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Rosa Luxemburg 18991218 Die französische Einigung

Rosa Luxemburg: Die französische Einigung

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung", 18. 19. und 20. Dezember 1899. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 274-281]

I.

Die sozialistische Zersplitterung ist stets verhängnisvoll, die Einigkeit stets notwendig, – dieser stehende Satz der sozialdemokratischen Auffassung könnte das soeben vollbrachte Einigungswerk der französischen Genossen leicht als ein Zufallsereignis erscheinen lassen, das ebenso gut vor zehn oder fünfzehn Jahren sich hätte zutragen können oder müssen. Ein Blick auf die innere Lage der französischen Arbeiterbewegung und namentlich auf ihre Entwicklung muss dartun, dass auch in den Fragen der Einigkeit jedes Schablonisieren irreführt.

Als sich die französische Arbeiterbewegung nach dem furchtbaren Schlag, den ihr der Fall der Kommune versetzt hatte, Ende der 70er Jahre wieder aufzuraffen begann, stellte sie ein buntes Sammelsurium verschiedenartiger Elemente dar. Proudhonistische Genossenschaftler, Utopisten alter Schule (wie Malon, der Schöpfer des „integralen Sozialismus"), Anarchisten, beschränkte, von bürgerlichen Radikalen bevormundete Gewerkschaftler, Blanquisten, Kollektivisten, endlich zum reinen Radikalismus neigende ehemalige Kommunekämpfer – dieses bunte Gemisch aller Schulen und Programme, mit starker Vorherrschaft der genossenschaftlichen Selbsthilfe, war sozusagen der Urschleim, aus dem sich die späteren sozialistischen Organisationen herausbilden sollten. Der Prozess, durch den dies bewerkstelligt werden konnte, war naturgemäß der der Differenzierung und der stufenweisen Ausscheidung heterogener (widerstrebender) Elemente. 1879, auf dem Kongress zu Marseille, vollzieht sich in der Frage des sozialistischen Endziels die Scheidung zwischen Sozialisten und Genossenschaftlern.

Die Frage des Wahlprogramms zum Parlament führt die Spaltung zwischen Sozialisten und Anarchisten, andererseits zwischen Kollektivisten und Possibilisten herbei. Blanquisten, Possibilisten, Kollektivisten – sind die drei Hauptgruppen, die aus dem Differenzierungsprozess hervorgegangen waren, letztere, die guesdistische Arbeiterpartei, von Anfang an am meisten in Programm und Taktik der deutschen Sozialdemokratie verwandt.

Waren die Spaltungen im Interesse der Klärung und der Abgrenzung des Klassenstandpunktes der naturgemäße Ausgangspunkt der modernen französischen Arbeiterbewegung, so bildeten sie in dem darauffolgenden Stadium ein wesentliches Hindernis ihrer Entwicklung. Das wichtigste ist dabei, dass das französische Proletariat es in den 70er und 80er Jahren nicht nötig hatte, eine allgemeine politische Aktion zu unternehmen. Die grundlegenden politischen Freiheiten: das Stimmrecht, das Koalitionsrecht, die Pressfreiheit hatten die sozialistischen Parteien bereits vorgefunden. Die Repressalien der Regierung in den 80er Jahren beschränkten sich notgedrungen auf polizeiliche und gerichtliche Schikanen gegen einzelne Agitatoren und Organisationen, die auch im Einzelnen pariert werden konnten.

Der parlamentarische Kampf vermochte ebenso wenig das einigende Band herzustellen. Die ersten sozialistischen Abgeordneten in den 80er Jahren fanden in der Deputiertenkammer das damals auf dem Höhepunkt stehende Regiment des kleinbürgerlichen Radikalismus vor und konnten, wenig zahlreich, wie sie waren, keine namhafte Aktion entfalten.

Es tritt endlich noch als Drittes die Gleichgültigkeit des weniger zur Spekulation als zur greifbaren Aktion neigenden französischen Temperaments gegenüber theoretischen Streitfragen hinzu. In der Praxis wurden aber die Unterschiede zwischen den Parteien im Großen und Ganzen mit der Zeit immer unwesentlicher.

Die ehemaligen Genossenschaftler waren von den Blanquisten assimiliert und zum politischen Kampf erzogen worden. Die Blanquisten selbst passten sich den Verhältnissen der dritten Republik an und standen zuletzt ganz auf sozialdemokratischem Standpunkt, den sie manchmal sogar schroffer als die Guesdisten zum Ausdruck brachten.* Die theoretisch und in Organisationsfragen zum Anarchismus neigenden Allemanisten (eine aus der Possibilistengruppe hervorgegangene Richtung) nahmen tatsächlich an der parlamentarischen Aktion gleich anderen Parteien teil. In der Förderung der Gewerkschaften wetteiferten Guesdisten mit Allemanisten. Und hatten die Guesdisten – die stärkste und einflussreichste Partei – vor allen anderen die wissenschaftliche Marxsche Lehre voraus, so zeigten andererseits ihr Agrarprogramm und ihre Wahlkompromisse, dass auch sie, gleich den übrigen Parteien, in gegebenen Augenblicken Gegenwartserfolge über das abstrakte Prinzip zu stellen wussten.

Auf diese Weise ließ sich das Fehlen der sozialistischen Einigkeit bis in die 90er Jahre hinein in Frankreich viel weniger fühlen, als theoretisch und besonders vom Standpunkte der deutschen Verhältnisse aus gedacht werden mag. Wir sehen dementsprechend auch bis vor kurzem keine der alten Parteien einen ernsten auf die Einigung gerichteten Versuch machen. Während in Deutschland die Lassalleaner und die Eisenacher beständig in heftiger Fehde lagen, worin das Abnorme der Spaltung zutage trat, räumten in Frankreich die Einzelgruppen, unbeschadet der Reibungen, einander das volle Daseinsrecht ein. Die Erklärung Guesdes auf dem Einigungskongress, es bestehe unter den Einzelorganisationen eine Arbeitsteilung, die ihr Daseinsrecht begründe, ist ein deutlicher Ausdruck dieser Zustände. Die Zersplitterung hatte sich eine Art Legalität erworben. Und hier lag gerade zuletzt das Gefährliche der Situation.

Es war klar, dass das Einigungsproblem auf einem toten Punkte angelangt war. Wären nicht äußere Wirkungen hinzugetreten, die alten Parteiorganisationen hätten von innen heraus die Einigung in absehbarer Zeit nicht durchführen können. Ja, noch mehr! Der Waffenstillstand unter den Einzelorganisationen, von denen jede unbekümmert um andere ihren Aufgaben nachging, war in den jüngeren Stadien der französischen Arbeiterbewegung zweifellos ein großer Vorteil. Von einem bestimmten Zeitpunkt an hätte er nicht nur in der Einigungsfrage, sondern auch in der Agitation selbst zur Stagnation, zum Drehen im Kreise bestimmter Kampfformen führen müssen.

Aber die ruhige jahrzehntelange Entwicklung des Sozialismus im Schoße der Einzelorganisationen selbst hat, im Zusammenhang mit äußeren hinzugetretenen Momenten, auf einem gewissen Höhepunkt den Umschlag in neue Kampfformen notwendig gemacht, denen die Einzelorganisationen als solche nicht gewachsen waren.

Solange sich nämlich die sozialistische Arbeit in der prinzipiellen Propaganda im Lande und auf der Parlamentstribüne, im Ausbau der Gewerkschaften und im Munizipalsozialismus erschöpfte, konnten die Einzelorganisationen den Bedürfnissen der Bewegung genügen. Ihre Unzulänglichkeit sollte sich herausstellen, sobald das französische Proletariat vor bedeutsame Aufgaben des Klassenkampfes im genauen Sinne dieses Wortes, d. h. des von den Arbeitermassen in einer gemeinsamen Aktion zu führenden politischen Kampfes gestellt wurde. Und dies war der Fall in den 90er Jahren.

Hat der Besitz von wichtigsten politischen Rechten das Proletariat nicht zu einem allgemeinen Angriffsfeldzuge gegen die bürgerliche Republik sich zusammentun lassen, so hat dafür die bald eingetretene Zersetzung der herrschenden Bourgeoisie der Arteiterklasse die geschichtliche Sendung der Verteidigung der Republik gegen die Bourgeoisie zugewiesen. Der Panamaskandal, das Boulanger-Abenteuer, die Südbahnaffäre, die Dreyfus-Krise sind die Marksteine der bürgerlichen Zersetzung Frankreichs seit Ende der 80er bis Ende der 90er Jahre.

Es galt, die Republik, die Demokratie, den Gegenwartsstaat vor dem Untergang in die Barbarei zu retten, um ihn zum sozialistischen Gemeinwesen herauf bilden zu können. Die große geschichtliche Aufgabe, der große zusammenfassende Klassenkampf trat an das Proletariat heran, und die Zersplitterung der Sozialisten erwies sich zum ersten Mal als ein ernstes Hindernis der sozialistischen Entwicklung in Frankreich.

II.

Die chronische innere Krise, die die dritte Republik seit Ende der 80er Jahre durchmacht, hat den französischen Sozialismus vor eine neue wichtige Aufgabe gestellt: den Gegenwartsstaat vor einer verfrühten Zersetzung zu bewahren, ihn lebensfähig und entwicklungsfähig zu erhalten.1 Allein schon die erste, die boulangistische Krise, hat gezeigt, woran es den alten Parteiverhältnissen gebricht, um dieser Aufgabe gerecht zu werden: es war dies die Fähigkeit, das sozialistische Endziel mit der praktischen Tagespolitik organisch zu verbinden.

An diesem Block zersplitterte das sozialistische Lager in der Boulanger-Affäre. Die einen opferten das Endziel der Tagespolitik und folgten, wie Ernest Roche, Granger, Breullie, dem „revisionistischen" General in sein aus Klerikalen, Bonapartisten, Radikalen gemischtes Lager, oder unterstützten, wie Brousse, Allemane, Joffrin, das gegnerische Lager der Ferry, Constans und der opportunistischen Bourgeoisie. Die anderen, Guesdisten und Blanquisten, opferten, um den Klassenstandpunkt zu wahren, umgekehrt die Tagespolitik dem sozialistischen Endziel und gaben die Losung: „Weder Boulanger noch Constans, sondern soziale Republik!" aus, d. h. sie stellten dem politischen Zwist innerhalb der Bourgeoisie die politische Enthaltung der Arbeiterklasse entgegen. So hatte die erste große Krise der Republik noch nicht zur Zusammenfassung der sozialistischen Kräfte, sondern im Gegenteil zu noch größerer Zersplitterung, nicht zur selbständigen Politik des Proletariats, sondern zu seiner Unterordnung unter die bürgerlichen Parteien oder zur politischen Abstinenz geführt.

Die Verantwortlichkeit für die Führung der Opposition trug freilich eingangs der 90er Jahre noch nicht das Proletariat, sondern das radikale Kleinbürgertum. Der Radikalismus spielte sich noch auf als der berufene Retter der Demokratie, als der Vertreter des „Volkes" und seiner Interessen. Aber gerade die Boulanger-Krise hat dem Radikalismus das Leben gekostet. Das Kabinett Bourgeois, fünf Jahre später, war die letzte Probe seiner Lebensfähigkeit; mit dem Bankrott des Ministeriums im Frühling 1896 brach auch der Radikalismus zusammen. Die politische Rolle des Kleinbürgertums in Frankreich war ausgespielt, die Reihe kam an die Arbeiterklasse. In jeder revolutionären Regung der Vergangenheit treue Stütze des Kleinbürgertums, von der Februarrevolution bis zum Kabinett Bourgeois, sollte das Proletariat nun das Heft der Demokratie in die eigene Hand nehmen.

Die erste Feuerprobe ließ nicht auf sich warten: es war die Dreyfus-Affäre. Hier ließ sich aber nur die Unzulänglichkeit der sozialistischen Zersplitterung noch empfindlicher fühlen als zehn Jahre vorher. Nicht nur kann eine große einmütige und kräftige Aktion des Proletariats von mehreren losen Einzelorganisationen mit verschiedener Taktik und verschiedenem Einfluss unmöglich eingeleitet und geleitet werden. Diese Einzelparteien erweisen sich sogar direkt als feindlich großen politischen Massenbewegungen gegenüber.

Die Boulanger-Krise hat ihnen nämlich eine Lehre in deutlicher Weise beigebracht. Sie hat gezeigt, dass unter Umständen die Organisationen der Massen nicht Herr zu werden vermögen, dass ihnen die Massen vielmehr über den Kopf wachsen und sich von dem Sozialismus und der Organisation abwenden. Daraus ergab sich eine naturgemäße instinktive Abneigung der alten Parteien gegen jede spontane politische Massenbewegung, als den Feind, der die teuersten Errungenschaften: den Klassenstandpunkt, die Endziele und die Organisationen selbst im Strudel der Tageskämpfe wegzuspülen droht.

Daher logischerweise auch die Abneigung der drei führenden Gruppen gegen die aktive Beteiligung an der Dreyfus-Kampagne. „Ni l‘un, ni l'autre" – weder die einen noch die anderen! – mit dieser Losung aus der Boulanger-Krise wollten die alten Parteien auch diesmal die politische Abstinenz des Proletariats proklamieren.

Aber der Zusammenbruch des Radikalismus hat der Arbeiterklasse nicht nur große Aufgaben, sondern auch zahlreiche frische Kräfte überwiesen, die in der gegebenen Lage einzig geeignet waren, die Initiative der politischen Aktion des Proletariats zu ergreifen. Ausgestattet mit publizistischen, rednerischen, parlamentarischen Talenten, zugleich weder durch feste Lehrmeinungen noch durch Überlieferungen eigener Vergangenheit in der Bewegungsfreiheit gehemmt, waren die Unabhängigen Sozialisten (Jaurèsisten) von Hause aus zur Wahrnehmung der Aufgaben der Gegenwartspolitik befähigt. Freimütig eingreifend, stellten sie die praktische Losung: Gegen den Militarismus! auf und rissen die sozialistischen Massen mit. Auf diese Weise hat die Arbeiterklasse in der Dreyfus-Krise zum ersten Male eine selbständige aktive Rolle im politischen Tageskampfe gespielt.

Aber von einer in den gegebenen Verhältnissen entstandenen Massenbewegung waren ernste Gefahren unzertrennlich, unter der Führung der Unabhängigen Sozialisten konnte der Klassencharakter der Bewegung nicht genügend gewahrt bleiben. Die klare Scheidelinie zwischen dem nationalistenfeindlichen Proletariat und dem revisionistischen Lager der Bourgeoisie, zwischen dem Kampf gegen den Militarismus und dem Kampf zur Rettung und Erhaltung des Militarismus verschwand hie und da unter den Wellen der Tagespolitik. Der Fall Millerand endlich verwischte am stärksten die natürlichen Grenzen des Klassenkampfes.

Waren die alten Parteien ungeeignet, das sozialistische Endziel in die Scheidemünze praktischer Losungen der Gegenwartspolitik auszuwechseln, so vermochten die Unabhängigen nicht, in der Gegenwartspolitik das Gepräge des sozialistischen Endziels zu wahren. Wenn aber die Fehler der Unabhängigen ein schlagender Beweis waren, dass die Massenbewegung des Proletariats die Leitung seitens einer organisierten und prinzipiell geschulten Macht erfordert, so bewies andererseits die Haltung der alten Organisationen, dass keine von ihnen allein sich dieser Aufgabe gewachsen fühlt.

Die Dreyfus-Krise hat auf diese Weise den französischen Sozialismus vor die Alternative gestellt: entweder Verzicht auf die Massenbeteiligung an den großen Tageskämpfen des Gegenwartsstaates, d. h. auf den eigentlichen Klassenkampf, oder Verzicht auf die Zersplitterung. Für die Einzelorganisationen lautete diese Alternative noch: entweder immer mehr den Einfluss auf die Massen an die Unabhängigen und damit die sozialistischen Zügel der Bewegung aus der Hand verlieren, oder sich mit den Unabhängigen zu einer höheren Einheit zusammenfassen.

Das letztere ist durch den Kongress im Gymnasium Japy bewerkstelligt worden.2

Der heutige Zusammenschluss der Arbeiterparteien in Frankreich ist somit ein logisches Ergebnis der sozialen und politischen Entwicklung Frankreichs in dem letzten Jahrzehnt. Die Zersetzung der bürgerlichen Republik und der gleichzeitige Zusammenbruch des kleinbürgerlichen Radikalismus haben das Proletariat als einzigen Hüter der Republik und der Demokratie auf die politische Bühne gerufen. Es ist berufen, die großen nationalen Gegenwartsinteressen zu verfechten, sie aber dabei, im Interesse der sozialistischen Zukunft, in die Form des proletarischen Klassenkampfes zu gießen.

Diese zwiefache Aufgabe der Arbeiterklasse hat das Problem der sozialistischen Einigkeit zum ersten Mal praktisch aufgestellt. Die Einzelorganisationen waren in ihrer Zersplitterung zur Wahrnehmung großer nationaler Aufgaben ungeeignet, ohne sozialistische Organisation konnte aber den politischen Massenbewegungen des Proletariats der Charakter des Klassenkampfes nicht gewahrt werden. Aus diesem Widerspruch musste die sozialistische Einigung als Lösung hervorgehen.

In dieser geschichtlichen Begründung der gegenwärtigen Einigung liegen auch ihre Garantien für die Zukunft. Mag der Widerstreit der heterogenen Bestandteile innerhalb der jungen Gesamtpartei noch so heftig zutage treten, die sozialistische Einigkeit ist bereits zur geschichtlichen Notwendigkeit sowohl für die französische Republik, wie für das französische Proletariat geworden.

III.

Die natürliche Tendenz der sozialistischen Einigung in Frankreich muss die Einigkeit, die Verschmelzung aller Einzelgruppen in die Gesamtpartei sein. Nur wenn die gegenwärtige Einigung, dazu führt, erfüllt sie ihre wirkliche Aufgabe. Aber die Einigkeit muss sich aus ihr gleichfalls als natürliches Produkt ergeben. Eine plötzliche Auflösung der alten Parteiorganisationen würde heute das Einigungswerk zerstören und nicht beschleunigen. Die heterogenen Elemente müssen erst allmählich zur gemeinsamen grundsätzlichen Auffassung und zu gleicher Taktik erzogen werden.

Und dies kann nur der politische Kampf selbst im Laufe der Zeit vollbringen. Wie die praktischen Aufgaben die Einigung notwendig gemacht und herbeigeführt haben, so werden sie im Weiteren die mechanisch zusammengebundenen Teile auch organisch immer mehr zusammenschweißen. Die gemeinsame Auffassung wird aus der gemeinsamen Aktion als natürliches Ergebnis hervorgehen.

Damit diese Aktion ihrerseits möglich werde, war die Herstellung gewisser Bedingungen, wie Verständigung im Parlament, gemeinsame Exekutive, periodische Beratung aller Gruppen, Kontrolle über die Presse und über die parlamentarische Fraktion notwendig. Das war in den gegebenen Verhältnissen die einzige Aufgabe des Einigungskongresses, und diese hat er in vollkommener Weise gelöst. Die weitere Erstarkung und Entwicklung der gemeinsamen Organe auf Kosten der Sonderorganisationen ist Frage der politischen Verhältnisse in Frankreich.

Vom sozialdemokratischen Standpunkt ist das Werk des französischen Einigungskongresses ein epochemachendes Ereignis.

Vor allem ist die Zusammenfassung aller sozialistischen Gruppen zur gemeinsamen Aktion an sich ein spezifisch sozialdemokratischer Fortschritt. Wie das auf das gesamte internationale Proletariat berechnete Programm in seinem ganzen Umfang nicht von einer einzelnen nationalen Arbeiterklasse verwirklicht werden kann, so kann es noch viel weniger von einer einzelnen Gruppe innerhalb eines nationalen Proletariats ins Werk gesetzt werden.

Vom Standpunkte der anarchistischen oder der utopistischen Auffassung des Sozialismus, die in der Propaganda des Endziels das Hauptmittel zu seiner Verwirklichung erblickt, besteht zwischen einer Einzelgruppe und der Gesamtklasse des Proletariats nur ein quantitativer Unterschied. Der sozialdemokratische Kampf, der vor allem politischer Klassenkampf zur Demokratisierung des bürgerlichen Staates ist, kann als solcher nur von der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit geführt werden.

Umgekehrt ist der politische Klassenkampf in weitem Umfange, der in Frankreich nun durch die Einigung ermöglicht worden ist, die beste Schule, um die Arbeitermassen zur sozialdemokratischen Auffassung zu erziehen. Grundsätze der Sozialdemokratie lassen sich ebenso wenig aus Broschüren und Vorträgen allein erfassen, wie sich das Schwimmen im Studierzimmer erlernen lässt. Nur auf hoher See des politischen Lebens, nur im breiten Kampfe mit dem Gegenwartsstaate, in der Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit der lebendigen Wirklichkeit kann das Proletariat in sozialdemokratischer Richtung geschult werden. Und in diese Richtung wird es durch das Leben mit zwingender Kraft gewiesen.

Deshalb bangt uns angesichts der Zusammenkoppelung so verschiedenartiger Elemente, wie sie auf dem Kongress im Gymnasium Japy vertreten waren, für die sozialdemokratischen Grundsätze nicht im Geringsten. Mit welchen Vorurteilen und buntscheckigen Theorien die einzelnen Gruppen in die gemeinsame Aktion nun auch treten, der Kampf selbst wird sie über kurz oder lang zu einer homogenen sozialdemokratischen Partei zusammenschweißen. Die Geschichte verfährt auch hier materialistisch, indem sie die wissenschaftliche Auffassung des Sozialismus erst aus dem tatsächlichen Klassenkampfe des Proletariats als dessen geistigen Reflex entstehen lässt.

Endlich bildet die sozialistische Einigung in Frankreich ein wichtiges Kapitel in dem allgemeinen geschichtlichen Werdegang der Sozialdemokratie.

Den Springpunkt der sozialistischen Entwicklung von Anfang an bildet das Problem der organischen Vereinigung der praktischen Gegenwartsarbeit mit dem Zukunftsideal, der Bewegung mit dem sozialistischen Endziel. Durch die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und das Wachstum der Arbeiterklasse selbst ist das Verhältnis der beiden stets in Fluss und muss periodisch von neuem ins Gleichgewicht gebracht werden. Die fortlaufende Reihe der konkreten Lösungen dieses Problems bildet im eigentlichen Sinne die Entwicklung des Sozialismus, im Allgemeinen und der Sozialdemokratie im Besonderen.

Die endgültige Lösung des Verhältnisses zwischen Endziel und Bewegung, zwischen sozialistischer Zukunft und bürgerlicher Gegenwart wird nur dann erreicht, wenn das Endziel mit der Bewegung sich gänzlich deckt, d. h. wenn die sozialistische Zukunft zur Gegenwart wird. Dann haben aber auch der Klassenkampf und die sozialdemokratische Entwicklung ihr Ende erreicht.

In Deutschland haben wir soeben wieder durch eine heftige Auseinandersetzung für einige Zeit den Versuch abgewehrt, das Gleichgewicht zwischen Endziel und Bewegung auf Kosten des ersteren zu zerstören. In Frankreich ist durch die Zusammenfassung der extremen Elemente das Gleichgewicht erst auf der ganzen Linie hergestellt worden.

Die französische Einigung ist unter allen Gesichtspunkten sowohl ein neuer Schritt zum internationalen Zusammenschluss des Proletariats, wie zum Zusammenbruch des internationalen Kapitalismus.

*In der Zolldebatte zum Beispiel stellte die Gruppe Vaillant im Parlament den Antrag auf gänzliche Abschaffung der Zölle, während die Guesdisten die Verwendung der Zolleinnahmen zugunsten der Arbeiterklasse forderten.

1 Diese Formulierung der Aufgaben des Proletariats ist natürlich durchaus unrichtig. Sie widerspricht auch völlig der von R. L. in diesem Zusammenhang bekundeten Auffassung wie ihrer Gesamtauffassung. Aufgabe kann nur sein, die akute Zersetzung des bürgerlichen Staates als Gelegenheit zu energischen Vorstößen des Proletariats auszunutzen.

2 Diese Einigung war aber nur von kurzer Dauer.

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