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Rosa Luxemburg 18981029 Die Krise in Frankreich

Rosa Luxemburg: Die Krise in Frankreich

[Erschienen in der „Sächsischen Arbeiterzeitung" vom 29. Oktober 1898. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 265-269]

Der Fall des Kabinetts Brisson und namentlich die Tagesordnung der Kammer, über die er stolperte, haben krass und unzweideutig gezeigt, um was sich das öffentliche Leben des gegenwärtigen Frankreichs dreht: es ist der Kampf der bürgerlichen Gewalt, d. h. der Republik, mit der Militärgewalt. Diese Erscheinung – der Kampf zwischen einer bürgerlichen Republik und ihrer eigenen Armee, die enorme Rolle, welche die Militärgewalt in der letzten Zeit in Frankreich spielt, müssen eigentlich auf den ersten Blick überraschen. Falsch wäre es, die jetzige Kampagne der obersten Spitzen des Heeres gegen die Republik direkt für eine monarchistische Verschwörung zu halten. Der Monarchismus sucht selbstverständlich die Krise für sich auszunutzen, er kann auch sehr leicht bei einer ersten günstigen Wendung der Dinge auf dem Platze erscheinen und unter Umständen auch den Sieg davontragen. Nicht der Monarchismus spielt jedoch die Hauptrolle bei der gegenwärtigen Krise, es ist die Armee, die Militärgewalt selbst, die den verzweifelten Kampf mit der Republik führt. Es handelt sich um das eigene Dasein, um die eigenen Interessen der obersten Militärgewalt, der Monarchismus erscheint nur als ihr natürlicher Alliierter im Kampfe gegen die republikanische Zivilgewalt. Die Armee spielt jetzt eine selbständige Rolle in Frankreich, und dies hat eine weitgehende geschichtliche wir möchten sagen symptomatische Bedeutung.

Nicht zum ersten Mal in der Geschichte beobachtet man diese Erscheinung, dass die Militärgewalt dieses zur Verteidigung, zum Dienste des gesellschaftlichen Gesamtorganismus geschaffene Organ, ein selbständiges Dasein zu führen beginnt, sich gegen die eigene Gesellschaft wendet und auf ihre Kosten sein Leben fristet. Dieses Schauspiel bietet uns das alte Rom in den letzten Jahrhunderten, wo das Prätorianerheer sich zum Herrscher des Staates aufwarf, Kaiser auf den Thron setzte und stürzte, das Land wie ein feindliches verheerte und plünderte. Dasselbe Bild sehen wir im alten Polen bereits im XVII. Jahrhundert, wo das Heer ärger als die Türken im Lande wirtschaftete, auswärtige Politik auf eigene Faust trieb, zum Schrecken der Zivilgewalt und der ganzen Gesellschaft wurde. Und jedes Mal ist diese Erscheinung ein sicheres, unfehlbares Zeichen – der Zersetzung der gegebenen Gesellschaft. Jeder gesellschaftliche Körper funktioniert normal nur so lange, als seine verschiedenen Organe ihre Funktionen regelmäßig verrichten und sich namentlich dem Ganzen unterordnen. Geht aber die Gesellschaft ihrem Verfall entgegen, so äußert sich dies vor allem darin, dass die einzelnen Organe und in erster Reihe das Organ der äußeren Verteidigung, die Armee, zu einer eigenen Macht ausartet und, statt der Gesellschaft zu dienen, sich gegen sie richtet und ihre Zersetzung beschleunigt. Diese Verselbständigung der Interessen der Armee bedeutet aber, da sie als solche keine besonderen, in der materiellen Gliederung der Gesellschaft begründeten Interessen tatsächlich hat, nichts anderes als die Korruption, das Cliquenwesen, das Auswuchern niedrigster Privatinteressen im Heere.

Diese Erscheinung sehen wir auch in dem gegenwärtigen Frankreich. Die Dreyfus-Affäre hat nur deshalb eine so enorme Bedeutung gewonnen, weil sie wie ein Abszess die politische und moralische Eiterung, welche in der französischen Armee Platz gegriffen hat, nach außen zum Ausdruck brachte. Und wenn gerade in Frankreich die Korruption der Armee so weit vorgeschritten ist wie in keinem anderen der kapitalistischen Länder, so ist das u. a. ein Ergebnis der republikanischen Staatsform Frankreichs, welche einerseits die Trennung der Zivilgewalt von der Militärgewalt am reinsten vollzieht, und andererseits als die adäquate politische Form der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auch die Zersetzung dieser Gesellschaft beschleunigt. Der frech ihr Haupt erhebenden Militärgewalt steht nun das heutige bürgerliche Frankreich völlig machtlos gegenüber. Der agrarische Teil, ebenso wie die hohe Finanz, von vornherein und seit jeher monarchistisch gesinnt, sehen in der Auflehnung des Militarismus direkt Vorschubdienste für ihre republikfeindlichen Pläne. Die große Masse der Bourgeoisie aber, die Partei der Geldsackrepublikaner, ist selbst durch tausend Fäden – durch Familienbande, durch die Gemeinsamkeit der Korruption, vor allem aber durch die Furcht vor dem Proletariat – dermaßen an die Armee gebunden, dass sie keinen Schlag gegen die drohende Gefahr der Militärdiktatur führen kann, ohne sich selbst Wunden zu schlagen.

Diese Lage der Dinge ist es, die periodisch die kleinbürgerliche radikale Partei ans Ruder bringt. Selbst ein Zwitterding, ein Mittelgebilde zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, ist sie durch die Zersetzung der Bourgeoisie einerseits und die Machtlosigkeit des Proletariats andererseits dazu berufen, die bürgerliche Republik vor ihrem Untergang an der eigenen Haltlosigkeit zu retten. Die Gefahr des Panamakanals brachte das Kabinett Bourgeois, die Dreyfus-Affäre das Kabinett Brissot zur Macht. Aber gerade jener Zwittercharakter des kleinbürgerlichen Radikalismus, der ihm periodisch die Rolle des Retters der Republik zuweist, macht es ihm andererseits unmöglich, sich der Rolle gewachsen zu zeigen. Für die Bourgeoisie ist er mit seinem Programm der Sozialreform zu radikal, zu wenig bürgerlich, für ihn ist das Proletariat zu revolutionär. Kommt es deshalb zur Aktion, so verrät immer die Bourgeoisie die radikale Regierung und die Radikalen verraten das Proletariat. Eine feste Majorität im Parlament kann daher die radikale Partei nicht haben, sie hält sich nur dank zufälligen Majoritäten und parlamentarischen Kniffen über Wasser. Das innere Gefühl der eigenen Ohnmacht hat aber jene schwächliche, schwankende, feige Haltung der radikalen Regierungen zur Folge, mit der sie sich regelmäßig binnen kurzer Frist selbst zugrunde richten. Der heutige kleinbürgerliche Radikalismus ist noch ganz, was er vor einem halben Jahrhundert war, als ihn Marx in seinem „Achtzehnten Brumaire" fotografierte: er beginnt die Aktion mit einer lärmenden Ouvertüre, um bei der ersten Gelegenheit nach einem Vorwand zur eigenen Niederlage zu suchen und von der Bühne zu verschwinden. Das Kabinett Bourgeois klammerte sich an ein bedeutungs- und machtloses Misstrauensvotum des Senats, um dem Parlament den Rücken zu kehren und aus dem Felde auszureißen. Brisson, der den wichtigsten und gefährlichsten Posten – das Kriegsministerium – statt ihn selbst einzunehmen – einem General anvertraut hatte, stürzte durch den Verrat dieses Generals.

Der Radikalismus kann die bürgerliche Republik nicht retten, wie sie die opportunistische Bourgeoisie selbst nicht retten kann.

Dem Proletariat Frankreichs fällt in der gegebenen Lage, wie fast in allen kapitalistischen Ländern heutzutage, die Aufgabe zu, die bürgerlichen historischen Errungenschaften gegen die Bourgeoisie selbst in Schutz zu nehmen. Die bürgerliche Republik, die für das Proletariat nicht die elendesten Sozialreformen hat, die die kämpfenden Arbeiter mit Kugeln traktiert, die ihre gewerkschaftliche Organisation mit Wut verfolgt, die korrupte, verfaulte, bürgerliche Republik hat heute den einzigen treuen und zuverlässigen Hüter – nur im Proletariat. Die sozialistische Fraktion in der Kammer ist die einzige, die, wenigstens in ihrem besten Teil, trotz aller Verrätereien, aller Schwankungen und Missgriffe der radikalen Partei, ihr jedes Mal treu bis zum letzten Augenblick Gefolgschaft leistet. Aber die sozialistische Fraktion ist selbst zu schwach, um einer Regierung dauernd das Leben zu sichern, und andererseits ist sie auch in der gegebenen Stärke nicht geschlossen und einig genug, um einen gebührenden Einfluss auf die politische Lage des Landes ausüben zu können. – Frankreich ist in eine aussichtslose Sackgasse geraten; und weil die gegebene widerspruchsvolle Situation im Rahmen der bürgerlichen Republik nicht gelöst werden kann, so muss sie sich in periodischen Krisen und im kaleidoskopartigen Wechsel der Regierungen Luft machen. Die Republik hat jetzt einen Leichnam – die Dreyfus-Affäre – im Hause und da sie ihn nicht aus eigener Kraft fortschaffen kann, so droht ihr die Gefahr, an den Zersetzungsmiasmen dieses verfaulenden Körpers zu ersticken.

Das soziale und politische Leben Englands hat Eduard Bernstein die Überzeugung von der Unerschütterlichkeit, Festigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, von der langen Entwicklungsfrist, die ihr noch bevorsteht, beigebracht. Er hat aus den englischen Verhältnissen den Schluss gezogen, dass die bürgerliche Gesellschaft noch viel zu kräftig, innerlich gesund und entwicklungsfähig ist, als dass die Arbeiterklasse in absehbarer Zukunft ihre Grundfesten erschüttern könnte. Das heutige Frankreich bietet ein Bild, das zu gerade entgegengesetzten Schlüssen führt. In Frankreich ist die Herrschaft der Bourgeoisie bereits in einer solchen Zersetzung begriffen, dass sie schon jetzt die normale Existenz der Gesellschaft bedroht und das soziale Leben in eine schleichende Krise verwandelt. In Frankreich haben wir ein Land, wo die bürgerliche Gesellschaft nicht zu langsam, sondern zu rasch in Verfall kommt, wo nicht die politische Entwicklung des Proletariats dem sozialen Verfall der Bourgeoisie, sondern umgekehrt der Verfall der Bourgeoisie der Entwicklung des Proletariats vorauseilt. Wir sehen in Frankreich nicht eine politisch reife Arbeiterklasse, die angesichts der Stärke und Unerschütterlichkeit der bürgerlichen Ordnung imstande wäre, das Steuer des politischen Lebens in die Hand zu nehmen, sondern umgekehrt eine völlig zerrüttete Gesellschaft, deren Steuer auf eine kräftige und entschlossene Hand wartet, während die Arbeiterklasse nicht entfernt zahlreich organisiert und auch so selbständig ist, um sich der Lage zu bemächtigen. Das Schablonisieren in den Fragen der allgemeinen bürgerlichen Entwicklung erweist sich als grundfalsch. Wenn England durch die Festigkeit seiner bürgerlichen Einrichtungen imponieren kann, so muss Frankreich durch seine verfrühte bürgerliche Zersetzung Grauen erregen.

Es lässt sich aber aus der heutigen Lage in Frankreich noch eine andere Lehre ziehen. Gerade dieses verfallende Land, für das die bürgerliche Ordnung schon heute zur Existenzgefahr geworden ist, das schon jetzt in dem Circulus vitiosus (fehlerhafter Kreislauf) der Zersetzung wie ein steuerloses Schiff umherirrt, ist von den großen westeuropäischen Ländern dasjenige, wo die Großindustrie noch am wenigsten Fortschritte getan, wo das Kleingewerbe und der Mittelstand noch am stärksten sind. Würde man die sozialen Geschicke Frankreichs bloß nach seiner Gewerbestatistik entziffern, so müsste man zu dem Schlusse gelangen, dass Frankreich erst in den Anfängen seiner bürgerlichen Entwicklung steht, dass ihm noch eine kolossale Strecke gesunden, kräftigen Aufschwungs bevorsteht. Die Tatsachen schlagen aber diesem Schlusse ins Gesicht und beweisen, dass das Urteil über die großen Linien der Entwicklung einer Gesellschaft auf Grund von ein paar trockenen Ziffern toter Doktrinarismus ist, der nie das Ganze, das Mannigfaltige, das Komplizierte des gesellschaftlichen Lebens zu umfassen imstande ist. Gerade das heutige Frankreich beweist, dass auf das Tempo der bürgerlichen Entwicklung neben rein ökonomischen Faktoren auch politische, geschichtliche in so hervorragendem Maße mitwirken, dass sie jede ausgeklügelte Theorie über die Lebensfrist der kapitalistischen Ordnung über den Haufen werfen können.

Und endlich noch eine dritte Lehre. Es wäre lächerlich, zu behaupten, dass das Proletariat in Frankreich – wenn es dazu vorbereitet wäre – die heutige Lage, unbekümmert um die Situation in anderen Ländern, zur Abschaffung der bürgerlichen Ordnung benutzen könnte. Dass es aber in dieser Krise eine unvergleichlich bedeutendere Rolle spielen, für den Klassenkampf einen größeren Vorsprung hätte gewinnen können, als es jetzt der Fall ist, unterliegt keinem Zweifel. Und wenn etwas daran die Schuld trägt, dass die französische Arbeiterklasse durch ihre Zersplitterung, Uneinigkeit, Unentschlossenheit der Lage nicht ganz gewachsen ist, so ist es der Mangel an prinzipieller Klarheit, an sozialistischer Ausbildung, an theoretischer und taktischer Erkenntnis. In Frankreich, wie überall, müssen vor allem in uns selbst die Vorbedingungen zu einer erfolgreichen Wirkung auf die durch die ökonomische und politische Entwicklung gegebene Lage geschaffen werden, und hierher gehört in erster Linie: prinzipielle Klarheit.

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