantere Huldigung in einer Kammerrede des Ministerpräsidenten am 18. November. Der „Figaro" schrieb aus diesem Anlass am 20. November: „Herr Waldeck-Rousseau hat gestern eine Rede gehalten, die wir an den Mauern aller Gemeinden Frankreichs angeschlagen sehen möchten. Das konservative Frankreich richtet sich nunmehr zu neuem Hoffen auf. Die Revolutionäre, die Vaterlandslosen, die Agenten der nationalen Spaltung und des sozialen Zusammenbruchs, haben einem Widersacher begegnet, wo sie einen Mitschuldigen zu finden hofften."

Und das „Echo de Paris":

Herr Waldeck-Rousseau hat die historische Rolle des Katholizismus konstatiert, die Rechte auf Dankbarkeit gegenüber den Missionen anerkannt, die dem kommerziellen und industriellen Vordringen vorangehen, er hat behauptet, dass die wahren Traditionen Frankreichs durch seine auswärtige Autorität und durch seine koloniale oder Schutzexpansion aufrechterhalten wären, dass man, wenn man am Ruder der Landesinteressen steht, sich nicht durch kleine Zwistigkeiten hypnotisieren lassen und vergessen könne, dass in dem Weltgleichgewicht die französische Republik ihre edle Rolle zu spielen habe.

Das alles war so einleuchtend, dass ein plötzlicher Ruf erscholl: „Aber da ist ja der reinste Nationalismus!…"

Endlich der „Erzfeind" Meline in seiner „République": „Die durch H. Ribot so trefflich dargelegte Doktrin, betreffend den Schutz der Katholiken im Orient hat nichts an Kraft verloren, indem sie durch den Mund des Herrn Waldeck-Rousseau passierte. Der Ministerpräsident hat sogar die großen Dienstleistungen der katholischen Missionare in China kräftiger unterstrichen und wärmer ihre Verdienste gefeiert. Er hat verschmäht, auf den leichten Vorwurf zu antworten, der auf aller Lippen war: Wenn die Missionare für unser Land so nützlich waren, warum haben Sie ihnen so schlecht gedankt und die Kongregationen gemaßregelt, denen sie angehören?

Wir überlassen es den Freunden des Ministerpräsidenten, diese Widersprüche, die sie gestern zu verblüffen schienen, hervorzuheben; unsere Sache ist es nicht, uns zu wundern. Wir haben unsere Verwunderung ausgedrückt, als Herr Waldeck-Rousseau, den vulgären Instinkten seiner Majorität gehorchend, ihr die tonsurierten Köpfe und die Nonnenhabite auslieferte. Heute finden wir seine Stellung natürlich, entsprechend der großen französischen Tradition, entsprechend seiner Vergangenheit, würdig seiner mit einem Worte. Wir begrüßen seine Rückkehr oder seinen Übergang zur großen republikanischen Familie, aus der er sich zu Abenteuern entfernte, die vielleicht seinen tiefen Skeptizismus amüsierten, die ihn aber schließlich selbst anzuekeln beginnen."

Die schroffe Wendung des Ministeriums zum offenen Nationalismus in der Frage der China-Anleihe schuf sowohl für die Rechte wie für die Linke des Parlaments eine eigentümliche Lage. Das Kabinett Waldeck-Millerand trat ja von Anfang an als ein Schreckbild für die Nationalisten und Melinisten auf und wurde als solches von seinen Anhängern auf Schritt und Tritt verteidigt und „gerettet". Die ganze parlamentarische Taktik der Rechten war in der vergangenen Session darauf gerichtet, das Kabinett durch allerlei unverhoffte Manöver zu stürzen. Nunmehr sahen sich die „Erzfeinde der Republik" genötigt, dem radikal-sozialistischen Kabinett mit ihren eigenen Stimmen ein Vertrauensvotum zu geben. Der wichtigste Moment im letzten Halbjahr – die Votierung der China-Anleihe – hat die Nationalisten in das Lager der Regierung geführt.

Es war damit durchaus keine neue Tatsache geschaffen. Die Politik des Kabinetts Waldeck-Millerand war von Anfang an in ihrem Wesen der Politik eines melinistischen Kabinetts gleich und bereitete dadurch der Gruppe Meline eine regelrechte politische Schmutzkonkurrenz. In der verflossenen Parlamentssession jedoch erlaubten es die Scheinmanöver der Regierung gegen die Armee und den Klerus den Melinisten, ihren Brotneid hinter eine „prinzipielle" Gegnerschaft allgemeiner Natur zu verstecken. Gegenwärtig sind sie entwaffnet und gezwungen, offen zu gestehen: was sie mit der Regierung zusammenführt, sind gerade Prinzipien der Politik; was sie trennt, ist lediglich Portefeuilleneid.

Der Verzicht auf alle antinationalistischen Manöver seitens der Regierung hat deshalb im Lager der Reaktion eine begreifliche Verwirrung angerichtet. Sollten die Reaktionäre nun die „radikal-sozialistische Regierung" unterstützen oder sie nach wie vor bekämpfen? Sollten sie die Prinzipien oder die Portefeuilles voranstellen? Der über diese taktische Frage auf der Rechten entbrannte Streit war ein treues Spiegelbild der Kämpfe innerhalb des sozialistischen Lagers. Wenn hier Jaurès, seiner Rolle treu, zur blinden Unterstützung der Regierung auch bei der China-Anleihe entgegen den sozialistischen Prinzipien mahnte, auch wenn dies für seine Genossen „nicht ohne Pein" sein sollte, so übernahm diese Rolle auf der Rechten der monarchistische „Gaulois". Ganz im Stile Jaurès' rief er am 28. November die Truppen der Reaktion zum mutigen Kampfe gegen die Regierung, trotz schmerzlichster Aufopferung der Prinzipien:

Mögen sie entschlossen gegen das Ministerium marschieren, und wenn der Erfolg ihre Mühe krönt, werden sie sich erhobenen Hauptes und ruhigen Herzens vor ihre Wähler stellen können. Und sollten sie etwa beschuldigt werden, sich mit den Prinzipien einige Freiheit genommen zu haben, so wird jeder von ihnen antworten können wie General Humbert: Ich schwöre, dass ich an jenem Tage das Vaterland gerettet habe!"

Damit war offiziell konstatiert, dass, sofern die Nationalisten gegen die „radikal-sozialistische" Regierung Stellung nehmen, dies von nun an entgegen ihren Prinzipien und nur als parlamentarisches Manöver geschieht.

Auf der anderen Seite vereinfachte sich ebenso die Situation für den sozialistischen Flügel der Regierungsmajorität. In der früheren Phase bestand ihre Rolle darin, die Scheinreformen der Regierung als wirkliche auszugeben, ihre Politik zu verteidigen. Seit diese aber den Schein selbst abgelegt hat, seit die Politik des Ministeriums durch die Reaktionäre unterstützt wird, bleibt den regierungstreuen Sozialisten nunmehr bloß übrig, die Existenz des Kabinetts trotz seiner Politik zu verteidigen.

Auf diese Weise hat sich im Parlament eine ganz merkwürdige Situation, die der „zwei Majoritäten", herausgebildet, wie Marcel Sembat es von der Parlamentstribüne konstatierte. Die eine, in der die Sozialisten des Jaurèsschen Flügels den Ausschlag geben und die jedes Mal erscheint, um das Kabinett zu retten, und die andere, gebildet durch Reaktionäre, die in den wichtigsten Prägen auf dem Platze erscheint, um die Politik des Kabinetts zu retten. Die Situation formulierte in klassischer Weise die Melinesche „République", indem sie am 30. November schrieb:

Herr Waldeck-Rousseau hat keine wirklich eigene Majorität, ausgenommen rein politische Fragen, wenn die oberste Frage gestellt wird: ob das Ministerium gestürzt werden soll. Es gibt kein einziges unter seinen Prinzipien, verstehen Sie wohl: kein einziges, über das er mit seiner Majorität übereinstimmt. Diese ist in der Tat aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzt, dass man dort entgegengesetzte Meinungen über alle wesentlichen Fragen findet. Die Sozialisten halten das Schicksal der Regierung in ihren Händen. Nun, Herr Waldeck-Rousseau stimmt mit ihnen weder in religiösen, noch in patriotischen, noch in sozialen, noch in ökonomischen Prinzipien überein. So dass, wenn es sich um eine Prinzipienfrage handelt, er an seine Gegner appellieren muss. Er hat Freunde oder richtiger Mitschuldige, um seine eigenen Geschäfte zu besorgen, und er braucht seine Feinde, um die Geschäfte des Landes zu besorgen."

Auch dies ist eigentlich keine neue Tatsache. Bereits in der früheren Periode bestand das Wesen der Jaurèsistischen Politik nur in der systematischen Unterstützung der Existenz des Kabinetts. Seit der Abstimmung für die Amnestievorlage in der Dreyfusaffäre und bis zu der Annahme des Assoziationsgesetzes zeigten die ministeriellen Sozialisten, indem sie ihre eigenen Überzeugungen der jedesmaligen Kabinettsfrage unterordneten, dass im Grunde genommen ihre ganze Politik nichts als die Erhaltung des gegenwärtigen Ministeriums zum Zwecke hatte. Heute aber ist diese Tatsache völlig unverhüllt zum Vorschein gekommen. Die scheinbare Rolle der sozialistischen Mitwirkung an einem demokratischen Reformwerk wurde nach dem Fortfall des demokratischen Scheines der Regierungspolitik auch ihrerseits auf den wahren Kern – auf die Rolle des ministeriellen Stimmviehs reduziert.

So hat sich die Situation in Frankreich im letzten Halbjahr in ihrer logischen Weiterentwicklung nach jeder Richtung geklärt und vereinfacht, zugleich aber durch die letzte Verschiebung unmerklich zum direkten Gegensatz ihres Ausgangspunktes vor drei Jahren entwickelt.

Der Ausgangspunkt der Periode Waldeck-Millerand war ja das große demokratische und soziale Reformprogramm! Die Verteidigung und Sanierung der Republik erklärte die Bildung des radikalen Kabinetts. Sie legitimierte den Eintritt eines Sozialisten in die Regierung, sie begründete die Politik der republikanischen Sammlung in der Kammer, sie rechtfertigte alle prinzipiellen Opfer der Sozialisten. Dieses Werk erwies sich bereits in der zweiten Periode der ministeriellen Episode als eine Phrase. Gleichwohl führte es wenigstens in dieser Gestalt ein formelles Dasein. Mit der gegenwärtigen Ablegung der Phrase verdampfte auch der letzte Rest des Programms der „republikanischen Verteidigung", und die Regierung zeigte sich mit einem Male ohne jedes Programm!

Eine Kundgebung dieser Tatsache war die vielbesprochene große Wahlrede des Ministerpräsidenten Waldeck-Rousseau in St. Etienne am 12. Januar. Neben einer mit unparteiischer Selbstglorifikation zur Schau gestellten Revue aller bereits vollbrachten Großtaten der Regierung erwähnte sie auch nicht mit einer Silbe die bevorstehenden Aufgaben, die beabsichtigten künftigen Taten. Weder eine Reform der Armee, noch die Trennung der Kirche vom Staate, noch soziale Reformen, noch sonstige „Verteidigung der Republik" wurden nunmehr in Aussicht gestellt. Dieses Stillschweigen des Ministerpräsidenten in Bezug auf die Zukunft hat in Frankreich allgemeine Bestürzung hervorgerufen. Naivere Bürgerlich-Radikale, wie Lacroix im „Radical", forderten wenigstens ein anderes Mitglied der Regierung zur Aufstellung eines Regierungsprogramms auf, Sie verstanden nicht, dass das Stillschweigen des Kabinettchefs nur ein adäquater Ausdruck der einfachen Tatsache war, dass das radikale Ministerium überhaupt kein politisches Programm mehr besitzt, außer dem allerdings ganz aufrichtigen Wunsche, sich gleichviel mit welcher Majorität und gleichviel welchem Programm am Ruder zu erhalten. Die Programmphrase hatte ja in der früheren Periode auch lediglich dazu gedient, die Unterstützung der sozialistisch-radikalen Linken zu erkaufen. Nachdem diese Unterstützung bereits ohne jede Gegenleistung gratis gesichert war, konnte Mohr, der seine Arbeit getan hatte, gehen. Die Phrase wurde fortgelassen und das Portefeuille sans phrase blieb als einziger Niederschlag der „republikanischen Verteidigung" übrig.

Die programmlose Programmrede des Ministerpräsidenten von St. Etienne war die offizielle Konstatierung der Tatsache, dass die Ära der Krise in Frankreich abgeschlossen ist. Alle außergewöhnlichen Kostüme, Gesten und Redensarten werden abgelegt, die gewöhnlichen traditionellen Umgangsformen wieder aufgenommen. Zur Gewinnung der Wählermassen aus dem Proletariat und dem Kleinbürgertum schleudert der Ministerpräsident in seiner Rede Zornesblitze auf die Häupter der angeblich gegen ihn im Stillen konspirierenden Nationalisten – derselben Nationalisten, die nur unter Aufbietung der höchsten Selbstverleugnung und mit Aufopferung der eigenen Prinzipien gegen ihn zu opponieren vermögen. Gegen katholische Orden wird einiges Rumoren inszeniert – gegen dieselben Orden, deren Filialen in China man soeben eine offizielle Glorifikation in der Kammer und zirka 50 Millionen aus der Tasche der Steuerzahler hat zugute kommen lassen. Und der Handelsminister macht wieder Geschäftsreisen im Lande, um die Arbeiterschaft – zwei Monate vor den Wahlen! – daran zu erinnern, dass er die sozialistische Partei immer noch „die seine" nennt.

Dies sind aber keine außerordentlichen Erscheinungen mehr, sondern die übliche Szenerie des Wahltheaters in der dritten Republik, in deren Arrangement die zahllosen bisherigen Ministerien aller Schattierungen bereits eine feste Routine herausgebildet haben.

Was ist nun im Laufe dieser Evolution aus der „neuen Methode" des ministeriellen Sozialismus geworden? Wir haben gesehen, ihre Entwicklung war von Anfang an nur ein passiver Reflex der Bewegungen des radikalen Ministeriums.

In der ersten Phase der Ära Millerand, während der achtzehnmonatigen Vorbereitungen des Ministeriums zur welterschütternden Tat der republikanischen Verteidigung, fiel es der „neuen Methode" als Aufgabe zu, die Erwartungen und Hoffnungen auf die Regierungspolitik wachzurufen, aufrecht zu erhalten und aufs höchste zu spannen. Es war dies die Periode der „Verheißungen" sowohl auf Seiten der Regierung wie ihres sozialistischen Anhanges.

Dann erfolgte die zweite Phase – die der „Erfüllung": das Amnestiegesetz, das Assoziationsgesetz, die Millerandschen Sozialreformen. Das unerschütterliche Festhalten an der Regierung ergab hier für die „neue Methode" die Notwendigkeit, den Schwindel der „republikanischen Verteidigung" für echtes Reformwerk auszugeben, ihren reaktionären Kern abzuleugnen, ihren fortschrittlichen Schein aufzubauschen.

Heute wirft aber die Regierung offen und in aller Form den Schein mitsamt dem ganzen Programm der „republikanischen Verteidigung" in den Winkel. Was bleibt angesichts dessen der „neuen Methode" übrig? In der Reihe der Selbstverleugnungen auf dem Altar des Ministerialismus noch den letzten Schritt zu tun und auch für die Programmlosigkeit der Regierung eine Rechtfertigung und Legitimierung zu finden. Das Kunststück scheint zwar etwas schwierig, nachdem man drei Jahre lang das „republikanische Programm" zur Zentralachse Frankreichs, der Erde und der Himmelssphären gemacht. Aber die „neue Methode" hat im harten Dienste des Ministerialismus manches Schwierige, „wenn auch nicht ohne Pein", zu vollführen gelernt. Und so erklärt Jaurès, dass ein Regierungsprogramm jetzt ganz überflüssig, ja gar nicht möglich sei! Denn erstens ist es ja bereits ausgeführt! „Wenn man die Dinge im ganzen betrachtet, so ist das Ministerium dem Aktionsprogramm, auf Grund dessen es gebildet wurde, treu geblieben, und es hat im weiten Umfang das Werk ausgeführt, für das es geschaffen war" („Petite République" vom 15. Januar). Allerdings hat das Ministerium die Hauptaufgabe der „republikanischen Verteidigung", den ersten Artikel des radikalen Programms, die Trennung der Kirche vom Staate, nicht einmal angeschnitten; freilich hat es die wilde Ehe mit dem russischen Zarismus nicht gelöst, sondern erst recht fortgesetzt, gewiss hat es auf dem Gebiet der Handelspolitik, der Koalitionsfreiheit, der Geistesfreiheit den Traditionen Melines nirgends Abbruch getan. Aber hatte denn das Kabinett Waldeck-Millerand wirklich irgendetwas Derartiges versprochen? Jaurès kann sich, auf Ehrenwort, dessen nicht eines Lautes erinnern, er findet es deshalb sogar „ein wenig unehrlich, dem Kabinett als Verbrechen vorzuwerfen, dass es sein Programm … nicht überschritten habe" („Petite République" vom 15. Januar).

Zweitens aber ist ein Regierungsprogramm jetzt gar nicht möglich. Wie wollen Sie, dass ein Ministerium vor den Parlamentswahlen ein Programm aufstellt und somit riskiert, irgend jemand zu verschnupfen, irgend jemand nicht recht zu tun, während es sich vor allem darum handelt, dass es wieder eine Majorität zusammenbringt, und mag diese aus Mynheer Beelzebubs eigenen Scharen bestehen. „Erst nach den Wahlen vermag ein Staatsmann von freiem und weitem Blicke den Schwerpunkt des öffentlichen Geistes festzustellen, um wirklich ein wirksames, gemeinsames Aktionsprogramm für die ganze Legislaturperiode zu bestimmen." (Jaurès in der „Petite République" vom 16. Januar.)

So kam die „neue Methode", wie sie im Parlament ihre Vertreter zum einfachen Stimmvieh degradierte, auch in ihrer „Theorie" auf die Rolle eines simplen Stiefelknechtes der Regierung herunter. Im Anfang, als Waldeck-Millerand die vorbereitende Reklametrommel brauchten, tat sie es nicht unter einer „neuen Ära", einer „geschichtlichen Weltwende", einer „historischen Epoche", und erschütterte tagtäglich die Luft mit dergleichen gewaltigen Dingen. Nachher, als Waldeck-Millerand in die Periode des aktiven Schwindels eintraten, gebrauchte sie emsig poetische, philosophische, naturhistorische Farbenpracht, stahl ihre Bilder vom Monde, von Sternen, Blumen, Tau und Waldesrauschen, um das erbärmliche Stümperwerk einer plumpen bürgerlich-parlamentarischen Komödie zu einem „historischen Sonnenaufgang" herauszuputzen. Sie war glücklich, wenn man ihr nur erlaubte, sich zu der trivialen, grauen Alltäglichkeit „weite Horizonte" hinzu zu denken und hinzu zu schwatzen.

Nun aber braucht die Regierung keine „Horizonte" mehr, sie hat die „Horizonte" gründlich satt, sie hat andere Sorgen im Kopfe, sie geht einfach ihren Wahlgeschäften nach. Die „neue Methode" erklärt darauf mit „philosophischer" Demut: Ist mir auch recht! Bei näherem Zusehen brauchen wir eigentlich gar keine „Horizonte", ja, es kann überhaupt jetzt, vor den Wahlen, keine Horizonte geben. Nach den Wahlen – wenn wir erst wieder zu Hause sind – wird sich schon alles finden. …

Die „neue Methode" hat indes in ihrer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit nicht bemerkt, dass sie mit dieser letzten Evolution im Dienste des Ministerialismus eigentlich ihre politischen Dienste und ihre politische Evolution erschöpft hat. Sie hat heute keine Aufgaben mehr. Es gibt keine Erwartungen mehr (es ist ja, „wenn man die Dinge im Ganzen betrachtet", alles schon erfüllt!), keine Versprechungen mehr (wer wird vor den Wahlen etwas Bestimmtes versprechen!), keine Zweideutigkeiten zum Ableugnen mehr (die Regierungspolitik ist verteufelt eindeutig geworden!). Die „neue Methode" hat ihr ganzes Register heruntergespielt. Sie wiederholt zwar immer noch von Zeit zu Zeit die großen Worte aus den schönen Zeiten der Dreyfusaffäre: „Toute la bataille!" (Der ganze Kampf!) Sie stammelt immer noch etwas von einem Vorschreiten „vers un Programme toujours plus hardi" (zu einem immer kühneren Programm), von einem „renouveau democratique" (demokratischen Frühling). Aber diese Melodien Jaurès wirken bereits wie die guten alten Arien aus den Verdischen Opern, die einst im sonnigen Italien auf der Lippe jedes schwarzäugigen lustigen Schusterjungen wie das Signal eines Volksfrühlings tirilierten, jetzt aber nur aus dem toten Mechanismus der Drehorgel mit grässlicher Monotonie hervor kreischen: Tempi passati!

Und der Leiermann selbst schaut mit gelangweiltem und zerstreutem Gesicht drein; man sieht, es ist nur die geübte Hand, die die gewohnte Kurbel dreht, der Geist ist nicht dabei.

II.

Der Abschluss der Episode Millerand macht sich auch im eigenen Lager Jaurès' geltend. Die Krise, die es zusammenführte und zusammenhielt, ist vorbei, und die erst vor einem Jahre formell geeinigte Partei zerfällt rapid in Zersetzung.

Das Problem der Einigkeit, das in Frankreich infolge geschichtlicher Umstände eine besonders scharfe Form angenommen hat, ist für den Sozialismus in jedem Lande in gewissen Zeitpunkten eine Lebensfrage. Nicht nur ist der Ausgangspunkt der sozialistischen Arbeiterbewegung stets und naturgemäß eine Vielheit von Gruppen und Richtungen. Auch in ihrer Weiterentwicklung ist die bereits einmal geeinigte sozialdemokratische Partei jedes Landes Differenzierungen in ihrem Schoße, also neuen dezentralisierenden Tendenzen unterworfen. Die sozialistische Einigkeit ist somit nicht ein einmaliges vorübergehendes Problem in der Arbeiterbewegung, sondern vielmehr ein ständiges Problem, dessen jeweilige Lösung im richtigen Verhältnis zur prinzipiellen und taktischen Selbsterhaltung der Arbeiterpartei ebenso immer von neuem geprüft werden muss, wie das andere mit ihm eng verwandte Problem: des richtigen Gleichgewichtes zwischen praktischer Arbeit und den Endzielen des Sozialismus.

Im Allgemeinen besagt schon der einfache gesunde Menschenverstand, dass eine organische Einigkeit der sozialistischen Streitkräfte nur auf dem Boden einer gemeinsamen Auffassung von den Aufgaben und Mitteln des Kampfes möglich ist. Allein die Orakelsprüche des „gesunden Menschenverstandes" bieten im Grunde genommen hier wie in den meisten Fällen nur einfache empirische Beobachtungen, nicht aber Erklärungen der fraglichen Erscheinung. Wenn es nur auf die Gemeinsamkeit der Auffassung vom sozialistischen Kampfe ankäme, dann könnte in Frankreich lediglich die Spaltung der sozialistischen Organisationen wie der Kammergruppe in eine ministerielle und eine antiministerielle Fraktion erklärlich erscheinen.

Indes die weiteren Schicksale der beiden Fraktionen, die jede auf dem gemeinsamen Boden einer, hier auf die Teilnahme an der bürgerlichen Zentralregierung, dort auf den grundsätzlich oppositionellen Klassenkampf zugeschnittenen Auffassung gruppiert waren, zeigen uns eine frappante Verschiedenheit.

Während die „alten Organisationen", trotzdem sie eine jahrzehntelange Gewohnheit der Absonderung, zum Teile sogar Feindseligkeiten in der Vergangenheit voneinander trennten, ohne viel Lärm, aber mit sicherem Schritte zur Verwirklichung der völligen Einigkeit untereinander gelangen, geht die aus losen, zum größten Teile unorganisiert gewesenen, deshalb sehr leicht zusammengefassten Elementen gebildete Partei von Jaurès, kaum dass sie im letzten Sommer zusammengezimmert wurde, schon wieder aus dem Leime. Während früher stets die alten „Sektierer" mit ihren „persönlichen Eifersüchteleien" und ihrem „Sektengeist" als die eigentlichen Störenfriede der Einigkeit galten, sehen wir jetzt die verblüffende Tatsache, dass die „Sektierer" untereinander eine große, kompakte Partei, die „Unité Socialiste Révolutionnaire", gebildet haben, während die Apostel der Einigkeit vom Jaurèsistischen Flügel, nachdem sie endlich von den Quertreibereien der Sektierer befreit und abgeschieden worden sind, erst recht nach allen Richtungen zerstieben. Die Anträge gegen Millerand im Comité Général der Partei Jaurès', die von Cipriani und anderen eingebracht wurden, das Plebiszit in der Millerand-Frage, der Austritt der drei Allemanisten, also der Vertreter der letzten von den alten Parteien aus dem Komitee, die Zurückziehung der Vertreter einiger autonomer Föderationen von diesem Komitee, die neuliche Kundgebung Vivianis in der „République Sociale", de Pressenses im „Mouvement Socialiste", Jean Longuets in der „Neuen Zeit" – das alles sind ebenso viele Marksteine des unaufhaltsamen Zerfalls der Jaurèsistischen Partei.**

Der Kongress in Tours endlich zeigte uns die „große Partei" auf ein trauriges Häuflein von Ministerialisten um jeden Preis zusammengeschmolzen. Diesmal sind die Spaltungen nicht eine Folge des Kongresses gewesen, sondern sie sind ihm vorausgegangen. Die Föderationen, die junge Gruppe des „Mouvement Socialiste", alle die vor kurzem noch den alten Parteien ihr Zurücktreten von den ersten „Einigungskongressen" nicht verzeihen konnten, sind nun selbst denselben Weg gegangen und haben den Beratungen der Jaurèsisten in Tours den Rücken gedreht.

Am bezeichnendsten jedoch ist das Verhalten der parlamentarischen Vertretung dieses Flügels. Denn wenn die in Lyon geeinigte Partei von vornherein eine ziemlich bunte Gesellschaft umfasste, von der man schwerlich eine Einigkeit in der Aktion erwarten konnte, so stellt dafür die parlamentarische Fraktion der Jaurèsisten die reinste Auslese von Anhängern des Ministerialismus dar, sozusagen die klassische Vertretung des Sozialismus, der aus opportunistischen Rücksichten zu jedem Opfer seiner Prinzipien jederzeit bereit ist.

Und nun bietet uns gerade das parlamentarische Verhalten dieser in sich einigen Gruppe ein ganz merkwürdiges Gegenspiel zu dem Verhalten der Fraktion Vaillant-Zévaès. Während diese Vertretung der „alten Organisationen" seit ihrer Absonderung im Mai 1901 in allem wie ein Mann handelt, zerstiebt die jaurèsistische Parlamentsfraktion buchstäblich bei jeder einzelnen Abstimmung nach drei Richtungen – lediglich nach drei, weil es, wie L. Dubreuilh einmal witzig bemerkte, keine vierte gibt.***

Zur Erklärung dieses Verhaltens kann man nicht etwa die Disziplinlosigkeit der jaurèsistischen Kammerfraktion heranziehen. Im Gegenteil, sie hat gleich in den Anfängen der rettenden Staatsaktion des Kabinetts Waldeck-Millerand, gleich in der Amnestiefrage, wo es die zweijährige Dreyfuskampagne preiszugeben und somit das erste schwere Opfer auf dem Altar des Ministerialismus zu bringen galt, gezeigt, dass sie es nach der Mahnung Jaurès' wohl versteht, in vierundzwanzig Stunden Kehrtum zu machen und aufs Wort zu parieren.

Wenn dieselbe Kammergruppe heute mit fast mechanischer Regelmäßigkeit bei jeder Frage auseinanderfällt, so lässt sich dieses Phänomen eben nur dadurch erklären, dass, entgegen den Trivialitäten des „gesunden Menschenverstandes", die Gemeinsamkeit der allgemeinen Auffassung vom sozialistischen Kampfe noch lange nicht genügt, um die Einheitlichkeit der Aktion zu ergeben, dass es vielmehr noch auf die besondere Beschaffenheit dieser Grundauffassung ankommt.

Die Sache ist bei näherem Zusehen einfach. Eine Einheitlichkeit der sozialistischen Aktion ist nur dann möglich, wenn die ihr zugrunde liegende sozialistische Auffassung eine leicht abzuleitende einheitliche Handhabe für die Beurteilung jedes einzelnen praktischen Problems ergibt. Eine solche Handhabe bietet aber nur der prinzipielle Standpunkt, der Standpunkt einer grundsätzlichen Opposition zum bestehenden Klassenstaat.

Das eigentliche Wesen der „Prinzipien" liegt doch in nichts anderem, als gerade in der einheitlichen Beleuchtung aller Einzelerscheinungen unter einem gegebenen Gesichtspunkt.

Hingegen lässt sich aus der Grundauffassung des sozialistischen Opportunismus keine Handhabe zur Beurteilung jedes konkreten Falles ableiten. Besteht doch diese Auffassung gerade in der Abstreifung aller vorgefassten verallgemeinernden Gesichtspunkte, in der Beurteilung jedes Einzelfalls nicht aus dem aprioristischen (von vornherein geltenden) Prinzip, sondern lediglich aus seiner jedesmaligen konkreten Sachlage und nur unter dem ganz vagen und vieldeutigen Gesichtspunkt der „Nützlichkeit" für die sozialistische Bewegung. Darüber jedoch, was in jedem Einzelfall „nützlich", kann es offenbar jeweilig sehr viele Meinungen geben. Wenn zum Beispiel die Stellungnahme zu einer Militärvorlage in Frankreich für jeden auf prinzipiellem Boden stehenden Sozialisten von vornherein eine Selbstverständlichkeit ist, stellt sie für einen von den Fesseln des „Dogmas" freien „praktischen" Politiker ein sehr kompliziertes Problem dar, aus dem sich je nach der Lage des Ministeriums, je nach der Konstellation der Parteikräfte im Parlament, je nach den erwarteten unmittelbaren Folgen dieses oder jenes Ausfalls der Abstimmung, endlich je nach der verschiedenen Einschätzung aller dieser Momente durch den einzelnen, mit gleichem Rechte eine Ablehnung, eine Annahme oder eine unschlüssige Enthaltung ergibt. Der „praktische Politiker", der anfangs, solange es die Herrlichkeiten des „Sich-nicht-Festlegens", der „freien Hand" in der Theorie zu preisen gilt, mit Goethe zuversichtlich ausruft: „Ich hab mein Sach' auf nichts gestellt, drum ist's so wohl mir in der Welt!", muss, sobald er in den Wirrwarr der bunten Lebenserscheinungen ohne jeden Kompass hinab taucht, nur zu oft mit Faust aufseufzen: „Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor." Die französischen Sozialisten, die nach der siegreichen Überwindung jeder Dogmenstarrheit auf den Wellen des bürgerlichen Parlamentarismus lossteuern sollten, ohne jede andere Richtschnur als die, dass der „sozialistische Minister", ergo auch das ganze Ministerium unbedingt am Ruder erhalten werden musste, konnten unmöglich in ihrem Handeln die Einheitlichkeit bewahren.

Anscheinend hatte auch die „neue Methode" des Sozialismus durch ihren Wortführer Jaurès zu der Ausbildung einer umfassenden allgemeinen und einheitlichen sozialistischen Lehre geführt. Es gab in der Tat kein einziges Problem der Praxis und der Theorie, der Philosophie, der Ökonomie, der Politik, das Jaurès nicht seinerzeit in den Bereich seiner Betrachtungen in der „Petite République" einbezogen hätte; ja, mehr als sonst jemand verstand es gerade Jaurès, Dinge und Fragen in geistige Verwandtschaft zu einander zu bringen, deren Zusammenhang niemandem vorher eingefallen war. Allein die Einheitlichkeit in der Behandlung all dieser verschiedenen Probleme war nur eine äußerliche, sie war bei näherem Zusehen erzielt nur durch den regelmäßig und häufig wiederkehrenden Gebrauch derselben allgemeinen und umfassenden Ausdrücke, wie „das gesamte Proletariat", „die ganze Welt", „das hohe Meer des Sozialismus" usw. Es war dies mit einem Worte nur die Einheitlichkeit der Rhetorik; politisch klangen all die formvollendeten Ausführungen Jaurès stets nur in den Refrain aus: ceterum censeo, das Kabinett muss am Ruder bleiben! Also nicht eine Theorie, nicht ein Prinzip, sondern eine Opportunität.

Somit lag in den Bestrebungen Jaurès zur Verwirklichung der sozialistischen Einigkeit in Frankreich, wie in allen anderen Punkten seiner Taktik von vornherein ein innerer Widerspruch. Während er mit der ihm eigenen Expansivität und Exklusivität (Stoßkraft und Ausschließlichkeit) die Einigkeit als die oberste Aufgabe, als das conditio sine qua non (unerlässliche Bedingung), als die einzige Gewähr der weiteren Fortschritte des Sozialismus hinstellte, pfropfte er diese Einigkeit zugleich auf eine sozialistische Auffassung auf, die ihrem Wesen nach zur Uneinigkeit führen muss. Und dieser Widerspruch verwirklichte im vorhergehenden Stadium seine formelle Seite, indem er zur Spaltung zwischen Ministerialisten und revolutionären Sozialisten führte, er verwirklicht nunmehr seine materielle Seite, indem er auch innerhalb des Lagers der Ministerialisten die Einigkeit zur Utopie gemacht hat.

So haben wir auch hier einen abgeschlossenen Kreis in der Entwicklung der „neuen Methode", die in der Negation ihrer eigenen Ausgangspunkte mündet. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Jaurès sich durch den Verlauf der Krise bis auf das letzte seiner ehemaligen Lieblingsworte zu sich selbst in Widerspruch setzen musste. Das von dem enfant terrible Cipriani im Comité General angeregte Plebiszit (Urabstimmung) über die Millerands-Frage hatte eine ganze Reihe höchst unangenehmer Gutachten der eigenen Departement-Föderationen der Partei zur Folge gehabt. Die Verlesung dieser Dokumente im Generalkomitee und ihre Veröffentlichung im Protokoll seiner Sitzungen mussten offenbar einen sehr unerwünschten Eindruck im Lande und im Auslande machen. Und da trat der große Verteidiger Dreyfus', der glorreiche Entlarver des Generalstabs und seiner Fälschungs- und Vertuschungsmethode der unermüdliche Ritter der „toute la lumiere" (volles Licht) ml! ganzem Nachdruck für die – Nichtverlesung und Nichtveröffentlichung, vulgo Vertuschung und Unterschlagung der anti-jaurèsistischen Meinungsäußerungen ein. Und nun verstehen wir erst, was Jaurès meint, wenn er neulich in der „Petite République" (vom 30. Januar 1902) schreibt: „Ich glaube, dass keine Wahrheit ohne Schönheit auskommen kann und dass der antike Genius für unsere Nation und unsere Rasse eine Quelle von Schönheit ist. Die soziale Revolution wird edler, menschlicher, kultureller in einem Lande sein, dem nicht die Gewohnheit gewisser Wege und gewisser Gipfel abhanden gekommen ist… ."

Das Fiasko der Einigkeit in den Reihen der Jaurèsisten bedeutet noch in einer anderen Beziehung den Abschluss für die „neue Methode". Es gehört zum Wesen dieser Auffassung des Sozialismus, dass sie jeweilig den ganzen Kampf auf einen praktischen Punkt konzentriert, die öffentliche Meinung jeweilig durch irgendeinen naheliegenden Zielpunkt in Atem hält. Jaurès basierte anfänglich die gesamte sozialistische Tätigkeit auf die Dreyfus-Affäre. Als diese im Amnestiegesetz erstickt worden war, konzentrierte er alle Blicke und alle Kräfte auf die „Rettung der Republik". Sobald diese anfing, in seinen eigenen Reihen zu enttäuschen, betäubte er alle Zweifel, indem er die Blicke auf einen neuen Punkt richtete: auf die sozialistische Einigkeit. Der Verwirklichung der Einigkeit sollten vorläufig alle Bedenken, alle Kontroversen untergeordnet werden. Die sozialistische „Einigkeit" war aber auch die letzte Karte, auf die Jaurès alles gestellt hat. Heute, wo auch diese ausgespielt und – verspielt ist, während zugleich der letzte Schein der politischen Krise durch die Programmlosigkeit der Regierung abgestreift wird, hat die Politik Jaurès keinen einzigen Trumpf mehr in der Hand. Und für eine stets nur mit Augenblickstrümpfen spielende Methode bedeutet dies: das Ende vom Liede.

III.

Damit wären die Akten über den ministeriellen Sozialismus geschlossen. Von Niederlage zu Niederlage schreitend, hat er nach und nach das Fiasko der „republikanischen Verteidigung", der Sozialreform, der Sammlungspolitik und endlich der sozialistischen Einigkeit erlebt. Statt der versprochenen Stärkung der „politischen und wirtschaftlichen Macht" der Arbeiterklasse hat er nur politische Schwächung und Desorganisation herbeigeführt. Und auch die moralische Degradation obendrein.

In der panamistischen Republik, die an der politischen Korruption aller bürgerlichen Parteien förmlich zugrunde geht, war die sozialistische Arbeiterpartei mehr noch als in jedem anderen Lande zu einer besonderen Aufgabe der Sanierung des öffentlichen Lebens, der Reinigung der politischen Atmosphäre berufen. Sie war bereits auf dem besten Wege dazu gewesen. Gegenüber den Skandalen der letzten Jahrzehnte, die in ihrem Schlamme alle Parteien miteinander ertränkten, standen die französischen Sozialisten mit reinem Schilde da. Gegenüber den zersetzenden Wirkungen des parlamentarischen Regimes, an denen auch die letzte „demokratische Partei", die Radikalen, elend zugrunde gegangen waren, hatte die Guesde, Vaillant, Lafargue dem französischen Volke bewiesen, dass die Politik auch noch zu anderen Zwecken als dem der Nasführung der Massen dienen könne, dass der Parlamentarismus die Ehrlichkeit doch nicht unbedingt auszuschließen braucht. Die Sozialisten hatten zum ersten Male seit dem Bestand der Republik gezeigt, dass man sich am politischen Leben betätigen könne, ohne schon nach wenigen Jahren als völlig abgebrauchte politische Leichen die Luft zu verpesten. Seit dem ministerialistischen Experiment hat sich die Sachlage wesentlich verändert. Es wäre töricht, die ganze Millerand-Affäre als einen großen Bestechungsschwindel, als ein Produkt persönlichen Ehrgeizes und persönlicher Profitsucht zu betrachten. Wenigstens auf Seiten der sozialistischen Gefolgschaft Millerands waren zweifellos einfache Irrtümer in der Taktik, die landläufigen opportunistischen Illusionen der Ausgangspunkt auf der schiefen Ebene. Allein es lässt sich für jeden, der die Dinge aus der Nähe kennt, nicht mehr bezweifeln, dass die Ära Millerand einen üppigen Boden für allerlei politische und persönliche Korruption in den Reihen der Sozialisten geschaffen hat.

Wenn man deshalb heute die Äußerungen der bürgerlichen Presse – von der opportunistischen Reaktion bis zur äußersten Linken der Radikalen, von dem „Figaro" bis zum „BIoc" des H. Clemenceau – über die sozialistische Partei liest, so findet man Töne einer Verachtung, einer Herablassung darin, wie sie vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Hatte früher die bürgerliche politische Welt in Frankreich für die Sozialisten bei aller Wut und allem Hass doch einen erzwungenen Respekt, so hat dieser nach den Experimenten des Ministerialismus bei den Panamisten dem schadenfrohen Gefühl Platz gemacht: tout comme chez nous! (Ganz wie bei uns!) Wenn die seit der großen Revolution binnen einem Jahrhundert von allen Parteien und Führern nach der Reihe düpierte Volksmenge bereits von ihrer einseitigen Verachtung des Parlamentarismus zu genesen begann, so antwortet nunmehr in der Gewerkschaftspresse auf das Werk des „sozialistischen Ministers" und seiner Parteigänger im Parlament mit erneuter Kraft der alte, verhängnisvolle Ruf des französischen Arbeiters: „Mefiez-vous des politiciens! (Hütet euch vor den Politikern!)

Und als Ergebnis der noch nicht dreijährigen Episode hat nunmehr auch die sozialistische Partei ihre Kollektion von völlig abgenutzten Parlamentariern und Journalisten aufzuweisen, die bereits für und wider alles nach der Reihe plädiert, gestimmt und schrieben haben, alles versprochen, um nichts zu halten, jeden inneren Halt verloren und in ihrem politischen Schilde keine einzige heile Stelle mehr haben.

So kehrt das Schiff des dogmenfreien Sozialismus aus seiner ersten großen Probefahrt auf den Gewässern der praktischen Politik mit zerbrochenen Masten, zertrümmertem Steuer und Leichen an Bord in den Hafen zurück. Das politische Leben Frankreichs und auch die französische Arbeiterbewegung treten wieder in normale Bahnen ein. Ob das Ministerium Waldeck-Millerand am Ruder bleibt oder einem anderen Platz macht, – an die „Krise" glaubt nunmehr kein Mensch in Frankreich. Als bleibendes Produkt der Krise besteht aber die „Sozialistisch-revolutionäre Einigung", die eine Gewähr der weiteren normalen Entwicklung des Sozialismus bietet. In gleichem Maße wie die jaurèsistische Partei zerfällt, muss diese „Union" immer mehr zur Kristallisierungsachse für alle brauchbaren und lebensfähigen Elemente des Sozialismus werden. Freilich steht auch hier noch eine gewisse Übergangsperiode bevor. Die Flüchtlinge aus dem Lager des Ministerialismus dürften, bevor sie sich den alten „Sektierern" anschließen, noch einige organisatorische Experimente unternehmen. Auch die vorläufige Bildung einer „dritten Partei" aus Oppositionselementen der jaurèsistischen Partei ist in diesem Sinne nicht ausgeschlossen.

Aber es ist klar, dass dieser „dritten Partei", sollte sie zustande kommen, in der gegebenen Sachlage nur die Rolle beschieden sein könnte, eine Zeitlang zwischen zwei Stühlen zu sitzen, um sich schließlich der Sozialistisch-Revolutionären Union anzugliedern oder zur Bedeutungslosigkeit herabzusinken. Denn was der Bildung einer eventuellen sozialistischen Mittelpartei in Frankreich jetzt zugrunde liegen würde, sind nicht prinzipielle Differenzen, sondern höchstens einige Unklarheiten über die Taktik, einige aus dem Jaurèsschen Wortschatz geerbte Schlagworte von der „Einseitigkeit der Dogmenfanatiker" und einige Reminiszenzen und Antipathien aus der Zeit der heftigen Reibungen und Zusammenstöße der drei verflossenen Jahre.

Allein über kurz oder lang werden auch diese letzten Wellen der Krise sich nach und nach glätten, den Lauf des großen Flusses der sozialistischen Bewegung in Frankreich werden sie nicht mehr ändern.

Und die öffentliche Meinung in den anderen Ländern? Auch sie wendet sich merklich von den ausgedörrten Weiden des Ministerialismus ab.

Es sind zwar merkwürdig geringfügige Anlässe, die hier und dort die verspätete Einsicht herbeiführen. So entdeckt man zum Beispiel hier und dort, nachdem man die Niedermetzelung streikender Arbeiter, sozialistische Abstimmungen für die Brandmarkung des Sozialismus, das Fiasko der ganzen „republikanischen Verteidigung" ruhig eingesteckt hat, die Verwerflichkeit des sozialistischen Ministerialismus – in der verhältnismäßig harmlosen Operette des Zarenempfanges in Frankreich.

Seit Newton durch den Fall eines Apfels auf seine Weltentheorie gebracht wurde, scheint es Gesetz zu sein, dass sich Menschen nicht eher über die einfachsten Vorgänge klar werden, als bis ihnen faule Äpfel auf die Nase regnen.

Immerhin dürfte bald auch die Zeit da sein, wo über den Ministerialismus nur eine Stimme der Verurteilung herrschen und wo, mit der bekannten psychologischen Erscheinung, kein Mensch wird überhaupt je anderer Meinung hierüber gewesen sein wollen. Bevor jedoch die sozialistische Internationale über das große opportunistische Experiment Frankreichs endgültig zur Tagesordnung übergeht, wäre es für sie unbedingt notwendig, aus diesem Experiment zu lernen. Die dreijährige Periode des Millerandismus in Frankreich ist unseres Erachtens ein ebenso wichtiger Markstein in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung, wie es im anderen Sinne die zehn Wochen der Pariser Kommune von 1871 waren.

1 Das Ministerium Waldeck-Millerand stürzte am 28. Mai 1902.

* So zum Beispiel im Konditorgewerbe vor Weihnachten, trotzdem die Gewerkschaft der Konditoren dagegen unter Hinweis auf die große Reserve der Arbeitslosen heftig protestierte.

** Besonders interessant sind die Äußerungen Vivianis, eines der treuesten ehemaligen Parteigänger Millerands und Jaurès. „Man muss entschieden blind sein“, schreibt er, „um nicht zu sehen. Das Assoziationsgesetz, preisgegeben im Senat durch den Ministerpräsidenten … und am anderen Tage die Maßregelung der Lehrer, dann die Wiedererweckung der ,infamen Gesetze' (Anarchistengesetze), dann die Plattheiten vor dem Zaren im Augenblick, wo er eben in der Person Tolstois den Großmut und das Genie zugleich getroffen hatte, dann die Verteidigung auf der Tribüne der diebischen Missionare, gleichzeitig die Beschirmung der Finanzleute in Konstantinopel, dafür die Preisgabe der Armenier, um ihre Verteidigung Russland zu überlassen, das jetzt andere Interessen hat als 1896, die Preisgabe des Prestiges unserer Nation als der Beschützerin des Rechtes; dann der freche Brief des Ministerpräsidenten an die Bergarbeiter, dann sein Rückzug vor einer Drohung hinter dem Rücken der Arbeitskommission, gleichzeitig die Ernennung des Herrn Schneider von Creuzot durch den Handelsminister in eine große Kommission. Und die Elogen auf die Rolle der Kirche im Orient, die Verfolgungen der Presse, die Haussuchungen bei den Schriftstellern! Geheime Aktenstücke, die einem Universitätsrat mitgeteilt wurden (in der Affäre Hervé)! Man kann ja kein Ende finden! Und wir fragen: Hätte man ein anderes Kabinett unterstützt, das all diese Schmach binnen weniger als sieben Monaten auf sein Haupt gehäuft hätte? Was hat man nicht alles dem Kabinett Dupuy gesagt, als es ähnlich handelte!"

*** Hier nur einige Proben aufs Geratewohl aus den letzten paar Monaten der Parlamentssession:

1. Am 5. November Interpellation Sembat über die türkische Expedition und Aufforderung, die Regierung möge auf friedlichem Wege eine Verständigung der Großmächte zugunsten der Armenier herbeiführen:

Alle Abgeordneten der Unité Socialiste Révolutionnaire: für; Fraktion Jaurès: 6 Abgeordnete gegen, 20 für, 4 Enthaltungen.

2. Am 8. November Antrag Zévaès, die Kammer möge ein Gesetz zum Schutze der Eisenbahnarbeiter gleich nach der Diskussion über die individuelle Freiheit auf die Tagesordnung setzen:

Alle Abgeordneten der U. S- R.: für ;

Fraktion Jaurès: 16 für, 13 gegen, 1 Enthaltung.

3. In derselben Sitzung und der gleichen Frage Vertrauensvotum an die Regierung:

U. S. R.: Alle gegen;

Fraktion Jaurès: 22 für, 3 gegen, 4 Enthaltungen.

4. Am 12. November Art. I des Gesetzes über die Handelsmarine: U. S. R.: Alle gegen;

Fraktion Jaurès: 13 für, 6 gegen, 9 Enthaltungen.

5. In derselben Sitzung Antrag auf Abschaffung der Staatssubvention für Schiffe, die im Ausland erbaut sind:

U.S. R.: Alle für;

Fraktion Jaurès: 17 für, 10 gegen, 3 Enthaltungen.

6. Am 25. November China-Anleihe: U. S. R.: Alle gegen;

Fraktion Jaurès: 2 für, 25 gegen, 3 Enthaltungen.

7. Am 28. November Beglückwünschung der Chinatruppen: U. S. R.: Alle gegen;

Fraktion Jaurès: 8 für, 11 gegen, 11 Enthaltungen.

8. Am 2. Dezember Budget der Kolonialarmee: U. S. R.: Alle gegen;

Fraktion Jaurès: 4 für, 10 gegen, 16 Enthaltungen.

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